7. KAPITEL

„Ich muss los.“ Hayley richtete sich auf.

Die letzten zwanzig Minuten hatten sie einfach nur dagesessen, Tom an einen Baum gelehnt, sie mit dem Rücken an seine Brust geschmiegt.

Zwei Wochen war es jetzt her, dass sie Tom im Café Luna getroffen hatte. Und bis heute hatte sie ihren Vorschlag nicht bereut. Sie sahen sich zwar nur selten, aber wenn, dann verbrachten sie leidenschaftliche, sinnliche Momente miteinander, genau wie beim ersten Mal.

Kostbar waren ihr aber auch Stunden wie diese, wenn sie sich wie jetzt zu einem Picknick getroffen hatten, nicht weit von ihrem Cottage entfernt. In Toms Nähe verspürte Hayley eine unbeschwerte Unbefangenheit, die sie bisher nur mit Amy erlebt hatte.

Tom zog sie wieder an sich und liebkoste mit warmen Lippen ihren Nacken. „Komm mit zu mir.“

Sie wandte sich ihm zu und küsste ihn auf den Mund. „Später. Erst muss ich drei Stunden lernen. Du bist dann meine Belohnung“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Bist du gegen sieben zu Hause?“

„Heute Abend ja.“ Er strich ihr über das seidige Haar. „Ich bin von Leuten umgeben, die lernen müssen.“

„Wie geht es Jared?“

„Er lernt fleißig.“

„Wie kommt es, dass er vom Patienten zu einem Freund geworden ist?“

„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil er nicht weggehen wollte. Und jetzt habe ich ihn am Hals.“

Die brummige Antwort täuschte sie nicht. Hayley sah Tom an, wie viel ihm an Jared lag. „Und die wahre Geschichte?“

„Zwei Monate bevor ich nach Perth ging, habe ich bei ihm ein Hirn-Aneurysma geclippt. Er ist ein heller Kopf, aber wie die meisten Kinder aus den westlichen Vororten hatte er kein leichtes Leben und einen Megakomplex deswegen. Vor der Operation hat er mich eher angegrunzt, als mit mir geredet.“

Sie lächelte. „Lass mich raten – du hast mit ihm geplaudert wie mit Gretel, und das hat das Eis gebrochen.“

Eine steile Falte erschien zwischen seinen dunklen Brauen. „Ich habe mit ihm gesprochen wie mit allen meinen Patienten.“

„Das glaubst du. Aber einige Patienten sind schwieriger als andere. Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt, doch du hast einen besonderen Draht zu Jüngeren.“

„Nein.“

„Doch. Bei deinen Vorlesungen für die Medizinstudenten bekommt man nur noch einen Stehplatz, wenn man nicht rechtzeitig da ist – und meistens nicht einmal das.“

„Weil sie alle nachweisen müssen, dass sie teilgenommen haben.“

Scherzhaft stieß sie ihm den Ellbogen in die Rippen. „Das ist nicht der einzige Grund, das weißt du genau. Du bist ein außergewöhnlicher Dozent, weil du mit ihnen redest, nicht zu ihnen.“

An seinem kantigen Kinn zuckte ein Muskel. „Ich würde lieber operieren.“

Sie spürte, wie verzweifelt er war, und fühlte mit ihm. „Das weiß ich, Tom, aber das ist nicht möglich“, sagte sie behutsam. „Könntest du dir nicht vorstellen, dein Wissen auf diesem Weg weiterzugeben? Du bist gern mit jungen Leuten zusammen. Sonst würdest du doch Jared nicht so oft zu dir einladen.“

Er seufzte. „Kann sein, dass ich in Jared etwas gesehen habe, das mich an mich in dem Alter erinnert hat. Das und die Tatsache, dass er fünf Straßen von dem Block entfernt wohnt, wo ich aufgewachsen bin.“

Hayley fiel wieder seine Bemerkung über ihre Kindheit ein. „Also nicht an den Northern Beaches?“

Sein raues Lachen klang hart. „So weit davon entfernt wie der Nord- vom Südpol.“

„Wo dann?“

„Derrybroke Estate.“

Davon hatte sie gehört, war aber nie dort gewesen. „Wie ist es da?“

„Hohe Arbeitslosigkeit, die höchste der Stadt. Ein Nährboden für Kriminalität und Drogengeschäfte. Die meisten Kinder verlassen mit sechzehn die Schule.“

Hayley stellte sich Eltern vor, die jedes Opfer brachten, um ihrem intelligenten Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen. „Studien haben bewiesen, dass finanzielle Umstände keine Rolle spielen, solange in einer Familie viel Wert auf Bildung gelegt wird.“

