Zwischen Marina und mir gab es Streit. Ich hatte ihre Anrufe verpasst, hauptsächlich weil ich währenddessen geschlafen hatte. Manchmal fühlt es sich an, als wären wir nicht einmal zusammen!, kreischte sie.
Für eine so kleine Person konnte sie ziemlich laut schreien. Ich legte das Telefon mit der Vorderseite nach oben auf meinen Beistelltisch und aß eine Scheibe Brot mit Mayo. Ich konnte sie klar und deutlich hören. Als wäre sie auf Lautsprecher gestellt.
Sie würde in zwei Wochen nach Milwaukee zurückkehren. Endlich erzählte ich ihr, niedergeschlagen und um emotionale Nachsicht bittend, dass Peter mich nicht mehr bezahlte, wobei ich die Besuche bei St. Casimir und den Stand meines Bankkontos ausließ und mich wie ein Stein fühlte, über den ein Fluss hinwegströmt.
O mein Gott. Ist das dein Ernst? Baby. Was Peter mit dir macht, nennt sich Lohndiebstahl, und das ist nicht legal.
Irgendwann wird Peter mich bezahlen, sagte ich. Dachte an meinen Vater. Der sich entschieden hatte, sich gegen seine Chefs zu wehren, sich schlechte Behandlung nicht gefallen zu lassen. Der noch immer hier sein könnte, wenn er es nicht getan hätte. Das bedeutet es, als Immigrantin hierherzukommen: Man ist hier nur geduldet. Man ist eine Form von Währung, kein Mensch, und nur ein Mensch hat das Recht, etwas zu wollen, das heißt, schwierig zu sein.
Peter hatte darum gebeten, einen Blick auf meine Kapitelentwürfe für Changeology werfen zu dürfen, und ich hatte diese Anfrage sorgsam ignoriert. Ich markierte die E-Mail als ungelesen und brach zu Leon’s auf. Der Job war okay. Nicht genug, um davon zu leben, mit Sicherheit nicht von zwei Schichten in der Woche, aber da meine Miete bereits bezahlt war, bedeutete es zumindest ein wenig mehr Geld für Lebensmittel. Ich musste eine Uniform tragen. Mein Unterarm pulsierte vor Schmerzen, nachdem ich stundenlang Cremeeis portioniert hatte. Vor allen Dingen hatte ich panische Angst davor, Susan von dem Kunden könnte in Pelzmantel und mit Kind im Schlepptau den Laden betreten und mich dort sehen.
Amit und Tig telefonierten alle paar Tage miteinander, was die direkte Folge hatte, dass beide sich kaum noch dazu herabließen, mit mir zu sprechen. Ich lag im Bett, schaute mir auf Facebook das Leben anderer Menschen an und verspürte eine gewisse Ungläubigkeit, dass irgendjemand auf der Welt genügend Energie hatte, um sich zu verloben, einen Traumjob anzunehmen, quer durch das Land umzuziehen, zu reisen.
Tigs Freundin Jervai sagte, sie sei bei Rion/Projekt Rosarotes Haus dabei. Thom hatte sich Bedenkzeit erbeten. Als ich davon hörte, kitzelte mich ein Anflug selbstgefälliger Wut. So war das, wenn die eigene Politik als abstrakte Theorie begann, als Grundsätze in ihrer komprimiertesten Form. Man musste die wachsende Kluft zwischen den Prinzipien, über die man sich in düsteren Bars ereiferte, und dem, wie man tatsächlich lebte, überwinden.
Ich selbst dachte viel über Rion nach. Während ich im Bett lag, während ich Business-Geschwafel für Changeology verfasste, während ich mich zu St. Casimir schleppte, und manchmal, wenn ich mich nach dem Masturbieren in meine Laken zurücklegte und mein Gehirn sich glatt und sauber anfühlte, als wäre es in der Autowäsche gewesen. Tigs Worte nahmen in meinem Kopf Form an als Farben und Bilder. Ich träumte von dem Whirlpool voller Frauen. Der Außendusche. Wie es sich anfühlen mochte, Tomaten und Kürbis aus unserem Garten zu ernten, meinen Eltern nah zu sein, während sie alt wurden. Wie reizend auf eine ruhige Weise die Vorstellung war, nie wieder eine Mahlzeit allein zu mir nehmen zu müssen, sofern ich es nicht wollte.
So unrealistisch ich das Projekt nach wie vor auch fand, tauchte der Gedanke auf: Ich könnte ihnen zumindest helfen.
Ich duplizierte das Gantt-Diagramm, das Peter und ich für den Wechsel zu Microsoft Suite erstellt hatten, und benannte es um in RionProjectPlan.xls.
Begann ein Budget aufzustellen, zu analysieren, wie viele Leute sie brauchen würden und wie viel eine Anzahlung kosten würde.
