Vom ersten Mal an, als ich sie miteinander bekannt machte – etwas, was ich aufgrund einer vagen vorwegnehmenden Eifersucht bislang vermieden hatte –, verstanden Thom und Tig sich wie Parle-G-Kekse und Chaiya. Es war größtenteils wunderbar mitanzusehen. Auch wenn sie auf dem Papier vollkommen unterschiedlich waren, dachten die beiden gleich, hörten ähnliche Podcasts und verwendeten das Wort Proletariat mit derselben Häufigkeit. Sie waren zwei lustige, unkomplizierte, strahlend anständige Menschen mit derselben Ortsvorwahl, aber ohne den Ballast, wer wem gegenüber in der Mittelschule gemein gewesen war. Wenige Tage vor meinem Flug nach Indien tranken wir zu dritt Bier im Y-Not II und unterhielten uns über Peter und Kim Kardashian und Marx und Tigs Rauswurf bei Lush.
Sie war beim Auffüllen der Badegelees zerstreut gewesen, beim Einseifen der Hände von Kund* innen vom Skript abgewichen und hatte sich aufsässig gezeigt, als man ihr während einer Fünf-Stunden-Schicht eine Toilettenpause verweigerte.
Ich meinte zu dieser blöden Kuh: Vergiss es, soll ich etwa ins Vorführ-Waschbecken pinkeln?, und bin einfach gegangen, erzählte Tig aufgebracht. Eine Minute später stand ich wieder auf der Matte, aber sie wollte nichts davon hören.
Ihre Lage war prekär, war es zuvor schon gewesen. Bislang hatte sie es noch geschafft, ihre Miete zu bezahlen, hatte sie lediglich spät überwiesen, wann immer sie eine Aufforderung bekam, zu zahlen oder auszuziehen. Ihr Vermieter versuchte schon seit einer Weile, sie und ihre Mitbewohnerin hinauszubekommen. Höchstwahrscheinlich um die Wohnung zu verkaufen oder sie zu renovieren und dann die Miete über die gesetzliche Grenze für Vertragsverlängerungen hinaus zu erhöhen. In Bay View sei ein Haufen neuer Gastropubs und Cocktailbars aufgetaucht, bemerkte Antigone zur Erklärung. Ich bin die Scheiße so leid. Ich wurde schon mal zwangsgeräumt. Das ist so beschissen. Sie trank in großen Schlucken den Rest ihres blassen, ockerfarbenen Gebräus und sagte: Ich will nicht noch eine in meiner Akte stehen haben. Sonst werde ich unmöglich jemals wieder eine Wohnung finden.
Wie ist das so?, fragte Thom und füllte ihren Bierkrug mit Rhinelander auf.
Tig schloss die Augen.
Du musst es ihm nicht erklären, sagte ich, mich zu ihrer Verteidigung sträubend. Googeln kostet nichts.
Sie schüttelte den Kopf. Wie sollen wir denn etwas über die Welt lernen, wenn nicht voneinander?, intonierte sie, die Augen weit öffnend.
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Aussage war so typisch Tig.
Also erzählte sie es uns. Das Rumpeln der Umzugswagen, die um sechs Uhr morgens an die Tür klopfende Faust, die Gerichtsvollzieher mit ihren flachsfarbenen Schnurrbärten und Abzeichen, die am Bordstein aufgereihten eigenen Sachen. Direkt bevor sie aus Milwaukee zu Disney gegangen war, war ihre Mutter inoffiziell zwangsgeräumt worden. Tigs Mama war damals mit der Miete spät dran gewesen. Ihre Schwester hatte den schweren Fehler begangen, wegen des Schimmels in der Küche, der bei ihr Asthma auslöste, ihren Vermieter anzurufen und dabei das Mietrecht zu erwähnen. Dem Vermieter hatte es gereicht. Er stellte ihnen einen Räumungsbescheid zu, ohne Gerichtsunterlagen, und hob dann einfach ihre Tür aus den Angeln.
Miete ist der Fluch meiner gesamten Existenz, sagte Tig.
Nun ja, im Grunde sind das die Vermieter, korrigierte Thom sie. Tig schenkte ihm ihr autoritärstes Lächeln und erwiderte: Das kannst du laut sagen!
