Ich starrte von der Einfahrt aus hinauf und fragte mich wenig solidarisch und gegen jede Vernunft, ob es von innen wohl grauenhaft aussehen würde. Ein Zwangsversteigerungsnest aus vollgepissten Teppichen, Studierendenmöbeln, Ratten. Denn – dieses Haus ! So viel größer, als Textnachrichten und Handybilder es je zeigen könnten. Dafür müsste man in D. C. locker Millionen hinblättern. Wie hoch waren eigentlich die Hypothekenkosten im Mittleren Westen?
Über die Monate hatte Thom mich aus der Ferne auf dem Laufenden gehalten über das Projekt, das ich einst in dem staubigen Archiv meines Lebens als das rosarote Haus abgeheftet hatte. Ein fantastischer jugendlicher Traum. Keine Unterhaltung konnte mich darauf vorbereiten, es zu sehen, zwar viel bescheidener, aber Wirklichkeit geworden.
Rion. Noch immer unfertig, ein halbes Jahr nach Abschluss des Kaufvertrags. In Harambee, nicht in Shorewood, was zu einigen verwirrenden Diskussionen über Gentrifizierung geführt hatte, auch wenn niemand von ihnen zu irgendeiner Form von Adel gehörte. Amit hatte sich vor Jahren aus dem Projekt zurückgezogen, hatte zugegeben, dass er niemals dort leben wollte, wünschte ihnen aber, dass ihre Vision Wirklichkeit würde, und drückte ihnen die Daumen. Thom hatte mir erzählt, dass er in den letzten fünf Jahren häufig kurz davor gewesen sei aufzugeben, der Konvention zu folgen, mit seinen Ersparnissen aus der WG aus- und bei irgendeinem linken Babe einzuziehen. Wie bei anderen Dingen auch, war es die Geringschätzung seiner Eltern, die ihn verbissen dabeibleiben ließ, der freudige Mittelfingernervenkitzel, als er ihnen mitteilte, er wolle zusammen mit seinen Schwarzen Freund* innen ein Gemeinschaftshaus erwerben.
(Nun ja, es tut mir leid, dass ihr das so seht. Aber das sind meine Werte. Sie müssen euch nicht gefallen.)
Als sie die Immobilie in Harambee besichtigt hatten, war Tig mit starrem Blick umhergelaufen und hatte sichtlich dem großen Traum nachgetrauert. Dieses Haus hatte eine Vinylverkleidung. Nur zwei Badezimmer. Einen Dachboden, in dem Jervai und KJ Waschbären hörten, die wie in einem Zeichentrickfilm quiekend davonrannten. Der obere Balkon wirkte gefährlich, so verfault wie ein gezogener Zahn. Thom hatte Tig zur Seite genommen und pragmatisch auf them eingeredet. Die beiden waren die Hüter* innen des Plans gewesen, hatten die Flamme über all die Jahre am Brennen gehalten.
Du musst langfristig denken, bat er Tig. Das Haus hatte sechs richtige Schlafzimmer und einen Dachboden. Einen Schuppen. Einen Garten, der groß genug war: für Gemüsebeete, einen Whirlpool, verdammt, sogar für ein, zwei Tiny Houses. Es befand sich in Laufnähe zum Riverwest Public House und zum Bremen Café. Das alles für 174 .000 Dollar. Weniger als die Anzahlung für die rosarote Villa am See, die vor so langer Zeit Tigs Fantasie beflügelt hatte.
Thom war ein Realist. Er arbeitete auf dem Bau. Jervai war Barkeeperin, Diana nahm Blut ab, Kenny war Softwareentwickler. Tig war Teilzeit-Alphabetisierungslehrerin für Kindergartenkinder mit einem Haufen Alverno-Schulden.