„Davon weiß ich nichts“, erwiderte er kalt. „Dass ich die Schule nicht abgebrochen habe, hat nicht das Geringste mit meiner Familie zu tun.“

„Oh, ich dachte …“

„Vergiss es.“

„Tut mir leid. Aber trotzdem hast du nicht nur die Schule abgeschlossen, sondern dir auch eine beispiellose Karriere aufgebaut.“

„Hatte.“

„Dass sie inzwischen anders verläuft, heißt nicht, dass sie weniger wert ist.“

„Wenn du es sagst.“

Er glaubte ihr nicht, und Hayley wünschte, sie könnte ihm begreiflich machen, was für ein wundervoller Dozent er war. „Erzähl mir von früher. Bitte.“

Der dunkle Bartschatten verstärkte noch seine finstere Miene. Hayley fragte sich, ob Tom überhaupt weiterreden würde.

„Du lässt nicht locker, wie?“, sagte er, als sie die Hoffnung fast schon aufgegeben hatte.

„Nein.“

Er seufzte. „Mit vierzehn habe ich die Schule gehasst. Ich langweilte mich zu Tode. Damit war ich auf dem besten Weg in den Jugendstrafvollzug. Ironischerweise hat mich meine erste große Untat davor bewahrt, dass es ernst wurde.“

Sie wollte alles wissen, aber sie ahnte, dass sie ihn nicht drängen durfte, und wartete stumm.

„Eines Abends erwischte mich unser Fußballtrainer auf einem Vordach der Schule. Ich hatte Farbdosen in der Hand und wollte gerade Graffiti auf die Fenster sprühen. Statt die Polizei zu rufen, brachte er mich dazu, zum Training zu gehen. Ich hasste ihn dafür, und gleichzeitig wollte ich dazugehören. Mick ließ sich von meiner großen Klappe nicht beeindrucken und gab mir eine Chance. Irgendwann hatte ich in der Mannschaft Erfolg, und von da an packte mich der Ehrgeiz. Ich schwänzte keine einzige Unterrichtsstunde mehr.“

„Aber das verstehe ich nicht. Bei deiner Intelligenz … warum hat dich die Schule angeödet?“

Er schnaubte verächtlich. „Du warst auf einer Privatschule für Mädchen, oder?“

Der anklagende Ton kränkte sie. „Ja, aber …“

Tom hob die Hand. „Komm mir nicht mit ‚aber‘. Du hattest Lehrer, die sich um dich kümmerten. Eltern, denen Bildung wichtig war, und eine gepflegte, gut ausgestattete Schule. Bei uns war Vandalismus an der Tagesordnung, Geräte waren meistens kaputt oder nicht mehr vorhanden, für viele Unterrichtsmaterialien fehlte das Geld.“

Schuldbewusst und verärgert zugleich richtete sie sich auf. Was wusste er schon? Als hätte sie eine idyllische Kindheit gehabt … „Ein Lehrer hat sich aber um dich gekümmert“, antwortete sie fast trotzig.

„Sogar zwei. Micks Frau Carol hat bei uns Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet. Erst viel später habe ich begriffen, was sie wirklich für mich getan haben. Wenn sie mich nach dem Fußballtraining fragten, ob ich Lust hätte, bei ihnen zu Abend zu essen, steckte in Wahrheit etwas anderes dahinter: Wir geben dir etwas Anständiges zu essen, bei uns hast du Ruhe zum Lernen und Hilfe, falls du sie brauchst. Carol und Mick sind der Grund, dass ich die zwölfte Klasse schaffte und Medizin studieren konnte. Das und mein brennender Wunsch, den Bastarden zu beweisen, dass sie falschliegen.“

Tom war ein beherrschter, kultivierter Mann. Nur manchmal brachen Wut und Schmerz hervor, als wäre alles nur hauchdünne Fassade. Hayley verstand jetzt auch, warum. Und er hatte immer noch nicht von seinen Eltern erzählt. Sie legte ihm die Hand auf die Brust, spürte sein Herz unter ihren Fingern. „Welche Bastarde?“

„Jeder, der mir zu verstehen gegeben hat, dass ich es zu nichts bringen werde, weil meine Mutter öfter betrunken als nüchtern ist. Sie fing an zu trinken, als mein Vater sie verließ – da war sie siebzehn und allein mit einem Baby. Er blieb nicht der einzige Mann, der ihre Liebe irgendwann nicht mehr wollte. Und dann griff sie wieder zur Flasche.“

„Mick und Carol sind sicher sehr stolz auf dich.“

Ein Schatten verdunkelte seine grünen Augen. „Mick hat nicht mehr erlebt, dass ich Arzt geworden bin. Er starb an einem aggressiven Hirntumor, als ich im fünften Studienjahr war.“