Durch meine Vernachlässigung und Schmuddeligkeit war die Wohnung nahezu unbewohnbar geworden. Auf eine seltsame Weise fand ich Trost in dem, was ich um mich herum sah – die mich von der Spüle, dem Sofa und den Arbeitsflächen aus anstarrende Bestätigung dafür, dass ich tatsächlich schlampig, wertlos, zu nichts zu gebrauchen war. Allerdings blieben die Gerüche des Kühlschranks nun nicht länger in den Kühlschrank gesperrt, und ich musste jedes Mal die Luft anhalten, wenn ich daran vorbei zum Badezimmer lief. Ich besorgte mir eine Mülltüte, wickelte mir einen Schal um Mund und Nase und begann Dinge herauszuholen, um sie wegzuwerfen.
Nach fünf Minuten liefen mir Tränen aus den Augen, und in meinem Mund lag ein penetranter Geschmack von etwas, das aus dem Darm zu stammen schien. Ich brachte die Mülltüte hinaus zu den Tonnen, ging wieder hinein und legte mich hin, aller Energie beraubt.
Was hatte Tig gesagt? Ich denke, du bist vielleicht irgendwie depressiv .
Was du nicht sagst.
Was ich an jenem Abend zu erwähnen versäumt hatte, war, dass ich tatsächlich schon einmal bei einer Therapeutin gewesen war.
Eine Dozentin hatte mich dazu überredet. Ich hatte verschlafen und Seminare verpasst. Ich hatte alle Arbeiten abgegeben und gute Noten bekommen. Ich gehörte zu den schlaueren Leuten im Seminar. Dennoch, sagte sie, müsse sie mich womöglich durchfallen lassen. Die Teilnahme machte 40 Prozent meiner Gesamtnote aus. Damals hatte ich an meine Eltern gedacht, die ein Jahr zuvor aus diesem Land verbannt worden waren und in vielerlei Hinsicht aus der Ferne auf mich zählten, was mich so stark aufwühlte, dass ich aus dem Zimmer rannte und mich übergab.
Die Universitätstherapeutin, die ich danach aufsuchen musste, sah aus wie ein Bügelbrett mit Brille.
Gegen Ende der dritten Sitzung – stapelweise Fragebögen, verschwurbelte Erkundigungen nach meinen Eltern, Ergüsse über Einwanderung und Studium und Ambitionen für die Zukunft – präsentierte sie mir ihren Befund.
Hochfunktionale Depression und Angststörung, leicht zwanghafte Verhaltensmuster und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung schienen am wahrscheinlichsten, aber es könnte einer zusätzlichen Diagnostik bedürfen –
Ich lachte laut los.
Das Bügelbrett sah mich schief an.
Ich bin weder eine Kriegsveteranin noch eine Kinderbraut, sagte ich. Vielleicht sind amerikanische Studierende stolz darauf, so einen Katalog vorgelegt und damit eine Art Bestätigung zu bekommen. Ich bezweifle ernsthaft, dass ich eine – und an dieser Stelle malte ich mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft – »komplexe« »PTBS « habe.
Die Therapeutin schien wieder einen wackeligen Halt zu finden. Ein freundliches Lächeln durch zusammengebissene Zähne ins Gesicht getackert, ging sie meine »Symptome« durch, die wahrscheinlichen »Traumatrigger«, die hinter einigen davon steckten, und wie ich zu heilen beginnen könnte.
Es ist nicht ungewöhnlich, sagte sie ganz behutsam, dass eine Person mit diesem diagnostischen Profil sich schwertut, Vertrauen zu medizinischem Personal aufzubauen. Ich gebe Ihnen gern eine Empfehlung für eine andere Therapeutin, wenn Sie das möchten, aber ich bitte Sie dringend, eine Therapie in Erwägung zu ziehen. Es ist ein mutiger Akt, das eigene Leben ändern zu wollen. Denken Sie nicht, das würde Ihnen gefallen? Ein besseres Leben zu führen?
Ich biss mir auf die Innenseiten meiner Wangen. Fest, dann noch fester. Bislang war ich am College eine sogenannte studentische Führungskraft gewesen, verantwortlich für Budgets und Entscheidungen und Verwaltungskram. Ich war Forschungspraktikantin des Leiters des Fachbereichs Geschichte, hatte Archive durchforstet, um Kapitel seines Buches zu untermauern, mit dem er am Ende Preise gewann. Ich saß neben Professorinnen und Alumni in Ausschüssen und Komitees, wo ich auch Peter zum ersten Mal begegnet war und ihn beeindruckt hatte. Ich hatte gute Noten und ein, zwei Freund* innen.
Ich war kein gebrochener kleiner Vogel, was auch immer diese Frau in ihrer Leinenhose glauben wollte.
Ich blickte erneut auf das Arbeitsblatt in meinem Schoß. Wer hat Sie in Ihrer Kindheit wie ein besonderer Mensch behandelt? Bei wem haben Sie sich als Kind sicher gefühlt? Dies waren Fragen, von denen ich Herzklopfen bekommen hatte, bis mir schlecht wurde.
Meine Punktzahlen und Antworten legten unter anderem eine fehlende Vorfreude auf die Zukunft nahe, hatte sie gesagt. Sie schlafen sehr viel oder nur sehr wenig. Sind fortwährend melancholisch.
Das Lachen stieg erneut in mir auf, hilflos, nicht zu unterdrücken. Es war das erste Mal, dass ich einer erwachsenen Person gegenüber so respektlos war.
