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Der Umzugscontainer war nahezu voll. Meine Mutter, meine Freund* innen und ich arbeiteten zusammen, um die Überreste meines Aufenthalts in Milwaukee auseinanderzunehmen, und erhoben unsere Stimmen über den Lärm der Baustelle. Wir wickelten die Bilderrahmen ein. Packten die Tassen ein. Trugen eine Überfülle an Kisten nach unten, während das Geräusch von Klebeband die Luft durchriss. Auf großen Vierecken aus Brawny-Küchenrolle aßen wir Pizza, auf der das Fett der Peperoni auf dem zahnfarbigen Käse leuchtete. Mit wahrhaft übermenschlicher Anstrengung hielt ich Diana davon ab, vor meiner Mutter auch nur eine einzige Kindheitsanekdote zu erzählen.

Zwanghaft schaute ich immer wieder aus dem Fenster. Mein Puls raste. Und dann.

Der kastanienbraune Truck meiner liebenswerten Nachbarin war verschwunden. An seiner Stelle stand nun längs geparkt ein lindgrüner Kia Soul.

Hi, hi, hi! Sie trug einen weißen Jeans-Overall, das Haar ganz oben auf dem Kopf zusammengebunden, begrüßte alle und umarmte meine Mutter mit echter Wärme. Hallo, ich bin Marina!

Mein Mund war so trocken und ölig wie die Pizzaschachteln.

Als sie mir am Ende der After-Show-Party gemeinsam mit einer versöhnlichen Umarmung ihr Kommen angeboten und zugleich meinen Kussversuch abgewehrt hatte, hatte ich nicht Nein sagen können. Als sie mit ausdruckslosem, gelangweiltem und schleppendem Tonfall gesagt hatte: Ist okay für mich, als bloß irgendeine Freundin vorgestellt zu werden, du bist nicht die Erste, mit der ich zusammen bin, die sich vor ihrer Familie nicht geoutet hat, Dude, hatte ich eine heftige, vernichtende Beschämung verspürt. Ich hatte darauf lediglich geantwortet: Okay. Vielen Dank. Das ist sehr freundlich.

Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Sie haben so eine lange Reise auf sich genommen, sagte Marina zu meiner Mutter. Lächelnd.

Nichts verratend. Mit schwindelerregender Anmut.

Wobei sind wir gerade?, fragte sie. Diese Kisten mit Kleidung? Würden Sie mir die Tür aufhalten?

Meine Mutter tat es. Wir putzten das Badezimmer. Wischten den Kühlschrank aus. Begannen meinen Schreibtisch auseinanderzubauen.

Mol, diese Papiere kann ich wegwerfen, oder?, hörte ich sie hinter mir.

Mummy mit einem Stapel Papierkram von Peter und dem Kunden in der Hand, gestikulierend in Richtung eines massiven Haufens. Ein paar Tage zuvor hatte ich versucht sie durchzusehen, um zu entscheiden, was ich womöglich noch aufbewahren musste. Steuerformulare und Lohnabrechnungen, Arbeitszeitkonten und White Papers. Eine Million Excel-Ausdrucke. Es hatte sich so überwältigend angefühlt, dass mir der Kopf geschwirrt hatte. Ich hatte es auf- und zur Seite geschoben.

Meine Mutter wurde sauer, dass ich die Papiere noch nicht sortiert und den Schreibtisch noch nicht auseinandergebaut hatte. Wir gifteten einander an. Unsere Worte hingen rauchend in der Luft.

Marina mischte sich ein. Ich übernehme den ersten Durchgang, sagte sie und legte mir eine Hand auf die Schulter, danach kannst du noch einmal drüberschauen. Ich behalte alle Verträge, Arbeitszeitkonten und Steuersachen. Klingt das gut?

Danke, flüsterte ich. Mummy lächelte Marina an, sodass sich Fältchen um ihre Augen bildeten. Als Nächstes beschlossen meine Mutter und Tig, sich um das Problem der Nägel in der Wand zu kümmern.

Wo ist dein Hammer, Mol? Du hast doch einen Werkzeugkoffer?, fragte meine Mutter mich nörglerisch.

Mein Hammer – ich weiß, dass ich einen habe, aber ich habe ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Er ist beim Packen nicht aufgetaucht. Und etwas anderes habe ich eigentlich nicht, abgesehen von diesem Schraubenzieher – ich winkte von dem umgedrehten Walmart-Computertisch aus mit dem Philips.

Yesu, murmelte meine Mutter. Und hast du dieses Füllmaterial?

Nein, ich habe nicht daran gedacht, Spachtelmasse zu besorgen – tut mir leid, Ma –

Bitte führ dein Leben in Washington, D. C., anders, okay?

Auf diese Weise schimpfend, kommandierte meine Mutter Tig dazu ab, sie zum Baumarkt zu fahren. Diana und ihr Sohn entschieden, eine Pause einzulegen. Einen Spaziergang durch die Nachbarschaft zu unternehmen. Ich erstarrte, ehe ich mich daran erinnerte, dass er noch zu jung war, als dass irgendjemand an die Hill-Mailingliste schreiben würde. Bei Nextdoor einen Kommentar hinterlassen oder die Polizei rufen würde. Für den Augenblick war er sicher.