„Oh, das tut mir leid. Deshalb hast du dich für Neurochirurgie entschieden, oder?“

Er nickte, in Erinnerungen versunken. Plötzlich lächelte er. „Erst wegen Mick und dann wegen des Ferraris.“

Hayley lächelte auch und schob ihre Hand in seine. „Um es den Bastarden zu zeigen?“

Tom umschloss ihre Finger. „Genau.“

„Und jetzt gibst du Jared das zurück, was du von Mick und Carol bekommen hast.“

Er schüttelte den Kopf. „Carol ist eine Seele von Mensch, geboren, um zu helfen. Aber ich bin kein Heiliger, Hayley. Ich habe Jared nicht unter meine Fittiche genommen wie Mick damals mich. Jared hat mich in Perth ausfindig gemacht und ist danach nicht mehr von meiner Seite gewichen.“

„Und jetzt hilfst du ihm. Vielleicht hat er nach dir gesucht, weil du sein Vertrauen gewonnen hast, als er krank war.“

Aufrichtige Bewunderung schwang in Hayleys Stimme mit, aber Tom wollte es nicht hören. Ihr Gespräch hatte Erinnerungen an seine Mutter hervorgeholt, die er lieber schnell wieder vergessen würde. Weil sie ihn an ein Leben erinnerten, das er längst hinter sich gelassen hatte. Hayley hatte keine Ahnung, was bittere Armut mit einem machen konnte. Sie nagte am Selbstbewusstsein und zersetzte Hoffnung wie ein langsam wirkendes Gift, bis man sich von Alkohol und Drogen verlocken ließ, dem Elend wenigstens zeitweise zu entfliehen.

Aber es war eine trügerische Flucht. Zum Schluss wollte seine Mutter nur noch sterben. Nichts war ihr wichtiger, so wie ihr im Leben nur die Flasche etwas bedeutet hatte. Mehr als ihr eigener Sohn.

Fröstelnd schüttelte Tom die Gedanken ab. Erst dann bemerkte er, dass der Wind aufgefrischt hatte. Er griff nach seinem Stock. „Wie sieht der Himmel aus?“

„Stahlgrau“, antwortete sie schaudernd. „Ganz schön unheimlich.“

Er hörte, wie sie hastig Sachen in den Picknickkorb warf, und spürte, dass die Sonne verschwand. Die Temperatur sank schlagartig, Böen peitschten die Luft. Toms Augen fingen an zu tränen, als ihm der heulende Wind feine Staubkörnchen hineintrieb.

Er stand auf und wünschte, er würde sich in dieser Gegend besser auskennen. „Wir müssen uns unterstellen.“

„Mein Haus ist nur zwei Blocks entfernt.“

„Ich kenne solche Stürme. So viel Zeit haben wir nicht.“

Wie aufs Stichwort fing es an zu schütten.

„Au!“ Hayley packte seine Hand. „Seit wann tut Regen weh?“

„Wenn es Graupelschauer sind. Ich war 1999 hier in Sydney, als die Stadt den teuersten Hagelsturm seiner Geschichte erlebt hat. Und das hier fühlt sich genauso an.“ Er musste brüllen, um den Wind zu übertönen. „Bring uns zum nächsten Unterstand. Sofort!“

Ein krachender Donnerschlag folgte, und Hayley schrie unwillkürlich auf. „Entschuldigung.“ Sie legte sich seine Hand auf ihre Schulter. „Hundert Meter von hier steht ein Konzertpavillon.“

Als sie losgingen, verwandelte sich der Graupel in Hagel – Steine aus scharfkantigem Eis, die auf sie niederprasselten. Es waren die schmerzhaftesten hundert Meter, die er je zurückgelegt hatte, und Tom verfluchte wieder einmal, dass er blind war. Ohne ihn hätte Hayley laufen können, um sich vor dem tosenden Sturm schneller in Sicherheit zu bringen.

„Drei Stufen!“, rief Hayley gegen das Knattern der Hagelkörner auf dem metallenen Dach des Pavillons an.

Aber auch hier waren sie kaum geschützt. Die Wände waren gerade einmal hüfthoch, sodass der Wind die Hagelkörner durch den Pavillon peitschte.

„Wenn wir uns hinsetzen, mit dem Rücken gegen die Wand, haben wir wenigstens ein bisschen Schutz.“ Sie führte seine Hand, bis er die Holzbretter unter den Fingern spürte.

Tom ließ sich vorsichtig auf den nassen, eisigen Betonboden nieder und verschränkte die Beine im Schneidersitz.