Ich verspürte kein besonders großes Verlangen, mich an einer zweiten Runde dieses Gesprächs zu beteiligen. Also ging ich zur Toilette und schlenderte dann auf die Tür zu, hob pantomimisch mein Telefon ans Ohr und trat hinaus in die kalte Luft. Über mir im Schaufenster ragte der elektrische Stuhl des Y-Not II auf, obskur und riesig.
Ich schuldete Amit noch eine Antwort auf seine Textnachrichten.
Er hatte mir eine lange besorgte Tirade über KJ geschrieben. Sie gab während ihres Entzugs ein Vermögen für Motelzimmer aus. Vom Suboxone nahm sie zu. Passte nicht mehr in ihre alten Kleider. Sie hatte Amit eine Vierhundert-Dollar-Rechnung von Kohl’s geschickt, und er hatte die Kosten über Western Union erstattet. Später war ihm das Datum auf der Rechnung aufgefallen – August letzten Jahres. Er fragte KJ , weshalb sie ihn angelogen hatte. Sie bekam einen Angstanfall und flehte ihn an, sie weiter zu unterstützen.
Grundgütiger, schrieb ich. Wie viel Geld hast du ihr mittlerweile gegeben?
Ich beobachtete die Auslassungszeichen, die anzeigten, dass Amit tippte. Sie erschienen, dann verschwanden sie für mehrere lange Minuten. Meine Hände waren so kalt.
Ich ging wieder hinein, versicherte mich, dass die Barkeeperin gerade abgelenkt war, und setzte mich auf den elektrischen Stuhl.
Er fühlte sich an wie ein Thron. Holz und Leder. Befestigungen an den Armlehnen. Meine Handgelenke glitten reibungslos hinein und genauso leicht wieder heraus. Ich warf einen Blick auf mein Telefon. Amit hatte aufgehört zu tippen.
S
kleiner nachtrag: ich glaube, ich habe es mit Marina vermasselt
Amit
Oh. Tut mir leid, das zu hören. Hatte eigentlich das Gefühl, ihr würdet euch gut verstehen. Was war da los
S
ka ging alles so schnell. ich wollte noch keine beziehung, sie schon. lesben halt. sie ist ausgerastet. sie ist sehr emotional. weiß nicht, ob es mit uns langfristig überhaupt etwas geworden wär. was auch immer langfristig bedeutet hahah
Amit
Hmmm. Du kommst jetzt auch nicht gerade * nicht* emotional rüber, zumindest nicht für mich
Amit
Aber ich schätze mal, wenn ihr nicht kompatibel wart, dann wart ihr nicht kompatibel
S
glaube wir hatten einen komischen start. sind nicht besonders ehrlich gewesen.
Amit
Wie meinst du das?
S
sie hat mir nicht erzählt, dass ihre ex-freundin buchstäblich bis zu dem tag, bevor ich sie auf Thoms party kennenlernte, bei ihr in milwaukee war. Tig und ich haben die beiden im public market gesehen. und die freundin hat M geschlagen und Tig beleidigt. Ich war nicht dabei, das hat Tig erzählt, und ich hab erst später gemerkt, dass es Marina war. kommt mir alles ziemlich unschön vor. ich weiß nicht, ob ich in die ganze sache reingezogen werden will. und ehrlich gesagt ist es einfacher, mit frauen zu schlafen, als mit ihnen zusammen zu sein
Amit
Klingt furchtbar.
Amit
Wenn du mich fragst, ist es doch eigentlich noch kein Verbrechen, eine missbräuchliche Ex zu haben und sie zu verlassen, oder?
Amit
Vielleicht wollte sie es dir ja erzählen, hat sich aber geschämt und war besorgt, wie du es aufnehmen würdest
S
ich sollte ehrlich sein. es lag auch an mir. ich habs auf eine weise vermasselt, die ich nicht so richtig wieder gutmachen konnte
Amit
Magst du darüber reden? Ich kann dich anrufen.