Wir können es beinahe bar bezahlen und den Rest in drei Jahren tilgen, hatte Thom gesagt. Hör auf mich, Homie. Das Haus wird im Wert steigen, und wenn der Tag kommt, können wir es bei Bedarf für seine Traumlage verkaufen. Sieh dir den Platz an. Sieh dir den Preis an. Deine Ersparnisse, Dianas, meine, Kelli Jo soll einen Kredit aufnehmen, und lass uns sehen, wo Jervai und Kenny stehen. Ich wette, wir bekommen es nahezu zusammen.
Tig starrte auf die Vinylverkleidung, den Blick voller Angst und Hoffnung.
Was sagst du?, drängte Thom. Die schiere Größe, argumentierte er. Der Preis war unschlagbar, nachdem Tig ausgeschlossen hatte zu versuchen, etwas Günstiges irgendwo im ländlichen Wisco zu kaufen. (Wir ziehen nicht raus aus der Stadt, White-Flight-Arschloch.) Mehr als genügend Schlafzimmer. Für Gäste oder Kinder. Airbnb-Einnahmen. Was auch immer sie sich gemeinsam wünschten.
Irgendwann lenkte Tig ein. Passte ihre Vision an. Nicht dass Thom keine Zweifel gehabt hätte. Noelle, die Frau, mit der er gerade zusammen war, wirkte recht verlässlich, freundlich, politisch passend. Sie hätte nichts dagegen, in gemeinschaftlichen Wohnraum zu ziehen, aber sie einen Anteil an dem Haus erwerben zu lassen, wäre komplizierter. Womöglich nicht ratsam. Auf Thom wirkte die Zukunft unendlich unsicher. Sich fortpflanzen oder nicht. Sich an diese Frau binden oder nicht, und für wie lange. An der Börse investieren, trotz ihrer Übel. Demokratisch oder Grün oder überhaupt nicht wählen. Manchmal las er Artikel über das Schmelzen des Permafrosts und all die Krankheiten und das Methan, die in die Atmosphäre freigelassen würden, und fragte sich: Werde ich dabei zusehen können, wie die Welt zugrunde geht, und wie will ich leben, wenn es so weit ist?
Also machte er weiter. Drei Dinge hatten ihm dabei den Schlaf geraubt: Papierkram, Entscheidungen, Vertrauen. Der Versuch, einen neuen Weg einzuschlagen in einem Rechts- und Finanzsystem, das auf die alten Wege ausgerichtet war. Die Gründung einer LLC , das Verfassen einer Satzung. Auf Drängen seiner Mutter hatte er einen Gesellschaftsvertrag aufgesetzt, der zu zwei Dritteln aus Streitschlichtung bestand, aus Klauseln für alle Eventualitäten. Tod, Krankheit, Zerwürfnisse, Neuzugänge. Darüber hinaus hielt Antigone dem Rest von ihnen alle möglichen Vorträge über Soziokratie und Konsens und darüber, wie Konflikte am besten beigelegt wurden. Willst du alle anderen verschrecken?, zischte Thom them hinterher an. Tig hatte sogar Handzettel ausgedruckt, Grundgütiger.
Damals rief Thom mich an.
Nachdem wir jahrelang Memes ausgetauscht, uns in Textnachrichten über unser Leben auf dem Laufenden gehalten, einander zum Geburtstag gratuliert und grauenhaft erwachsene Dinge wie »Lass uns mal wieder telefonieren« von uns gegeben hatten.
Ay, mein Dude, hatte er gesagt, als ich vor über einem Jahr ans Telefon ging, wie es aussieht, brauche ich eine professionelle Beraterin.
