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Wir entschieden uns für die Uhr. Aber vorher tat ich es. Ich kann es erklären.

Fünf Jahre waren geschmolzen wie Kerzenwachs und hatten uns mit geschmolzen. Es war ein kühler, nach Kirschblüten duftender Morgen in Washington, D. C., als mein Vater mir Fotos der Bäume am Fluss schickte, die über meine silberhaarige Mutter hinauswuchsen. Ein verschlungenes Baumkronendach in Grün und Braun. In dem Schatten, den ich gezüchtet hatte, sah sie wunderschön und ein wenig traurig aus.

Ich trat aus den unterirdischen Tiefen der U-Bahn zurück ans Tageslicht. Ein paar Sekunden blieb ich vor dem Gebäude, in dem ich arbeitete, stehen und fuhr die Fotos mit meinen Fingerspitzen nach, während der Wind mein Haar zerwühlte. Wunderschöne Bilder, schrieb ich zurück. Gehe jetzt ins Büro. Wir sprechen uns bald. Er textete: Gute Reise. Bitte gib uns Bescheid, wenn du gut gelandet bist.

Meine Mutter schrieb: Deinem Freund wünschen wir alles Gute zur Hochzeit.

An meinem Schreibtisch überflog ich die Zeitungsausschnitte, in denen es um Asylsuchende ging, und warf einen Blick auf meinen Besprechungsplan für den Tag. Vorsichtig nippte ich an dem schlammigen Kaffee, der jede Non-Profit-Organisation für Immigration in dieser Stadt betrieb wie ein fossiler Brennstoff. Aus dem Augenwinkel sah ich im Bürofernseher, wie Trump und seine Frau die Baylor Lady Bears zu Gast hatten. Frauen drängten sich um einen Tisch, der unter Essen von McDonald’s, Chick-fil-A und Wendy’s ächzte. Ich öffnete meinen persönlichen Gmail-Account. Las noch einmal die letzte Mail von Amit, das Schreiben, das mich ärgerte, seit ich es direkt nach dem Aufwachen gesehen hatte.

In unserem gemeinsamen Leben war nun diese Zeit angebrochen: Hochzeitssaison. Ich freute mich für Amit und Emily. Wirklich. Sicher.

Womit ich ein Problem hatte, war ihre eigene Ambivalenz, ihre Überkompensation. Tröpfchenweise erreichten mich Amits Kapriolen und Details. Keine Diamanten, keine Ringe. Die Gartenjurten. Em schneiderte sich das Kleid selbst. Statt Blumen Papierkraniche, die die Brautmenschen falten und zusammenbinden sollten. Die Verwendung des Wortes »Brautmenschen«. Zum Glück war ich nicht gebeten worden, bei der Hochzeit eine besondere Rolle zu spielen. Das Beharren darauf, keine Geschenke zu wollen, nur um in den vorangegangenen zwölf Stunden, eine Woche vor der Hochzeit, vor den Forderungen empörter Familienältester zu kapitulieren und einen Link zu einer Hochzeitsliste herumzuschicken.

(Nur für die, die uns unbedingt etwas mitbringen wollen! Andernfalls ist eure Anwesenheit Geschenk genug!)

Ich nahm einen Schluck und verbrannte mir den Mund. Alberne Leute, so lautete insgeheim mein Urteil über das Ganze. Wenn ihr heiraten wollt, dann heiratet einfach. Ernsthaft, es ist die gewöhnlichste, altertümlichste Angelegenheit, die man sich vorstellen kann. Könnte sogar ganz reizend sein, je nachdem, wie man es angeht. Aber es gibt absolut keinen Anlass, in dieser Sache exzentrisch zu sein.

Ich verspürte den vertrauten, leise stechenden Schmerz. Drei Jahre später, und immer noch.

