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Ich hatte mehr Angst davor gehabt, es Tig zu erzählen als Thom, also hatte ich mit ihm zuerst gesprochen. Allerdings war er derjenige, der über mein Fortgehen am traurigsten zu sein schien. Dass Isabel endgültig mit ihm Schluss gemacht hatte, ohne die Tür offen zu halten für irgendetwas anderes, als getrennte Wege zu gehen, hatte ihn radikaler verändert, als ich begriffen hatte.

Was wirst du da machen?, hatte er getextet und hinzugefügt: dachte, du sagtest, das vorstellungsgespräch wär schlecht gelaufen. typisch.

Ich habe den Job bei den National Archives nicht bekommen, stellte ich klar. Sie haben jemanden mit mehr Erfahrung genommen. Aber sie haben mich für eine Projektassistenzstelle bei der Stiftung der National Archives empfohlen. Ganz andere Nummer. Ich werde dort bei der internen Kommunikation aushelfen und einen Projektplan für die Verlegung von Büroräumen umsetzen. Sie haben mir zweiundvierzigtausend Dollar im Jahr angeboten, plus Krankenversicherung und drei Prozent für die Altersvorsorge. Ich habe ihnen erzählt, ich hätte Erfahrung mit Changemanagement. Sie haben es mir abgekauft.

Trotz seiner eigenen Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, schien Thom verblüfft darüber zu sein, dass ich für eine Stelle wegzog, die so offensichtlich unsexy war. Ist es wegen der Trennung?, fragte er mich bei Garnelenbällchen und Rindfleisch-Pho in der South Side, einen Tag bevor ich mit Tig durch Bay View lief.

Phan’s ist gemütlich, es riecht penetrant nach Essen, überall stehen Pflanzen, und die Einrichtung ist pink wie innere Organe. In dem Lokal kostet nichts mehr als acht Dollar. Ich wollte nicht mehr in Restaurants mit teuren Hauptgängen gehen, in denen nur die Wohlhabenden speisen. Im Phan’s fühlte ich mich sicher, ich fühlte mich zu Hause.

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn der Anruf einen Tag kam nachdem ich mit Rucksack und Koffer in der Hand von Marinas Wohnung zu meinem theoretischen Wohnsitz auf dem Hill gelaufen war.

Yo, ich brauchte einen Job, sagte ich, und hatte Angst, dass ich nie einen finden würde, wenn ich hierbliebe. Ich habe es monatelang versucht.

Aha. Ja, der Arbeitsmarkt ist gerade mehr als beschissen. Ich weiß nicht, mein Dude. Kommt mir heftig vor, einfach wegzuziehen. Kennst du da irgendjemanden?

Meine Mutter hat dort eine Freundin aus der Krankenpflegeschule. Bei ihr werde ich ein paar Wochen bleiben, bis ich eine WG gefunden habe und so.

Hm. Ich sage ja nur. Ist halt schade. Tig und ich haben uns den Projektplan für die Wohnungsbaugenossenschaft angeschaut – übrigens vielen Dank fürs Zusammenstellen. Das könnte echt eine coole Sache werden. Ein paar Jobs gibt es hier schon, wenn du nur lange genug wartest.

Nicht alle von uns können auf einer Baustelle arbeiten, mein Lieber.

Und du nennst dich eine Lesbe, bemerkte er, steckte sich ein Garnelenbällchen in den Mund und schüttelte den Kopf. Auf dich, Bruh.

Auf mich.

Thoms Körper, einst so dicht und weich wie das Cremeeis, das ich an zwei Tagen in der Woche portionierte, war fest geworden, hatte neu an Spannung und Definition gewonnen. Der Rabine-Effekt. Der Zwölf-Stunden-Schichten-körperliche-Arbeit-Effekt. Dennoch, wenn Thom nicht gerade Scherze machte, lag in seinem Gesicht eine Verlorenheit, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Er fragte mich, ob ich irgendetwas unternommen habe, um meine Gehaltsnachzahlung von Peter zu bekommen.

Mehr oder weniger. Eigentlich nicht. Ich habe ihm eine E-Mail geschrieben, um ihn sozusagen dazu zu bringen, dass er sich gezwungen fühlt, aber es hat mich zu sehr gestresst, sie abzuschicken.

Dass er sich gezwungen fühlt! Lass mal sehen.

