8. KAPITEL

Hayleys Finger glitten über die Tasten von Toms Flügel, während sie sich in den Klängen der Chopin-Sonate verlor. Sobald ihr Haus wieder bewohnbar war, würde sie sich ein Klavier kaufen. In den letzten zehn Jahren war sie oft umgezogen, da hatte es keinen Sinn gehabt, sich eins anzuschaffen. Doch in den letzten Tagen, hier bei Tom, hatte sie festgestellt, wie gut ihr die Musik tat.

Sie spürte Toms Hand auf ihrer Schulter und lehnte sich gegen ihn. Sie liebte seine Kraft, seine Stärke, die sich bei jeder Berührung auf sie übertrug. Er war schon vor ein paar Minuten nach Hause gekommen, aber sie hatte schnell festgestellt, dass er eine bestimmte Routine hatte und erst etwas Zeit für sich brauchte. Deshalb hatte sie einfach weitergespielt.

Wie immer sah er fantastisch aus, heute in einem blau-weiß karierten Hemd, marineblauen Pulli und hellgrauen Chinos.

Sie hatte sich gewundert, dass er immer tadellos gekleidet war, während seine Haare meistens zerzaust und ungekämmt wirkten. Seit sie bei ihm lebte, wusste sie, warum. Er kaufte sämtliche Kleidung bei einem bestimmten Herrenausstatter, und seine Haushälterin sorgte dafür, dass die Sachen farblich sortiert im Schrank lagen oder hingen.

Lächelnd sah sie zu ihm hoch. „Bevor ich es vergesse, Carol hat angerufen. Sie ist wieder zu Hause und hat ein baldiges Abendessen vorgeschlagen.“

„Wenn du mir sagst, wann du keinen Dienst hast, kann ich ihr nachher ein paar Termine nennen.“

Freudig überrascht bekam Hayley sogar ein bisschen Herzklopfen, weil er sie mit der Frau bekannt machen wollte, die für ihn mehr eine Mutter gewesen war als seine leibliche. „Gern. Du bist früh zurück.“

Er küsste sie aufs Haar. „Und du bist nicht beim Lernen.“

„Dein Scharfsinn ist bewundernswert, Sherlock.“

„Du machst dich über mich lustig“, sagte er lächelnd.

„Nein, überhaupt nicht.“

Er ließ ihr Haar durch seine Finger gleiten. „Eine schlechte Lügnerin bist du auch, Hayley. Deine Stimme verrät dich. Hattest du einen schlechten Tag?“

Angefangen hatte es mit einem jungen Motorradfahrer, der sich um einen Baum gewickelt hatte und ihr auf dem OP-Tisch beinahe verblutet wäre. Und bei ihrem letzten Eingriff sollte sie nur Verwachsungen im Bauchraum beseitigen, eine Routineoperation. Leider musste Hayley feststellen, dass das Peritoneum der Patientin mit Krebszellen durchsetzt war. Sie hatte sie wieder zugenäht und musste ihr zwei Stunden später mitteilen, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben hätte. Hinterher hatte sie noch ihre zweite Sitzung bei der Hypnosetherapeutin.

Ohne Toms sanftes Drängen wäre Hayley nicht einmal zum ersten Termin gegangen. Aber dann war es gar nicht so schrecklich wie befürchtet. Heute hatte sie sich danach sogar seltsam leicht gefühlt.

Wie schon öfter, seit sie bei Tom wohnte. Mit ihm sprach sie über ihren Tag, oder sie redeten über alles Mögliche, von medizinischen Themen bis hin zu Politik oder Büchern. Was Literatur betraf, lagen ihre Geschmäcker Welten auseinander, aber es störte Hayley nicht. Im Gegenteil, sie genoss die Diskussionen. Seit Langem hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt, geschweige denn, solche Gedanken mit einem Freund oder einer Freundin geteilt.

Jedenfalls nicht als Erwachsene.

Oder als Teenager. Nach Amys Tod hatte sie sich niemandem mehr anvertraut und auch nicht diese innige, starke Verbindung zu einem anderen Menschen gespürt. Aber jetzt mit Tom, da … fühlte es sich richtig an.

Sie legte ihre Hand auf seine. „Es war wirklich ein furchtbarer Tag. Wie hast du das erraten?“ Sie rückte ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen, und er setzte sich neben sie. Als er ihr die Hand aufs Bein legte, durchrieselte sie ein erregendes Prickeln.

„Dachte ich’s mir.“ Er lächelte sie an. „Du trägst eine Trainingshose, alt und verwaschen, vermute ich. So etwas zieht man an, wenn man sich wohlfühlen möchte.“

Verblüfft blickte sie ihn an. Seine Kombinationsfähigkeit war manchmal schon unheimlich.

Tom küsste sie auf den Mund. „Apropos wohlfühlen … Kannst du bitte versuchen, Sachen aufzuheben und dorthin zu legen, wo sie hingehören, während du hier wohnst, damit ich mir nicht die Beine breche?“

Er war so großzügig. Deshalb fiel es ihr schwer, ihm von ihrem Telefonat vorhin zu erzählen. „Die Versicherung hat angerufen. Sie übernehmen die Kosten, aber sie finden keine Handwerker, jedenfalls nicht so schnell.“ Sie holte tief Luft. „Es könnte einen Monat und länger dauern, bis mein Haus wieder bewohnbar ist.“

Zuerst sagte er nichts. Bedauerte er sein Angebot schon? Da knuffte er sie in den Arm. „Wahrscheinlich werde ich die Zeit brauchen, um dir etwas Ordnung beizubringen“, neckte er sie.