Die Schrauben aus meinem Schreibtisch wanderten in einen wiederverschließbaren Plastikbeutel, den ich mit übertriebener Sorgfalt beschriftete. Im selben Zimmer arbeiteten Marina und ich schweigend Rücken an Rücken.

Das hier ist seltsam, sagte ich schließlich. Es ist so, so seltsam. Euch beide hier zu haben. Es fühlt sich verrückt an. Nach allem, was passiert ist. Ich hoffe – ich hoffe, ich kann irgendwann auch deine Mom kennenlernen.

Marina nickte knapp und mied Blickkontakt. Die verschwenderische Wärme, die eine Tanzdarbietung für sich gewesen war, fiel von ihr ab, nachdem alle anderen fort waren. Ihr Gesichtsausdruck war fest, zu gleichen Teilen kalt und traurig.

Wie fühlst du dich?, fragte ich schüchtern.

Beschissen, sagte sie und arbeitete weiter, den deutlichen Eindruck vermittelnd, kein Gespräch zu wünschen.

Der Lärm der Baustelle wurde hundertmal lauter. Ich band die einzelnen Teile des Schreibtischs zusammen.

Bitte schön, sagte Marina, mich noch immer nicht anblickend, und stellte einen Pappkarton voller verschiedenfarbiger Klarsichtmappen neben sich auf den Fußboden. Darin waren meine Papiere sortiert. Sie streckte sich, wobei ihre Rückenmuskeln sich kräuselten. Ihre Schultern sanken nach vorn. Während ich sie beobachtete, hatte ich das Gefühl, als wäre mein ganzer Körper von Tau bedeckt.

In diesem Augenblick wusste ich, was ich meinen Eltern gestehen würde, noch ehe ich Milwaukee verließ. Die Freiheit, die ich darin gefunden hatte, mein Leben wie ein Atom zu spalten, war eine zerstörerische, und ich wollte sie nicht länger haben. Wilhelm Meister hatte sich nicht mit der Unmöglichkeit einer Rückkehr herumschlagen müssen. Ich wusste nun, dass ich nicht nach einer Phase der Freiheit umkehren und den Beruf, den Kompromiss, den dafür bezahlten Mann annehmen konnte, wie ich es einst geglaubt hatte, als eine fällige Zahlung.

Außerdem entschied ich, Marina in der kurzen Zeit, die uns noch am selben Ort blieb, auf Spaziergängen und bei selbst gekochten Mahlzeiten von den schlichten Tatsachen meines Lebens zu berichten, die nicht das waren, was ich mir ausgesucht hätte, und die dennoch zu mir gehörten und es daher wert waren, sie auch für mich zu beanspruchen. In Socken lief ich über den honigfarbenen Holzfußboden auf mein Mädchen zu.

Hey, flüsterte ich ihr ins Ohr und schlang von hinten die Arme um sie. Danke.

Ich bin so traurig, murmelte sie. Ich werde dich vermissen. Sie war kaum zu verstehen in dem Getöse. Ich hörte ihre Worte als Empfindung und Umriss, wie die Hände von kleinen Kindern, die sich unter einem Bettlaken bewegen.

Ich schloss die Augen. Schwindelig vor Sehnsucht und Angst sagte ich: Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich.

Es war die Wahrheit.

Auf dem Gesicht, das sich nun von mir löste, sich zu mir umdrehte, lagen Überraschung und Ärger und eine aufbrechende Verletzlichkeit.

Verdammt, sagte Marina, und ihr traten Tränen in die Augen. Scheiße. Ihre Nase lief pink an, ihre rauchige Stimme zitterte. Warum sagst du das ausgerechnet jetzt ? Jetzt, wo alles zu Ende geht.

Ich lehnte mein Gesicht an ihres. Mit der ganzen Inbrunst einer neu Bekehrten sagte ich: Es ist niemals zu spät. Es ist niemals das Ende.

Ein Hauch Minze von ihrem Kaugummi, eine Andeutung von Zigarettenrauch dahinter. Der nasse Muskel ihrer Zunge. Die samtweichen Lippen. Ein Kuss, so umfassend wie ein Raga, so bebend wie eine Sonate. Ich zog an den harten Knochen ihrer Hüften, zog sie näher heran und öffnete flatternd die Augenlider, um kurz ihr Gesicht zu sehen, das leuchtende Gesicht meines Mädchens. Es war fest zusammengekniffen, wie in Ekstase oder Furcht.

Marinas Wangen waren nun von Nässe überzogen. Ihre Lippe zitterte. Ich liebe dich auch, flüsterte sie, die Stimme voller Kummer.

Als wir uns voneinander lösten, sah ich meine Mutter.

Ihr Gesicht war eine Maske des Schocks. Sie stand in dem leer geräumten Wohnzimmer meines Lebens und beobachtete ihr Kind, in der einen Hand Spachtelmasse, in der anderen ein neu gekaufter Hammer.

Ente Sneha, flüsterte sie in unser Schweigen.

Ich trat einen Schritt auf sie zu.

Ma, begann ich, meine Stimme ein leeres Haus, dessen einziges Fundament Schrecken war, ich-ich-ich möchte, dass du weißt, wer ich bin.