Ich rieb mit der Zunge über die feuchte Innenseite meiner Wange. Druckte einen Kommunikationsplan aus und brachte ihn zu meiner Chefin, die ziemlich nett war, allerdings zur älteren D.-C.-Generation gehörte und manchmal schon von G Suite mattgesetzt wurde. Ich kehrte in meine Bürozelle zurück und rief meinen Chatverlauf mit meinen alten Freund* innen auf. Meinen Freund* innen aus Milwaukee, die Verständnis zeigen würden.

SNEHA :

tja. vielleicht bin ich ein verbitterter single, wer weiß

THOM :

Mach dir nichts vor, diese extreme San-Francisco-Hochzeit hätte dich genauso genervt, wenn du und M noch zusammen wärt

TIG :

Hört mal, ich hab eine Frau und zwei Liebhaberinnen und finde trotzdem, A+E haben sie nicht mehr alle, also

THOM :

Ich glaube, sie versuchen so angestrengt nicht bürgerlich zu sein, dass die Wirkung am Ende leider ausgesprochen bürgerlich ist

SNEHA :

Hat »Ich glaube, sie versuchen so angestrengt nicht bürgerlich zu sein, dass die Wirkung am Ende leider ausgesprochen bürgerlich ist« gelikt.

TIG :

Ich bin einfach so froh, dass du dafür zurück nach MKE kommst. Ist Jahre her, Hoe

THOM :

Zugegebenermaßen war Marx selbst verheiratet. Und ein ziemlicher Romantiker. Seine Briefe an Jenny sind richtig süß

TIG :

Ich meine, Marx selbst war kein Marxist. So wie Jesus auch kein Christ war

TIG :

Schenk ihnen einfach nichts, sie haben doch gesagt, dass das eine Option ist

SNEHA :

nein, ich will ihnen ja was schenken. hochzeitslisten sind bloß so ein irrer amerikanischer brauch. meine eltern hatten nie eine, sie haben sich einfach damit abgefunden, von verschiedenen verwandten mehrmals die gleiche gewürzmühle und die gleiche glasuhr zu bekommen. was, zur hölle, ist ein avocadoschneider? ich dreh durch, bitch

Bed Bath & Beyond war erfüllt von strahlendem Licht und Lotionsdüften. Nichts auf dem Hochzeitstisch kam mir richtig vor. Inspirierte mich. Ich hatte kein großes Verlangen, Amit und Emily einen pastellfarbenen Toaster, roségoldene Untersetzer oder Wasserflaschen mit Kammern für Früchte zu schenken. Ich mäanderte durch die Gänge des Geschäfts und fühlte mich gereizt und selbstgerecht.

Ich erwog, Marina etwas Abfälliges und Lustiges zu schreiben.

Wir kamen gut miteinander aus. Allerdings zog sich durch unsere Zuneigung hartnäckig ein Hauch Förmlichkeit, eine Befangenheit. Ich traute mich nun nicht mehr so oft, ihr meine rauen, gemeinen Seiten zu zeigen. Die großzügige Sneha, die Sneha, die alles stehen und liegen ließ, wenn Marina in einer Krise steckte, die Sneha, die soeben befördert worden war, aber angemessen bescheiden blieb, die Sneha, die viele Freundschaften ohne besonderen Tiefgang führte und niemals einsam wirkte – die zeigte ich Marina, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte. Außerdem hatte sie weniger Grund, zynisch über Romantik zu denken, als ich. Für sie gab es jemand Neues.

Wir hatten zwei oftmals glückliche Jahre. Und dann war es vorbei. Die Streitigkeiten hatten zugenommen, verschlimmert durch mein Vermeidungsverhalten und Marinas Trinken. Hinzu kamen die Fernbeziehung und schließlich Marinas Umzug zu mir, der nicht annähernd so sehr half, wie wir es geglaubt hatten. Marina fuhr unter Alkoholeinfluss Auto, ich schluckte meine Wut herunter, sagte: Nein, du kannst mich nicht nach Indien begleiten, es ist einfach zu viel. Es ist keine Kleinigkeit, sich erbittert zu streiten, bis man die Morgensonne auf den Dächern der Reihenhäuser wie auf den Tasten eines Klaviers spielen sehen kann, um danach aufzuwachen und zu sehen, wie die geliebte Person nach einem greift wie ein Kind, das Gesicht heiß und wächsern vom Schlaf. Dann dreht sich einem der Kopf, wenn einem bewusst wird, dass ihre Liebenswürdigkeit weder Reue noch Vergebung, sondern einfach bloß Vergessen ist, ein Blackout. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, murmelte sie mir zu, ich erinnere mich einfach nicht mehr daran, also weiß ich nicht, was ich deswegen tun soll, es tut mir wirklich leid –

