Wenn der Schnitt so tief war, dass er nach fünf bis zehn Minuten Druck noch immer blutete, erklärte Mummy mir, wenn die Ränder sich kräuselten oder sich nicht schließen ließen, dann könne man nichts tun, und meine Freundin solle ins Krankenhaus gehen.
Sie hat kein Geld dafür, entgegnete ich, und meine Mutter antwortete mir auf ihre direkte Weise – mit der sie mich unbeabsichtigt daran erinnerte, dass weiße Männer, die Philosophiebücher schreiben, kollektives Denken nicht erfunden hatten –: Dann hilf du ihr, nein? Sie kann dir das Geld zurückzahlen. Dafür ist Geld da.
Andernfalls, fuhr meine Mutter fort, gib Eis darauf, gib etwas Dettol –
In Amerika gibt es kein Dettol, Mummy, aber ich werde etwas finden.
Wenn du gepresste Manñal-Wurzel oder rohen, unbehandelten Honig dahast, kannst du das hinterher daraufgeben, fügte meine Mutter hinzu, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Wirkt antibakteriell und gibt den Zellen Kraft, gegen die Infektion anzukämpfen.
Die Dose Kurkuma, umgekippt auf der Granit-Arbeitsplatte. Ist Manñal-Pulver auch okay?, fragte ich.
Eher nicht, könnte mit anderen Dingen vermischt sein, könnte scheuern. Mol, wieso macht du und deine Freundin so spät bei euch noch Koparati? Mol, ruf mich zurück, okay? Sag mir Bescheid, ob es aufhört zu bluten.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich Marina meinen Namen rufen wie eine Frage.
Als ich vorsichtig Manuka-Honig in die Wunde um den Finger meines Mädchens goss, das Ganze mit einem Verband abdeckte und ihr versicherte, dass es bald wieder gut sein würde, verspürte ich den Schrecken, mit dem ich in den kommenden Jahren noch vertrauter werden sollte, über die Zerbrechlichkeit von Körpern, von den Körpern all der Menschen, die ich liebte. Am Ende sind wir Säcke aus Fleisch und Blut, die das umhüllen, was beseelt ist: wechselhaft, flackernd, heilig.
Als wir uns mit roten Augen und erschöpft bettfertig machten, fing meine Mutter an, mich wieder und wieder anzurufen, und hörte nicht mehr auf. Ich trat hinaus auf den Flur und entschied dann, Marinas Nachbar* innen zu verschonen. Dass eine von uns aufgrund einer Beschwerde wegen Lärmbelästigung so gut wie zwangsgeräumt wurde, war wirklich mehr als genug.
Ich rief meine Mutter vom Dach aus zurück, fest entschlossen, ihr zu sagen, dass nun alles wieder gut sei, kein Problem, wir gehen jetzt schlafen, Mummy.
Stattdessen heulte ich wie ein angestochener Luftballon voller Wasser. Wie das kleine dumme Kind, von dem ich wusste, dass ich es war. Sprach es einfach aus. Dass ich gefeuert worden war, dass die Hausverwalterin, die unter mir lebte, seit Monaten hinter mir her gewesen war, dass ich in zwei Wochen aus meiner Wohnung fliegen würde.
Es fühlt sich so schrecklich an, dir das zu erzählen, keuchte ich. Nach dem, was du und Papa durchgemacht habt. Ich bin kein gutes Kind, und das ist in Ordnung, ich bin es nie gewesen, aber ich wollte würdigen, was ihr für mich getan habt, Ma, ich wollte euch zumindest keine Schmerzen zufügen –
Meine Nase tropfte.
Meine Mutter stellte mir mit ruhiger Stimme ein paar Fragen.
Okay, Mollé, sagte sie sanft. Mach dir nicht so viele Sorgen. Wir rufen dich morgen früh an. Geh jetzt schlafen.
Ich lief die Treppe hinunter und versuchte mich an das zu erinnern, was Marina einmal über Tränen gesagt hatte. Sie verhalfen den vielfältigen Emotionen, die der Körper festhielt, ans Licht und ließen einen hinterher reiner und offener zurück. Als ich in ihr Wohnzimmer trat, fühlte ich mich tatsächlich ein Stückchen leichter. Gedankenverloren fummelte ich an der Kleenex-Box herum. Schnäuzte mich, als würde ich in ein Schneckenhorn blasen.
Dann sah ich in der Scheibe der Balkontür hinter meinem eigenen Spiegelbild eine Frau in einer gelben Daunenjacke mit einer Zigarette in der Hand, die mich aus der Dunkelheit ihres Balkons beobachtete.
Hey, Baby, sagte ich fröhlich und schob die Balkontür weit auf. Ich suchte nach irgendetwas Oberflächlichem, um mein verheultes Gesicht zu erklären. Als geübte Lügnerin weiß man, dass Minimalismus das A und O ist. Meine Verlogenheit: das Einzige, worin ich noch ein Profi war.
Wie geht es der Hand?, fragte ich, meine arme Maus –
Marina starrte mich an, als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen. Hinten am Gaumen schmeckte ich, wie etwas aus der Region meines Magens aufstieg. Angst.
Mit wem hast du telefoniert?, flüsterte sie. Der Kiefer fest. Ihr Blick rollte auf mich zu wie ein Zug.
Oh! Mit jemandem, den ich –
Nein, im Ernst, mit wem hast du – ihr kleines Kinn wies nach oben – auf meinem Dach gesprochen?
Ich suchte mit dem Blick nach der Biegung des Seeufers von Milwaukee, das in der Nacht verborgen war. Irgendwo in der Juni-Dunkelheit kauerte ein großes rosarotes Haus, umgeben von wogendem Gras, die kindische Fantasie einer unbegründeten Zukunft. Es gab keine Rettung. Ich stieß einen langen keuchenden Atemzug aus.
Mein Herz zersprang angesichts all dessen, von dem ich wusste, dass ich es mit der Wahrheit verlieren würde, und ich gab es auf. Leise sagte ich: Mit meiner Mutter.