Wieder ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern, diesmal direkt über ihnen, und Hayley schlang ihm so heftig die Arme um den Kopf, dass Tom um sein Genick fürchtete. Er streckte die Hände aus und fühlte regennasse Haarsträhnen unter seinen Handflächen. „Ich nehme an, du magst kein Gewitter.“

Sie zitterte am ganzen Körper. „Wahrscheinlich war ich in meinem letzten Leben ein Hund“, stieß sie zähneklappernd hervor.

„Hol die Picknickdecke heraus, die gibt noch ein bisschen mehr Schutz.“

„Okay.“ Sie klang zögerlich, wandte sich dann aber ab.

So wie sie an den Verschlüssen nestelte, schienen ihre kalten Finger ihr nicht zu gehorchen. Dann folgte ein saftiger Fluch. Er hatte Hayley nie fluchen hören, nicht einmal bei der schwierigen Operation an Gretel. Also musste sie große Angst haben.

Keine Minute später kroch sie auf seinen Schoß und zitterte immer noch, während sie die Decke um ihrer beider Schultern wickelte. „Ich hasse das.“

„Solche Stürme gehen schnell vorbei.“ Er strich ihr über das nasse Haar. Ein ungewohnt starkes Gefühl, sie zu beschützen, erfüllte ihn. Tom zog die Decke über ihre Köpfe.

Scharf wie Katzenkrallen, gruben sich ihre Fingernägel in seine Kopfhaut. „Verdammt, Hayley, was machst du da?“

Sie antwortete nicht, aber ihre Brust hob und senkte sich heftig, und dann riss Hayley die Decke weg. Keuchend schnappte sie nach Luft.

Er streckte die Hand nach der Decke aus. „Wir brauchen den Schutz.“

„Du kannst sie haben.“ Sie warf sie ihm über den Kopf.

Ihre fast panische Reaktion gab ihm zu denken. „Hast du zur Angst im Dunkeln auch noch Platzangst?“

Einen Moment lang schwieg sie. „Es lässt nach“, sagte sie schließlich und griff nach seiner Hand. „Lass uns zu mir gehen, bitte.“

Der flehentliche Unterton ging ihm nahe. Tom stand sofort auf. „Okay, zeig mir den Weg.“

„Hier liegen Hagelkörner so groß wie Cricketbälle!“, rief sie aus, als sie die Stufen hinuntergegangen waren.

Nach fünf Minuten, in denen er überfluteten Abflussrinnen ausgewichen und einen mit Hagel übersäten Bürgersteig überwunden hatte, verkündete Hayley: „Hier müssen wir links, und dann sind wir da.“

Regen rann ihm in den Nacken, und allmählich kroch die Kälte in alle Glieder. So viel zu Sydneys milden Wintern.

Aber der Sturm hatte auch etwas Gutes. Er bot ihm die beste Gelegenheit, Hayley ins Bett zu locken. Schließlich musste er sich irgendwie aufwärmen, während seine Sachen auf der Heizung trockneten. Danach würde er sich ein Taxi rufen und sie in Ruhe lernen lassen.

Hayley keuchte auf, blieb abrupt stehen, und Tom stieß mit ihr zusammen. Im selben Moment floss Wasser über seine Füße. „Steht dein Haus unter Wasser?“

„Ich glaube nicht. Das Wasser hat die Haustür noch nicht erreicht.“ Sie steckte den Schlüssel ins Schloss.

Tom, die Hand immer noch auf ihrer Schulter, hörte die Tür knarren, dann einen leisen Aufschrei.

„Ach, du Schande!“ Sie lief los, und dem Echo ihrer Schritte auf den Holzdielen nach zu urteilen, eilte sie einen Flur entlang. Wieder ein verzweifelter Ausruf.

„Hayley?“ Tom tastete sich mit seinem Stock vorwärts. „Was ist passiert?“

„Das Dach ist eingestürzt, fast alle Fenster sind geborsten, und mein Haus ist voller Hagel“, sagte sie matt.