Ich will damit nicht behaupten, dass das, was wir hatten, nicht oft auch wunderschön gewesen wäre. Viel mehr kann ich darüber nicht sagen. Die langen hin- und hergeschickten Briefe, die perfekten Wochenenden, wie Marina Wein einschenkte, während ich nackt am Herd stand und Joan Armatrading lief, die Ausflüge mit dem Auto, das eine Mal, als Marina mich mit einem langen Wochenende in Florida überraschte und ich, als ich in das schlangengrüne Blattwerk blickte und die feuchte Hitze im Gesicht spürte, zu ihr sagte: Oh, Baby, so ist es dort, in dem Ort, aus dem ich stamme.

Ich will damit nicht behaupten, unsere endgültige Trennung wäre, als es so weit war, auch nur annähernd erträglich gewesen. Ein abbruchreifes Gebäude, das endgültig demoliert wurde. Marina gab den Anstoß, sagte, das Gesicht schmerzverzerrt: Ich kann das nicht mehr.

Ich will auch nicht die darauffolgende Periode beschönigen, in der meine Mutter schließlich nach D. C. flog und mich dazu zwang, mich zu waschen, zu essen und jeden Tag zur Arbeit zu gehen.

Ich will hier gar nichts behaupten, außer dass die Zeit eine opiumartige Wirkung hat. Dass wir, nachdem alles vorbei war, Wertschätzung füreinander verspürten, einen widerwilligen Respekt, ein ozeantiefes Verständnis der anderen Person, aber ohne eine gemeinsame Vision eines romantischen Fortbestehens.

Der schlimmste Teil war am Ende nicht gewesen, dass Marina betrunken Auto gefahren war. Dass ihre Augen gelb geworden waren. Die ausgewachsenen Wutausbrüche, die sie am nächsten Morgen wieder vergessen hatte. Am schlimmsten zu ertragen gewesen war das Wissen, auf welche Weise ich dafür verantwortlich war. Denn gute Liebe kann einen Menschen retten. Ihn aus den Wellen herausziehen. Schlechte Liebe ist ein Brandungsrückstrom. Sie kann zum Ertrinken führen.

Du brauchst Hilfe, war eines der letzten Dinge, die ich Marina am Ende entgegenschrie, und diese Worte schlossen die Möglichkeit aus, die bis dahin existiert hatte: dass wir beide einander retten könnten.

Und dann datete Marina die verklemmte Bankangestellte, danach die sadistische Postbeamtin, und schließlich ließ sie sich in die Suchtklinik in Jersey einweisen. Zog später nach Rhode Island mit einer neuen Freundin, einer gertenschlanken Ernährungsberaterin, die meine kärgliche Präsenz im Leben meiner Ex tolerierte, während sie ihre ruhige Abneigung mir gegenüber deutlich machte.

In den ersten beiden Jahren, nachdem es aus war, hatte Marina mich etwa einmal im Monat angerufen, meist in einer akuten Krise. Sie bekam wegen Trunkenheit am Steuer den Führerschein entzogen. Shamar Dance, ihr Nebenprojekt mit Shaka, endete in einem finanziellen Durcheinander. Die rothaarige USPS -Angestellte warf all ihre Schuhe aus einem Fenster im zehnten Stock. Manchmal gab Marina auch Geständnisse ab, meistens, wenn sie getrunken hatte. Ich vermisse dich so sehr. Ich werde nie vergessen, was wir hatten. Du fühlst dich immer noch wie meine Person an, und das macht mich fertig.