Thom setzte seine Brille auf und runzelte die Stirn, während er den Entwurf auf meinem Telefon las. Ich war ziemlich stolz auf die E-Mail. Sie appellierte an Peters Gewissen, beschrieb meinen Schmerz und meine Not, wehrte sich gegen seine Andeutung, meine aufgezeichneten Stunden wären nicht korrekt, und verlangte meine Gehaltsnachzahlung, abzüglich der letzten paar Monate Miete als Entgegenkommen.

Ich fass es nicht, du bist ja vollkommen durchgeknallt, sagte Thom. Was habe ich da gerade gelesen? Glaubst du wirklich, Peter führt sein Geschäft, weil er irgendwie moralisch glänzen will? Versuchst du zu erreichen, dass er sich wegen dir schlecht fühlt ?

Ich denke bloß –

Junge, du bist in vielerlei Hinsicht so clever, aber, bitte, hör in dieser Sache auf mich. Heilige Scheiße, ich krieg gleich einen Herzinfarkt. Der Mann schuldet dir Geld, Geld, für das du gearbeitet hast. Du hast ihm Geld eingebracht, was für einen Bullshit er auch erzählen mag, um dich kleinzumachen. Hast du jemals die Rechnungen gesehen, die Peter den Kunden geschickt hat? Er mag mir bezahlt haben, was er mir bezahlt hat, und dir bezahlt haben, was er dir bezahlt hat, also, wie auch immer, aber er hat für uns beide die gleiche Summe in Rechnung gestellt, fünfzig pro Stunde. Also, das heißt –

Fünfzig?

Hier geht es um Macht, meine Liebe. Krieg das mal in deinen Kopf! Du schreibst diesem Arschloch eine kühle, deutliche und kurze E-Mail. Du hängst deine Arbeitszeitkonten an, deine Zahlungsnachweise und die Summe, die er dir noch schuldet. Und dann machst du ihm, verdammt noch mal, klar, dass er dich bezahlen soll oder vor Gericht wiedersehen kann. Angeklagt wegen Lohndiebstahl, der Hurensohn. Dann muss er dir das geschuldete Geld und die Gerichtskosten bezahlen. Das wird krass.

Es kommt mir einfach zu viel vor, Thom, sagte ich und hasste den flehenden Tonfall in meiner Stimme. Es schien mir ein zu großes Wagnis zu sein, davon auszugehen, dass alles zu meinen Gunsten verlaufen würde. Mit siebzehn Jahren hatte ich zum ersten Mal das Innere eines Gerichtssaals gesehen. Hatte erwartet, dass mein Vater freigesprochen würde.

Thom schüttelte den Kopf. Verzichte nicht auf dein Geld!, rief er. Es ist dein Geld. Irgendwann müssen wir die Produktionsmittel beschlagnahmen, das ist ja klar, wir müssen die Unternehmen in Genossenschaften im Besitz der Arbeiterinnen und Arbeiter verwandeln, oder sie zumindest gewerkschaftlich organisieren, aber bis dahin nimm zumindest die Krümel , die dir vertragsmäßig zustehen. Du hast jedes Recht dazu!

Ich werde es mir überlegen, antwortete ich, und er schnipste an mein Ohr wie ein Viertklässler.

Später im Auto fragte er: Also, wann holen wir deine Mom vom Flughafen ab?

Sie landet übermorgen um zehn Uhr früh. Ich kann um zwanzig nach neun bei mir auf dich warten oder zu dir kommen. Vielen Dank.

De nada. Versprich mir, dass du an der Ostküste, verdammt noch mal, Fahrstunden nimmst.

D. C. ist nicht unbedingt eine Autostadt. Aber ich werde es tun, damit ich zurückkommen und dich Blödmann besuchen kann.

Hast du alles, was du brauchst, um mit deiner Mutter zu packen und so? Kisten und Klebeband und Matratzenhüllen und den ganzen Scheiß?

In meinem Besitz befand sich nicht einmal eine einzige Rolle Klebeband. Stets zuvorkommend, fuhr Thom mit mir zum Baumarkt. Wir parkten vor Sneha Dry Goods, dessen Markise so pink war wie eine Zunge und leicht in der Sonne flatterte. Im Schaufenster des Ladens waren Stoffballen und gestapelte Nag-Champa- und Henna-Verpackungen ausgestellt.

Auf dem Rückweg zum Auto, mit einer Tasche voller Umzugsmaterial, blickte ich zur Markise hinauf und zog eine Grimasse.

Wieso hasst du deinen Namen so sehr?, fragte Thom. Er hatte mich beobachtet, gegen den Kofferraum seines Wagens gelehnt. Die Hände in den Taschen seiner Jogginghose.