Tom dachte an den Milliardenschaden, den der Sturm damals in der Großstadt angerichtet hatte. Er zog sein Handy aus der Tasche. „Zeig mir, wo ich mich hinsetzen kann. Ich rufe den Katastrophenschutz an, damit jemand kommt und dein Dach mit einer Plane abdeckt. Und dann hänge ich mich in die Warteschleife bei deiner Versicherung. Die Leitungen werden alle belegt sein, es könnte also eine Weile dauern, bis ich durchkomme. Inzwischen kannst du die Hagelkörner wegfegen.“

„Wenn ich wüsste, wo ich anfangen soll.“ Sie klang verzweifelt. „Auf dem Fußboden ist mehr Putz als an der Decke, und ich kann den Himmel sehen!“

Nicht gut. Tom fuhr sich durchs Haar. „Hier kannst du nicht bleiben, auch mit einer Plane nicht.“

Sie zog einen Stuhl heran. „Was für ein Chaos! Das hat mir gerade noch gefehlt. Meine Eltern wohnen zu weit weg, da kann ich nicht unterschlüpfen. Also muss ich mir wohl ein Motel suchen.“

„Das wird nicht einfach werden. Sicher bist du nicht die Einzige, die auf einmal kein Dach mehr über dem Kopf hat.“

„Versuchst du gerade, mich aufzumuntern?“

Tom konnte sich lebhaft vorstellen, wie es um sie herum aussah. Und was für ein trauriges Gesicht Hayley gerade machte. Ohne lange nachzudenken, sagte er: „Pack deine Bücher und deinen Computer ein und was du an Kleidung brauchst. Du kannst bei mir wohnen.“

Was zum Teufel soll das? Du lebst allein. Du hast immer allein gelebt.

Ich kann sie nicht sich selbst überlassen. Es ist doch nur für ein paar Tage. Für ein paar Tage wird es gut gehen.

Ihre weiche Hand berührte seine Wange, und im nächsten Moment spürte er ihre Lippen auf dem Mund. „Danke, Tom. Ich bin so froh, dass du hier bist und mir sagst, was ich tun soll. Ich glaube, ich würde sonst durchdrehen.“

„Andere herumkommandieren kann ich gut.“ Es gelang ihm, ein verwegenes Lächeln aufzusetzen, während er sich in Wirklichkeit schrecklich nutzlos fühlte. Früher wäre er mit aufs Dach gegangen, hätte die Plane festgezurrt oder sich einen Besen geschnappt, um Putzbrocken aufzufegen. Jetzt blieb ihm nur, ein paar Anrufe zu erledigen und Hayley für eine Zeit lang Unterschlupf zu gewähren.

Hilfe, die kaum der Rede wert war.

Tom erwachte jäh und fragte sich, was seine Beine aufs Bett presste. Dann stieg ihm der Duft von Sommerblumen in die Nase, und er erinnerte sich. Der Hagelsturm hatte Hayleys Haus unbewohnbar gemacht, und nun lag sie in seinem Bett.

Er streckte den Arm aus, berührte die Matratze. Leer. Tom tastete weiter, streifte ihre Schulter und reimte sich zusammen, dass Hayley quer im Bett schlief. Er zog seine Beine unter ihrem Körper hervor, entschlossen, sich umzudrehen und sofort weiterzuschlafen.

Da fiel ihm der Schatten an der Tür auf. Tom blinzelte, sah wieder hin. Der Schatten verschwand nicht, was bedeutete, dass es im Zimmer nicht so dunkel war, wie es mitten in der Nacht sein sollte. Hatte er so fest geschlafen, dass es schon Morgen war?

Spontan griff er nach dem sprechenden Wecker, hielt jedoch inne, weil er Hayley nicht wecken wollte. Stattdessen suchte er auf dem Nachttisch nach seiner Uhr, stieß dabei an die neue Lampe und ärgerte sich jetzt, dass er sich von Gladys hatte überreden lassen, die kaputte zu ersetzen. „Au!“ Hastig zog er die Finger weg. Die Lampe war unerwartet heiß.

Hayleys Beine zuckten, stießen gegen seine. Tom setzte sich auf, jetzt hellwach.

Orientierungslos und verwirrt zu sein, das passierte ihm draußen, aber nie in seinem Apartment. Hier fühlte er sich sicher. Er wusste, wo was stand, und die Schatten, die sich je nach Tages- oder Nachtzeit bildeten, waren ihm vertraut. Er kannte sämtliche Geräusche, vom Rauschen in den Leitungen bis zu dem metallischen Rütteln, wenn um vier Uhr morgens der Kühlschrank ansprang.

Und an der Tür war kein Schatten gewesen, als Tom einschlief. Auch wusste er genau, dass die Lampe nicht an gewesen war. Als sie ins Bett gingen, hatte Hayley zwar vorgeschlagen, das Licht anzuknipsen, aber er hatte gedacht, es sei nicht so wichtig, und sie mit Küssen abgelenkt. Verführerischen Küssen auf ihren Hals und tiefer … Tom lächelte. Sie war so leicht abzulenken, und er genoss es, wie empfänglich sie jedes Mal auf seine Berührungen reagierte.

Die Lampe ist heiß.