Ungeachtet meiner Ängste war das Haus innen sauber. Bescheiden, noch im Entstehen begriffen, eingerichtet mit Fundstücken. Dem Holzfußboden hätten Öl und Beize wahrscheinlich gutgetan, die Küchenkacheln wirkten wie hundert Jahre alt. Auf dem Esstisch lagen fünf MacBooks wie Platzdeckchen. Ich lauschte den Geschichten zu den einzelnen Anschaffungen. Die Möbel hatten sie über Craigslist in den Vororten aufgespürt oder bei IKEA in Oak Creek gekauft. Einige dieser Funde waren einfach unfassbar. Ein Spiegelschrank aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts von Within Reason Resale, ein Zweisitzer-Sofa, das aus einer Badewanne mit Füßen gefertigt war. Alle Wände quollen über vor Kunstwerken, die meisten davon selbst gemacht. Dianas Gemälde, Öl und Acryl auf Leinwand. Eine Wand voller von Tig beschriebener Post-its. Thom und Jervai waren die Pflanzenflüsterer des Hauses, und das Wohnzimmer war ein ausgewachsener Dschungel. Ich lief umher, vor Staunen verstummt.
Ich wollte sagen: Ich bin stolz auf euch, aber dieses Gefühl wirkte zu klein.
Du musst am Verhungern sein, sagte Thom. Wir trugen das Abendessen auf die Veranda. Weiße-Bohnen-Suppe mit Schinken. Ein Salat, der hauptsächlich aus Karotten bestand. Mit Knoblauch eingeriebenes Brot. Wir balancierten die Schüsseln auf den Knien. Ich öffnete die Flasche, die mitzubringen ich nicht vergessen hatte, und schenkte die goldene Flüssigkeit aus.
Auf unser Wiedersehen, sagte Thom.
Auf Rion und was ihr gemeinsam erschaffen habt, lautete mein Gegenangebot, während ich mein Glas zu einer Symphonie des Anstoßens erhob.
Jervai, die eine Art Hausverwalterin zu sein schien, fragte: Wann geht ihr zu diesem Hochzeitsquatsch von eurem Freund, ich will meine Woche planen.
Freitag gibt es ein frühes Willkommensabendbrot für alle, sagte Thom. Am Samstagnachmittag ist dann die Zeremonie, Amit meinte, dass sie lange dauern wird, aber wohl nicht ganz traditionell hinduistisch ist. KJ und Tig haben irgendwas für die Tischrede nach der Zeremonie vorbereitet – Amit und Emily sind ganz verrückt danach, Leute Sachen für sie machen zu lassen. Wir sollen ein Feuerwerk für die Feier mitbringen, klingt nach einem Riesending. Ich glaube, sie haben dreihundert Personen eingeladen oder so.
Diese Hochzeit übertreibt echt total, bemerkte Kenny.
Sie macht genau das, was sie soll, erwiderte Tig und schluckte ihren Whiskey hinunter. Romantische Liebe ist ein kapitalistisches Herrschaftsinstrument. Sie macht den Menschen falsche Hoffnungen auf Selbstverwirklichung, sichert durch die Vererbung von Reichtum die Klassentrennung und lenkt die Energie fort von der Verbesserung der materiellen Bedingungen für die arbeitende Bevölkerung. Im Grunde existiert Liebe, um Heteros teure Fitnesskurse zu verkaufen.
Darauf folgten Gelächter und Stöhnen. Spar dir das für deinen kleinen Insta-Account auf, murmelte KJ neben mir.
Und was ist mit Nicht-Heterosexuellen?, wollte Thom kichernd wissen.
Oh, uns verkauft man Subarus.
Scheiße noch mal, Tig, warf ich genervt ein, du selbst hast ganze drei romantische Partnerinnen. Du bist verheiratet.
Tja, ich habe nie behauptet, ideologisch zu sein.
Als der Abend dem Ende zuging, bot man mir von den beiden freien Schlafzimmern das im Erdgeschoss an. Ein Stockbett. Grauer Teppich. Ein Räucherstäbchen, das in einer Muschel qualmte. Ein kleiner Eukalyptuszweig in einer Vase.
Wenn du mehr Platz willst, kann ich dich auch in das Zimmer im zweiten Stock stecken, bot Diana an, aber ich winkte ab. Das hier ist perfekt, sagte ich und fiel in den allertiefsten Schlaf.