Ich ließ alles stehen und liegen, bezahlte für ein Uber, überarbeitete ein Kündigungsschreiben, hörte mir an, was auch immer gesagt werden musste.

Thom fand diese gegenseitige Abhängigkeit ungesund. Es ist schon in Ordnung, sagte Tig sichtlich erschöpft. Ihr seid füreinander so etwas wie emotionale Unterstützungshunde. Emotionale Unterstützungs-Ex-Freundinnen.

Diese Dynamik verblasste mit der Ankunft der Ernährungsberaterin, die zumindest auf ihrem Online-Profil liebenswürdig und nicht vollkommen verhaltensgestört wirkte. Ich war nun in der Chatgruppe für Marinas Abstinenzmedaillen-Meilensteine. Wir telefonierten seltener. Wir liebten einander nach wie vor.

Für mich war die Zukunft noch immer offen. Das war eines der letzten Dinge, die ich in den letzten Minuten, in denen wir offiziell noch zusammen waren, zu ihr sagte, bevor ich so heftig zu weinen anfing, dass ich nicht mehr sprechen konnte. In einer möglichen Welt, in der Marina sober bleiben konnte, keine von uns eine dauerhafte Liebe gefunden hatte und ich bereit war, erneut mein Herz für sie zu öffnen, dachte ich in den Monaten nach unserer Trennung, könnten wir es noch einmal versuchen. Diesmal richtig.

Der Gedanke, dass es nun beinahe drei Jahre her war, ließ mich unangenehm aufschrecken. Ich bog um eine Ecke. Sah die Uhr.

Nicht zu glauben, dachte ich und unterdrückte ein Lachen. Ich nahm sie in die Hand. Darauf stand Waterford Lismore. Ein hübsches rundes Uhrengesicht in einer Masse aus glitzerndem Bleikristall. In der Form eines Diamanten. Eine Briefbeschwerer-Uhr in der Größe einer unreifen Kokosnuss. Sie war klassisch schön, so traditionell wie die Mayflower . Das Gegenteil von Jurten und Brautmenschen.

Das ist unsere letzte, erklärte mir die Verkäuferin. Ein Ausstellungsstück, deshalb gibt es keinen Verpackungskarton. In Ordnung, sagte ich. Es war wirklich ziemlich kindisch von mir, aber ich brachte sie zusammen mit den blöden flauschigen Geschirrtüchern, die tatsächlich auf der Hochzeitsliste standen, zur Kasse. Nein, wir bieten keine Geschenkverpackungen an, sagte der Kassierer. Er polsterte die Uhr mit Zeitungspapier und Klebeband. Sie war schwer einzuwickeln, ihre Form und Proportionen ergaben keinen Sinn.

Ich verpasste beinahe das Ende der Rolltreppe, stolperte und ruderte mit den Armen, wie ein Mann auf einer Bananenschale. Um ein Haar wäre die Uhr frühzeitig kaputtgegangen. Auf der U-Bahn-Fahrt nach Hause hielt ich die Lismore auf meiner Handfläche und empfand ihre Schwere als tröstlich.

Irgendjemand hatte organisiert, dass wir mitten in der Woche anlässlich des Geburtstags meiner Mitbewohnerin ausgingen. Wir aßen Fisch-Crudo und tranken orangefarbenen Wein. Neue Bekannte fragten einander: Und was arbeitest du? Ich lehnte das Angebot eines dritten Glases vom Ehemann meiner Freundin V ab. Ich muss morgen früh zum Flughafen, sagte ich. Oh, ja, antwortete er. Die Hochzeit deines Ex.

Nicht der wichtige Ex, sagte V, die sich auf den Platz neben ihm fallen ließ. Der unkomplizierte Ex. Hier, hab dir ein Wasser mitgebracht.

Ich vergesse ständig, fügte sie hinzu, während sie mich mit vor Neugierde leuchtenden Augen musterte, dass du mal in Milwaukee gelebt hast. Dein kleiner Zwischenstopp.