Also war sie schon länger an. Tom stand auf, zog sich Boxershorts über und ging zur Tür. Es dauerte nicht lange, bis er den Lichtschalter ertastet und herausgefunden hatte, dass er nach unten zeigte. Seltsam. Tom hatte angenommen, dass ihre Angst vor Dunkelheit nur auftrat, wenn sie wach war und sich in fremder Umgebung aufhielt. Seine Wohnung war ihr vertraut, warum schlief Hayley dann bei voller Beleuchtung? Kein Wunder, dass sie oft so ruhelos war.

Er löschte das Licht, ging zum Bett zurück und knipste die Lampe aus. Kaum hatte er sich hingelegt, drängte sich Hayley mit einem Aufstöhnen an ihn, ihre Beine zuckten heftig. Es war kein lustvolles Stöhnen, nein, es hörte sich eher an, als hätte sie Schmerzen.

Tom legte ein Bein auf ihre, um sie zu beruhigen, und zog Hayley an sich. Sie war schweißgebadet.

Er berührte ihren Kopf, wollte ihr über die Schläfe streichen, aber Hayley wand sich in seinem Arm. Im nächsten Moment traf ihn ihr Ellbogen am Kinn. Tom fluchte.

„Amy!“, schrie sie gellend, wurde steif wie ein Brett, während ihre Brust sich hob und senkte, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

Tom rüttelte sie sanft. „Hayley, wach auf, du träumst.“

Er hörte sie keuchen und fühlte, wie sie am ganzen Körper bebte. Dann war sie aus dem Bett, ihre nackten Füße klatschten auf den Fußboden. Schließlich das Klicken des Lichtschalters.

„Hayley, was ist los?“

Sie bekam kaum Luft, ihre Beine zitterten. Aber sie konnte nicht laut aussprechen, was sie seit Jahren wusste – der immer wiederkehrende Albtraum drohte, außer Kontrolle zu geraten, die Angst fraß sie langsam auf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

„Nichts. Ich habe nur schlecht geträumt. War ja auch ein aufregender Tag.“

Tom wandte den Kopf, richtete die tiefgründigen grünen Augen auf sie. „Erzähl mir nichts, Hayley. Es hat mit deiner Angst vor Dunkelheit zu tun, stimmt’s?“

Ihr wurde die Kehle eng. In all der Zeit hatte sie ihre Ängste vor anderen verborgen. Und jetzt hatte ein blinder Mann ihr Geheimnis entdeckt.

Sag es ihm.

Nein. Jene Nacht im Traum wieder und wieder zu erleben, war eine Sache. Aber wenn sie darüber redete, würde sie wahrscheinlich endgültig durchdrehen.

Vielleicht hilft es, es auszusprechen.

Bestimmt nicht.

„Weißt du noch, unsere Abmachung? Wir müssen nicht jede Frage beantworten.“ Sie ging wieder ins Bett und kuschelte sich an ihn. „Lass uns weiterschlafen.“

Er schlang die Arme um sie, und Hayley ergab sich dem wundervollen Gefühl der Geborgenheit. Das warme gelbe Licht der Deckenlampe beruhigte sie, und ihr fielen die Augen zu.

„Jedes Kind fürchtet sich im Dunkeln, aber als Erwachsener hat man das meistens überwunden. Warum du nicht? Was ist passiert?“

„Was soll passiert sein? Ich bin eben die Ausnahme von der Regel.“

„Dann würdest du bei einem kleinen Nachtlicht schlafen, aber nicht unter dem taghellen Schein von drei Sechzig-Watt-Birnen. Ich lebe im Halbdunkel, Hayley. So furchterregend ist es gar nicht.“

Schaudernd verdrängte Hayley die Vorstellung.

Tom strich mit warmen Lippen über ihre Schulter. „Wer ist Amy?“

Nein! Sie schlug die Bettdecke zurück. „Schlaf weiter, Tom.“

Hayley streifte ihr Nachthemd über und lief in die Küche. Unterwegs drückte sie jeden Lichtschalter, den sie erreichen konnte, bis die gesamte Wohnung strahlte wie ein Weihnachtsbaum. Mit zitternden Händen füllte sie den Wasserkocher, stellte ihn an, riss Schranktüren auf, schlug sie frustriert wieder zu.

„Was suchst du?“ Tom stand hinter ihr, in Boxershorts und einem T-Shirt, das sich an seine breite muskulöse Brust schmiegte wie eine zweite Haut. Er sah aus wie ein Model für Männerunterwäsche.