Wenn Sie mich von all diesen Dingen heilen würden, erklärte ich ihr, wüsste ich gar nicht mehr, wer ich bin. Das wäre wie eine Lobotomie. Ich würde mich nicht mehr wiedererkennen.
Ich legte das Klemmbrett weg, bedankte mich bei ihr, noch immer leise kichernd. Verließ das Zimmer.
Was die Fragebögen nicht gefragt hatten, in meinem Fall aber hätte nützlich sein können:
Wachen Sie jeden Tag für sich selbst auf oder für jemand anderen?
Glauben Sie, dass Ihr Leben Ihnen gehört?
Ich trat erneut vor den Kühlschrank. Starrte auf seine verschlossene Tür, während sich das Wasser in meiner Nase sammelte. Etwas in mir setzte sich, rastete ein wie ein Rädchen.
Als ich Tig anrief, erreichte ich die Mailbox. Ich holte mir eine weitere Mülltüte. Ihr Geruch erinnerte mich an eine saubere Windel mit einem Spritzer Lavendel.
Ich begann die Wohnung durchzugehen, sammelte den Müll ein, stellte die Schüsseln mit den eingetrockneten Essensresten neben die Spüle. Ich stellte mich auf einen Stuhl und holte die zerbrochene Uhr von ihrem Regalbrett. Genug, dachte ich.
Auf den Abfalleimer zielend warf ich sie wie ein Säckchen beim Cornhole-Spiel. Die Uhr verfehlte ihr Ziel knapp und zersprang über den gesamten Fußboden.
Yesu!, rief ich laut. Kann denn nicht einmal etwas funktionieren?
Die einzige Antwort auf meine Frage war Stille und eine dreckige Wohnung. Mit einem Besen begann ich die Scherben aufzukehren, wobei ich auch eine wahrhaft widerwärtige Menge an Haaren, Fusseln und Gemüseabfällen mit erwischte. Ich warf das gelbe Plastikgehäuse der Uhr in den Müll. Mit einem Plingen kam eine Textnachricht von Amy. Ihr Inhalt war nichts als vorhersehbar.
gib ruhe!!!, stand darin. du bist so laut und unhöflich! ich werde stacy bescheid sagen. wir sind es leid, uns hiermit zu arrangieren.
Du bist wirklich vollkommen durchgeknallt, schrieb ich zurück, und ich schlage vor, du ziehst gemeinsam mit deinem grunzenden Neandertaler in die Wälder, weit weg von allen normalen Menschen, die sich für ein Leben in der Stadt entscheiden, was Nähe zu anderen Menschen bedeutet, was bedeutet, dass man manchmal hört, wie andere Menschen LEBEN . Ich ließ den Finger über der Senden-Schaltfläche schweben.
Mein Telefon begann in meiner Hand zu vibrieren. Tig rief an.
Hey, sagte ich, schwer atmend, und versuchte mein Adrenalin herunterzuschrauben.
Hi, Babe! Was ist los? Geht’s dir gut?
Ich schloss die Augen.
Ich wollte dir sagen, erwiderte ich leise, während ich in der Küche auf und ab ging, ich wollte dir sagen, ich glaube, ich bin dabei. Bei dem rosaroten Haus, ich meine Rion, zumindest bin ich dabei, euch bei der Planung zu helfen. Außerdem glaube ich, ich sollte mir einen neuen Vollzeitjob suchen und aus dieser Wohnung ausziehen. Vielleicht kann ich in der Zwischenzeit bei Marina unterkommen, weiter bei Leon’s arbeiten und Geld sparen. Wenn sie mich aufnimmt. Vielleicht hat sie auch genug von meinem Mist. Tig. Ich bin bereit dafür, dass mein Leben besser wird. Außerdem will ich einfach sagen – du weißt, dass du bemerkenswert bist, oder? Wenn ich an dein Leben denke, wenn ich daran denke, welches Los du bekommen hast, und an die buchstäbliche Scheiße, die du in Gold verwandelst, dann – das bewegt mich wirklich. Es fällt mir schwer, über die Zukunft nachzudenken. Aber es fühlt sich machbarer an, alles fühlt sich machbarer an, wenn ich mit dir zusammen bin und nicht ganz allein darinstecke. Ich bin bereit, mein Leben zu ändern.
Eine lange Pause.
Ich bin, verdammt noch mal, entzückt, sagte Tig. Babe! Ich glaube, Thom ist dabei. Amit will uns beraten und zumindest etwas Geld geben. Und jetzt das hier. Scheiße. Du bringst mich zum Weinen, Bitch.
Ha, lass das lieber. Ich habe begonnen, einen Projektzeitplan für Rion zu erstellen – mach mich nicht fertig. Ich schicke ihn dir. Du hast doch Microsoft Excel auf deinem Computer?
Ich wusste, dass es schlau von mir war, eine Beraterin an Bord zu holen, scherzte Tig, und genau in diesem Augenblick trat ich auf eine Glasscherbe, so lang wie mein Zeigefinger, und stieß einen Ganzkörperschrei aus.