S
ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich es laut aussprechen kann. außerdem bin ich gerade mit Tig und Thom im Y-Not II
Amit
Okay lol lass dich nicht aufhalten
S
kurz gesagt habe ich M glauben lassen, meine mutter und mein vater wären gestorben
Amit
Was, zum Teufel
S
es war ein missverständnis, und das missverständnis hat alles so viel einfacher gemacht. irgendwie hatte ich das gefühl, ich konnte ein paar wochen lang so tun, als wäre ich ein weißes mädchen
Amit
Die meisten weißen Leute haben auch Eltern lol
S
weiße leute können ihr eigenes leben leben. sie dürfen das gefühl haben, dass ihr leben ihnen allein gehört
S
ungefähr einen monat lang durfte ich mich auch so fühlen. und nicht so, als wären all meine entscheidungen an die menschen verpfändet, die mein leben ermöglicht haben
Amit
Hör zu, S, ich weiß, dass du das Gefühl hast, dich entscheiden zu müssen, ob du eine gute Tochter sein oder die wahre Liebe finden möchtest
S
das ist eine unnötig dramatische weise, es auszudrücken
Amit
Okay. Wie würdest du es ausdrücken?
S
Erinnerst du dich noch an Einführung in die Physik?
Amit
Kaum, aber ja
An die Einzelheiten der Theorie erinnerte ich mich selbst nur noch dunkel. Es ging um Quanteneinheiten in einer Schachtel. Manchmal waren es Wellen, manchmal Partikel. Tatsächlich waren sie beides, aber als Beobachterin konnte man sie nur als eine Sache zugleich wahrnehmen. Wurden sie beobachtet, kollabierten sie zu einem stabilen Zustand.
Eine Sache ist entweder grün oder blau. Das ist an den meisten Orten wahr. Eine junge Frau ist eine anständige Tochter, keusch und fromm, gebildet, aber nicht zu sehr, erfolgreich, aber nicht zu sehr, auf dem Weg, einen anständigen Mann zu heiraten, der dafür bezahlt wurde. Auf eine andere Weise betrachtet: Ein Mädchen immigriert an einen neuen Ort, hat aber zu viel Angst, um erwachsen zu werden, ist immer noch Mummys und Papas kleines Mädchen, übermäßig traditionell, alten Gewohnheiten verhaftet und entscheidet sich aus einer kindlichen Furcht für Gehorsam statt Glück.
Eine junge Frau, korrumpiert durch den neuen Ort, verwandelt sich in eine Perverse, ist nicht ganz richtig im Kopf, kriecht von Bett zu Bett und küsst den Hals einer anderen Frau wie eine Abweichlerin. Auf eine andere Weise betrachtet: Ein Mädchen kommt in das neue Land und findet dort Freiheit, findet sich selbst, lebt endlich in der Wahrheit ihres Verlangens und ihrer Ambitionen, lebt, als würde ihr Leben ihr selbst gehören, lebt wie eine Amerikanerin.
Dies waren die Rahmen, zwischen denen ich mich entscheiden konnte, die Wahlmöglichkeiten, die ich hatte. Grün oder Blau. Blau oder Grün. A oder B.
Manchmal fallen Grün und Blau zusammen. Verschwimmen. Verwischen bis zur Gleichheit. Wir wissen das. Man kann beide betrachten und denken: Sie sind dasselbe, ihre Unterschiede basieren lediglich darauf, wer sie betrachtet. Ich hatte mir eine Denkweise antrainiert, die mich unsicher zwischen diesen Quadranten schweben ließ. Hatte Brandmauern errichtet, die die beiden Hälften meines Lebens sorgfältig voneinander getrennt hielten: diejenige, die meinen Eltern und dem Ort gehörte, von dem ich abstammte, und diejenige, die mir allein gehörte, geformt von diesem dreisten, egoistischen Land. Ich tippte minutenlang eine Antwort an Amit, schickte sie jedoch nicht ab. Die vielen Biere ließen meine Gedanken kollabieren.
Babe, erklang Tigs Stimme, und ihre Hand legte sich auf meine Schulter. Das reizende Gesicht meiner Freundin. Die breiten Wangen, die honigfarbene Haut, vor Sorge in Falten gelegt. Sie hatte das Schaufenster betreten. Blickte auf mich herab.
Geht es dir gut?, fragte sie. Ich wollte gerade zustimmend antworten, als auf der anderen Straßenseite Marina auftauchte.