Was ihre Panik auch nicht milderte. „Kamillentee, Pfefferminztee, irgendeinen verdammten Tee!“

Um seinen Mundwinkel zuckte ein Lächeln. „Habe ich nicht.“

Hayley war drauf und dran, in Tränen auszubrechen. „Warum nicht?“

Er streckte den Arm aus, berührte ihren und zog Hayley an sich. „Was hältst du von heißer Milch mit Brandy? Die Schwestern schwören darauf, um verwirrte alte Damen zu beruhigen, die versuchen, über ihr Bettgitter zu klettern.“

„Ich bin nicht verwirrt!“, fuhr sie ihn an. Tom hatte einen wunden Punkt getroffen, ihre größte Angst von allen – verrückt zu werden.

Sanft strich er ihr übers Haar. „Sonst nicht, aber heute Nacht schon. Und ich vermute, dass du so etwas schon öfter erlebt hast. Macht es dich nicht allmählich kaputt?“

Oh ja. Der mitfühlende, fast liebevolle Unterton brach etwas in ihr auf. Hayley fing an zu weinen. „Ich bin so müde, Tom. So unglaublich müde.“

Tom legte beide Arme um sie. Sie spürte seine Lippen, den zärtlichen Kuss, den er ihr aufs Haar drückte, und die Kraft, die von ihm ausging. Hayley hätte für immer so stehen bleiben können. So beschützt hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt.

Schließlich ließ er die Arme sinken und sagte: „Setz dich aufs Sofa, ich bringe dir eine warme Milch.“

Lass nur, ich mache das schon, lag ihr auf der Zunge, aber er wirkte so entschlossen, dass sie die Worte wieder hinunterschluckte. Hayley kuschelte sich in eine Sofaecke und deckte sich mit einer leichten Fleecedecke zu. Und dann traf sie eine Entscheidung.

Tom nahm den Becher mit der heißen Milch in die Hand. Die Milch zu erhitzen, war noch einfach gewesen. Schwierig wurde es, sie zu Hayley zu tragen, ohne sie zu verschütten. Wenn er die Küche verließ, waren es zwölf Schritte bis zur Couch. Er ging los, versuchte, ruhig und entspannt vorwärts zu gehen. „Wo bist du?“

„Auf der rechten Seite der Couch.“

Er wechselte die Richtung und zählte die nächsten fünf Schritte. Wenigstens klang ihre Stimme kräftiger als vor ein paar Minuten, und bisher hatte er sich keine heiße Milch über die Finger gegossen. Es geschahen noch Wunder. Tom streckte die Hand mit dem Becher aus. „Bitte.“

„Vielen Dank.“ Ihre Finger streiften seine, als sie ihm die Milch abnahm. Gleich darauf fing Hayley an zu husten. „Wie viel Brandy ist hier drin?“

Anscheinend zu viel. Er ärgerte sich, dass er keine Vorstellung davon hatte, wie viel er hineingegossen hatte. Er hatte ihr etwas Gutes tun wollen. Stattdessen musste sie husten wie eine Asthmatikerin! Tom setzte sich zu ihr. „Erzähl mir von Amy.“

Ihr Seufzer kam aus tiefster Kehle. „Amy ist meine …“ Sie schluckte, dann stieß sie hervor: „Amy war meine Zwillingsschwester. Sie starb ganz plötzlich, als ich elf war.“

„Das tut mir leid.“

„Ja.“ Sie klang traurig und resigniert. „Es ist schon lange her. Zu lange.“

Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden. „Dadurch wird es nicht leichter.“

„Ich vermisse sie immer noch. Ich weiß, dass das nicht sein kann, aber so ist es.“

Hayley schwieg, und er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen. Dann hörte er sie tief Luft holen.

„Elf Jahre meines Lebens war ich glücklich. Amy war meine beste Freundin, mein Gewissen und meine zweite Hälfte. Manches brauchten wir nicht einmal auszusprechen, wir wussten einfach, was der andere dachte. Einmal war sie mit Dad los, um ein Geburtstagsgeschenk für mich zu kaufen. Sie kam mit dem gleichen nach Hause, das ich für sie ausgesucht hatte.“

„Wart ihr eineiige Zwillinge?“

„Ja.“ Sie schwieg kurz. „Ich bin zwanzig Minuten älter als sie und habe meine Verantwortung als große Schwester sehr ernst genommen.“

Er lächelte. „Kann ich mir vorstellen.“

„Willst du damit sagen, dass ich herrisch bin?“

Er streckte die Hand aus, bis er ihr Bein berührte, und drückte es sanft. „Du weißt, was du willst, und das ist kein Verbrechen.“

„Ich glaube, ich habe mein Leben auch für Amy gelebt.“ Ihre Stimme klang brüchig, und dann nahm Hayley seine Hand, klammerte sich buchstäblich daran. „Eines Abends kroch sie zu mir ins Bett. Mir ist so komisch, sagte sie. Wir waren auf einer Geburtstagsparty gewesen und hatten ziemlich viel Süßkram und Chips gegessen. Mum hat immer großen Wert auf gesunde Ernährung gelegt, wir wollten sie nicht aufregen. Also habe ich Amy in die Arme genommen, und wir sind eingeschlafen. Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht, um 3.03 Uhr. Amy lag immer noch neben mir, aber …“

Sie quetschte ihm fast die Finger, doch Tom ließ sich nichts anmerken. Endlich verstand er ihre panische Angst vorm Dunkeln. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und ändern, was passiert war – dass sie mit ihrer toten Schwester im Arm aufgewacht war. Tom hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie sanft.