Ich schüttelte den Kopf. Geh zur Seite, lass mich meine Sachen einräumen, sagte ich.

Was denn, sag’s mir! Bedeutet er in Indien übersetzt so was wie »stinkende Achselhöhlen« oder so?

Halt die Klappe, sagte ich und spürte, wie die Wut sich leise in mir öffnete wie eine Blüte. Dieser vorlaute Idiot.

Bedeutet er … haarige Muschi?

Fick. Dich.

Bedeutet er dicke fette Schlampe –

Er bedeutet Liebe!, kreischte ich und boxte ihn fest gegen den Hals.

Was, zum Teufel, keuchte er, und ich schlug ihn noch einmal und noch einmal, plötzlich benommen vor Wut, und zu meinen Füßen kullerte das Umzugsmaterial aus der Tasche. Der neue Thom, der Captain-America-Thom, ließ sich das nicht bieten. Innerhalb von Minuten hatte er meine Hände fest im Griff. Dennoch fuhr ich fort, wild um mich zu schlagen, versuchte womöglich sogar, ihn zu beißen. Kurzerhand nahm er mich in den Schwitzkasten.

Wenn du noch einmal versuchst, was auch immer das hier sein sollte, zischte er, dann möge Gott dir beistehen.

Mein gesamter Körper zitterte, ich zwang meine Lungen, Luft zu holen, und meine Glieder, sich zu entspannen. Nach gefühlt mehreren Minuten ließ Thom zu, dass ich mich wieder aufrichtete.

Heilige Scheiße, sagte er.

Es tut mir leid, sagte ich, meine Stimme ruhig und besänftigend. Ich habe die Kontrolle verloren. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert, aber jetzt ist es passiert. Tut mir leid.

Thom massierte sich den Nacken.

Das war absolut nicht cool. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich wollte keinen rassistischen Scherz machen, falls dich das so verdammt aufgeregt hat –

Mein Geist schwebte über der pinkfarbenen Markise, eine kühle Blase auf einem Meer des Verderbens. Eine geborene Beobachterin. Die diese absurde Szene auswertete. Nein, entgegnete ich, verwendete all meine Kraft darauf, Wörter in Beziehung zu anderen Wörtern zu setzen, und versuchte mich wieder in eine zivilisierte, vernünftige und reuevolle Person zu verwandeln. Nein, das ist es nicht.

Was ist es dann?

Es ist kompliziert.

Was ist schon unkompliziert? Ich würde es gern wissen. Mit Worten, nicht mit Fäusten, wenn ich bitten darf, du Verrückte.

Auf der anderen Straßenseite lief ein Pärchen Arm in Arm und gab sich in regelmäßigen Abständen Küsschen. Auf ihren Gesichtern leuchtete die Anbetung. Ein rotes Auto fuhr vorbei. Ich erinnerte mich daran, wie ich Pulp Fiction unter einer Straßenlaterne geküsst hatte. Jene Anfangstage, bevor das Chaos für alle sichtbar wurde.

Meine Eltern haben all ihre Hoffnungen in mich gesteckt, sagte ich schließlich mit monotoner Stimme, ohne ihm in die Augen blicken zu können, und fing einfach an dieser Stelle an. Ich bin ihr einziges Kind. Bei meiner Geburt lief irgendetwas schief, und meine Mutter musste sich hinterher die Gebärmutter entfernen lassen. Meine Eltern sind gute Menschen. Sie lieben mich so sehr. Sie haben alles für mich getan. Aber sie waren ständig beschäftigt, haben ständig gearbeitet. In unserer Kultur wird nicht immer ein großer Fokus gelegt auf, nun ja, Aufmerksamkeit, Zuneigung, das Aussprechen von Gefühlen. Und ich glaube – in meiner Erinnerung war ich – war ich ein bedürftiges kleines Mädchen. Leicht reizbar, liebevoll, sehr hungrig nach – Kontakt.

Ich schluckte schwer, suchte nach den richtigen Worten. Langsam wurde mir bewusst, dass meine Finger um einen warmen Gegenstand gewickelt waren.