Sie war mit Shaka unterwegs. Die beiden waren so geschmeidig und schön. Marina in ihrer gelben Daunenjacke. Das helle Haar in zwei kleinen Knoten auf dem Kopf zusammengefasst. Sie kamen auf Shakas Auto zugelaufen, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Mein Herz prallte heftig gegen meinen Brustkorb. Als Marina die Beifahrertür öffnete, blickte sie direkt zu mir auf.
Ich stellte mir die Szene aus ihrer Sicht vor. Die junge Frau, die sie hatte sitzenlassen, saß in einem Schaufenster auf einem altmodischen elektrischen Stuhl. Als wäre ich eine Schaufensterpuppe für diese kitschige Spelunke. Meine Hand sprang von selbst an meine Brust. Presste dagegen.
Du kannst zu ihr gehen, weißt du?, bemerkte Tig trocken. Sie hatte die Szene mit einem Blick abgeschätzt.
Ich kann nicht, flüsterte ich. Ich habe alles kaputt gemacht.
Geh, wiederholte Tig. Sie ist die Frau, die du willst.
Marina blickte uns noch immer über das Autodach hinweg an.
Ich stand auf und lief wankend auf die Tür zu. Aber bis ich draußen war, war sie bereits eingestiegen. Davongesaust.
Tig legte einen Arm um mich und zog mich fest an sich.
Es ist nie zu spät, sagte sie mir ins Ohr. Das hat Rion zu meiner Mutter gesagt. Ich war ein Kind und habe an der Tür gelauscht. Ich habe es nie vergessen. Er sagte Folgendes: Solange zwei Menschen am Leben sind, um es zu versuchen, sagte er, ist es niemals zu spät, und es ist niemals das Ende.
Ich ließ meine Hand in ihre gleiten.
Weißt du, ich liebe dich, sagte ich.
Es war das erste Mal, dass ich das zu einem anderen Menschen gesagt hatte. Es war das, was ich fühlte. Ein schmerzhaftes Anschwellen von Zärtlichkeit und Wertschätzung und Dankbarkeit. Meine beste Freundin. Es gab keinen besseren Menschen.
Ich liebe dich auch, Babe, antwortete sie mit ihrem ungezwungenen Lächeln.
Als ich meine Karte abgab, um unsere Biere zu bezahlen, bekam ich eine Textnachricht mit einer Warnung vor einem niedrigen Kontostand. Das kam mir merkwürdig vor. Nach Thoms Spöttelei über das Investieren hatte ich Geld von meinem Girokonto auf ein Sparkonto mit hoher Rendite und einen Sparbrief mit einer Laufzeit von einem Jahr verschoben, aber dank meiner eingehenden Gehaltsschecks sollte ich noch immer reichlich Geld übrig haben. Ich loggte mich bei meiner Bank-App auf dem Telefon ein.
Auf diese Weise stellte ich fest, dass ich tatsächlich gar nicht bezahlt worden war. Weder im Januar noch in der ersten Februarwoche. Es war nachlässig von mir, so lange nicht nachgeschaut zu haben. Ich würde Peter danach fragen müssen.
Tig, sagte ich leise, während Thom mit der Barkeeperin plauderte, ich habe an dich gedacht. Ich werde für zwei Wochen in Indien sein. Wenn du meine Wohnung zum Übernachten brauchst, kannst du sie haben. Hier, hier ist ein Ersatzschlüssel.
Sie steckte ihn ein und fragte: Was ist mit deiner Freundin von unten?
Ich werde mich um sie kümmern, erwiderte ich, wenn das nötig ist.
Ich wünschte, die Dinge lägen anders, sagte Tig traurig, auf die pinkfarbene Leuchtschrift des Y-Not II blickend. Das Gespräch mit euch hat mich echt zum Nachdenken gebracht. Ich habe größere Träume, als von einem Ort zum anderen zu rennen und um mein Überleben zu kämpfen. Das tun Tiere. Verbringen ihr Leben damit, verzweifelt nach Nahrung und Unterschlupf zu suchen. Wir People of Color in dieser Stadt, wir sind einfach nur Tiere. Wir werden gejagt.
Ich weiß, sagte ich, auch wenn das nicht stimmte. Ich fügte hinzu: Es tut mir so leid.
Es muss einen besseren Weg geben, sagte Tig. Ich werde darüber nachdenken. Ich bin Philosophin. Das ist mein Job.