„Sie ist an bakterieller Meningitis gestorben, und ich habe mich nicht einmal angesteckt.“ Ihre Stimme drohte zu kippen, dann fing Hayley sich wieder. „Lange Zeit wollte ich es nicht wahrhaben, dass sie tot ist. Meine Eltern waren untröstlich, und ich tat alles, um ein gutes Kind zu sein und ihnen nicht noch mehr Kummer zu machen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich noch am Leben war und sie nicht. In der Schule war ich fleißig, ich ging nicht auf Partys, hatte keinen Freund. Nachts konnte ich nicht schlafen. Irgendwann habe ich es mir angewöhnt, tagsüber hier ein Viertelstündchen, dort eine halbe Stunde zu schlafen.“ Sie lachte hohl. „Ich fand heraus, dass ich weniger Albträume habe, wenn ich bei voller Beleuchtung schlafe.“

„Du bist chronisch erschöpft.“ Tom streichelte ihre Hand. Sie ist eine intelligente Frau und eine erstklassige Ärztin, dachte er. Aber sie hat noch nicht erkannt, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. „Mich stört es nicht, wenn du bei Licht schläfst. Doch im Grunde hilft es dir nicht weiter.“

Sie ließ seine Hand los. „Ich weiß schon, was für mich am besten ist.“

„Hayley, du hast mir selbst erzählt, wie fertig du bist. Wenn du dich damit nicht befasst, wirst du eines Tages völlig zusammenbrechen.“

„Ach, jetzt bist du plötzlich Psychiater?“

Ihre sarkastische Antwort traf ihn, aber er blieb ruhig. „Natürlich nicht. Und selbst wenn ich noch operieren könnte, an deinem Zustand könnte ich nichts ändern.“ Tom schloss einen Moment die Augen, sammelte Kraft, um ihr etwas zu erzählen, das er noch keinem Menschen anvertraut hatte.

Du vertraust nie jemandem etwas an.

Aber er wusste auch, dass er Schwäche zeigen musste, um ihr zu helfen. „Nach dem Unfall wollte ich lieber tot sein als blind. Ich konnte nicht mehr sehen, aber wenn ich die Augen schloss, durchlebte ich in allen Einzelheiten, was passiert war – den Schock, als der Wagen mich rammte, den kalten Luftzug, als ich auf meinem Rad durch die Luft flog, das schreckliche Geräusch, als mein Kopf auf den Asphalt prallte. All das stieß mich in ein tiefes schwarzes Loch, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Widerstrebend entschied ich mich schließlich zu einer Hypnosetherapie.“

„Im Ernst? Das kann ich mir bei dir kaum vorstellen!“

„Ich auch nicht, aber es war immerhin besser, als mit jemandem über meine Gefühle zu reden, der keine Ahnung hatte, wie es in mir aussah.“

Auf einmal war es ihm unendlich wichtig, dass sie sich professionelle Hilfe suchte. Er wollte, dass es ihr gut ging, dass sie ihr Leben wieder richtig genießen konnte. Tom beugte sich zu ihr, atmete den zitronigen Duft ihrer Haare ein. Mit dem Zeigefinger streichelte er liebevoll ihre Wange. „Versprich mir, dass du es versuchen wirst.“

Er spürte, dass sie zögerte, voller Zweifel und Bedenken. Doch dann legte sie ihre Stirn an seine und flüsterte: „Danke, dass du dich um mich sorgst.“

Tom wollte schon sagen „Gern geschehen“, aber ihm blieben die Worte im Hals stecken. Etwas in ihrer Stimme hatte ihn stark berührt. Er versuchte, das ungewohnte Gefühl abzuschütteln, sich zu sagen, dass er ihr nur helfen wollte wie einem Patienten oder einem guten Freund. Es gelang ihm nicht. Hayley war keine Patientin, und eine Freundin wie sie hatte er noch nie gehabt.

Sie ist etwas Besonderes.

Der Gedanke versetzte Tom in Unruhe.