Es gab jemanden, sagte ich und atmete schwer durch die Nase, der mir Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der mir das Gefühl gegeben hat, etwas Besonderes zu sein, und mir zugehört hat, der alle möglichen Spiele mit mir gespielt hat. Das war ein Erwachsener. Er war oft gemein, aber er fühlte sich auch an wie mein bester Freund. Dieser Mensch war kein guter Mensch. Belassen wir es einfach dabei. Nachdem er mich angefasst hatte und so – ach, ernsthaft, ich schwöre, es geht mir gut, es geht mir wirklich gut, ich bin kein kleiner Vogel mit zerbrochenem Flügel, jedem passiert im Leben irgendeine unschöne Sache, und das ist eben meine, und ich bin wirklich darüber hinweg –, wie auch immer, als ich alt genug war, um zu verstehen, dass das, verdammt noch mal, nicht in Ordnung war, ging ich ihm aus dem Weg, verhielt mich ihm gegenüber kalt. Er war andauernd da, hing andauernd bei uns herum. Jedenfalls zog er vor meiner Mutter so eine große traurige Schau ab. Ich bin Sneha egal, sagte er, ich bin so traurig wegen Sneha. Dann fügte er hinzu: Wie komisch, dass ihr Name Sneha ist. Er fragte: Weißt du, was Sneha bedeutet? Er hörte nicht auf, mich zu fragen: Weißt du, was Sneha bedeutet?

Der Gegenstand in meinen Fingern übte einen seltsamen Druck auf mich aus. Ich blickte hinunter. Es war Thoms Hand. Groß und warm und blass. Er drückte meine.

Irgendwann, einfach nur, um ihre Ruhe zu haben, sagte meine Mutter dann auf so eine gurrende Weise zu mir: Sneha bedeutet Liebe! Geh und gib ihm Ummas – Ummas, das heißt Küsse –, geh, und dann schob sie mich in seine Richtung. Ich hatte keine Wahl. Er ließ mich ein paar Wochen in Ruhe, und dann fing das Ganze wieder von vorn an. Und weißt du, es war so hart, als meine Eltern wieder dorthin zurückkehrten, als mein Dad abgeschoben wurde und der ganze Scheiß, weil, nun ja, weil sie mich verließen, aber auch weil sie dorthin zurückgingen, wo er war, also wurde mir bewusst, dass ich mich jedes Mal mit ihm auseinandersetzen musste, wenn ich meine Eltern besuchen wollte, zumindest so lange er am Leben war. Es ist hart, weil ich so unfähig dazu bin zu lieben, es fühlt sich an wie ein seltsamer, schrecklicher, ironischer Vorwurf, also, ich konnte es nie zu Marina sagen, auch wenn – also, es so war –, tja. Es ist einfach seltsam. Das Gefühl, dass einem genau das fehlt, was der eigene Name über einen aussagt.

Das stimmt nicht, sagte Thom ganz sanft. Ich glaube nicht, dass du unfähig dazu bist.

Ich weiß es nicht. Wie auch immer. Also. Es tut mir leid, dass ich ausgerastet bin.

Heilige Scheiße, murmelte Thom.

Ich räusperte mich. Es geht mir wirklich gut, sagte ich und zauberte aus irgendeiner staubigen Ecke meiner Fähigkeiten ein Lächeln hervor. Fährst du mich nach Hause?

Thom zog mich in eine Umarmung. Ließ mich nicht mehr los. Minuten verstrichen. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich schwere, tiefe, abgehackte Atemzüge nahm. Nicht weil ich die Geschichte erzählt hatte, die dumm und kitschig war und eines gesegneten Tages tief unten in der Mülltonne der Vergangenheit verstaut sein würde, um nie wieder daran zu denken. Es war seine Berührung. Eindringlich und warm. Große Arme, die mich umhüllten. Das Gefühl der Sicherheit, das sie vermittelten.

Tick, tick, tick machte die Uhr in mir. Ich neigte den Kopf nach oben und küsste meinen Freund. Ein kleiner feuchter Kuss. Erkundend und bereit dazu, weitere Zugeständnisse zu machen. Unsere Körper waren aneinandergepresst. Ich spürte, wie er steif wurde und anschwoll. Es erschien mir aufregend.

Ich verstärkte den Druck und öffnete meinen Mund. Er wich zurück. Hielt mich auf Armeslänge. Zuvor war ihm eine Träne über das Gesicht gelaufen und in seinem Bart verschwunden. Eine schmale feuchte Linie.

Ich kann das nicht, mein Lieber, sagte er. Du bist total süß und selbstverständlich super, also, wenn das Timing anders gewesen wäre … vielleicht. Aber jetzt gerade hätte ich das Gefühl, ich würde in tausend Teile zerspringen. Und als dein Freund will ich ehrlich zu dir sein – ich glaube nicht, dass ich die Person bin, die du eigentlich willst.