„Hey! So schlimm bin ich nun auch wieder nicht.“

„Sogar Gladys hat das Chaos im Gästezimmer erwähnt.“

„Gladys muss zu allem ihren Senf dazugeben.“

„Stimmt, aber ich kannte sie schon, als ich noch nicht blind war, und weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann.“

Es war bewundernswert, wie sehr er auf seine Unabhängigkeit achtete. Hayley hatte sich zwar noch nicht angewöhnen können, ordentlicher zu sein, aber dafür hatte sie schnell gelernt, ihm nur zu helfen, wenn es unbedingt nötig war. Normalerweise draußen. Wenn sie zu Hause waren, vergaß sie, dass er blind war – hier war er einfach Tom.

Klug, wahnsinnig attraktiv, auf charmante Weise ironisch und unglaublich fürsorglich, auch wenn er Letzteres nie zugeben würde. Bei ihm hatte sie das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, bei ihm fühlte sie sich sicher. Die vergangenen zehn Tage waren die schönsten Tage ihres Lebens gewesen. Sie liebte es, hier bei ihm zu sein.

Du liebst ihn.

Nein, unmöglich. Wir sind gute Freunde.

Es ist viel mehr als das, und das weißt du auch. Spürst du nicht, dass die Leere in deinem Herzen verschwunden ist? Deshalb warst du traurig, als er dich vernünftig genannt hat.

Hayley vergaß für einen Augenblick, weiterzuatmen. Ja, sie hatte sich in Tom verliebt. Es war einfach passiert.

Bist du sicher, dass es nicht nur Lust ist?

Nein, dies war anders. Nicht das heiße, unbändige Verlangen, wenn sie miteinander schliefen, sondern ein wärmendes Glücksgefühl, das ihr ein verträumtes Lächeln auf die Lippen zauberte.

Tom begann mit der rechten Hand die ersten Takte von „Heart and Soul“ anzuschlagen, und automatisch spielte sie die Bassnoten dazu. Die bekannte Melodie weckte Erinnerungen, aber der gewohnte Schmerz blieb aus. An seine Stelle trat leise Wehmut. „Das haben Amy und ich immer zusammen gespielt.“

„Es ist das Einzige, was ich kann.“ Er lächelte sanft, nahm ihre rechte Hand und hielt sie fest.

Ihr Herz floss über vor Liebe … und Hoffnung. Konnte es sein, dass er ihre Gefühle erwiderte?

Sie ließ die linke Hand weiter über die Tasten gleiten und genoss die wundervolle Vertrautheit, Hand in Hand mit Tom, während sie zusammen Klavier spielten.

„Warum hast du diesen herrlichen Flügel, wenn du nicht spielen kannst?“, fragte sie schließlich.

Tom ließ die Melodie verstummen. „Wenn du mit nichts aufwächst und zu Geld kommst, neigst du dazu, dir das zu kaufen, was das Kind in dir nie haben konnte.“

„Eine schicke Wohnung, ein schnelles Auto und ein Klavier?“

„Zum Beispiel.“

„Was hast du dir noch gewünscht?“

„Ich wollte mir immer einen Hund anschaffen“, meinte er nach kurzem Überlegen. „Aber ich war selten zu Hause.“

„Und deshalb hast du auch keine Klavierstunden genommen?“

„Die Leitung der Neurochirurgie am Harbour hat mir dazu keine Zeit gelassen. Wie gesagt, ich war kaum zu Hause.“

Ihr kam eine großartige Idee. „Du könntest jetzt Unterricht nehmen.“

Er ließ ihre Hand los. „Warum? Weil ich arbeitslos sein werde, wenn die Vorlesungsreihe abgeschlossen ist? Weil ich dann alle Zeit der Welt habe?“

„Nein“, sagte sie ruhig. „Aber wenn du es schon immer lernen wolltest, warum nimmst du es dir nicht einfach vor?“

Unwirsch stand Tom auf und stieß sich prompt am Flügel. Er fluchte unterdrückt. „Für mich gibt es zurzeit nur eins, das ich mir vorgenommen habe: lernen, als Blinder zu leben. Das ist mein Ziel für das kommende Jahr.“

„Du kommst bereits hervorragend zurecht. Brauchst du wirklich noch ein ganzes Jahr?“

Sein Lachen klang bitter. „Wenn ich die Echoortung beherrsche und ohne Blindenstock gehen kann, dann komme ich gut zurecht!“

Sie erhob sich und strich ihm liebevoll über den Arm. „Hast du schon einmal daran gedacht, dir einen Blindenhund anzuschaffen? Dann bräuchtest du den Stock auch nicht.“

Er schüttelte ihre Hand ab. „Nein.“

„Tom, ich will doch nur …“

Seine Lippen waren nur ein schmaler Strich, als er die Hand hob, um Hayley zu unterbrechen. „Hör zu, wir haben beide vor dem Abendessen noch zu tun. Du musst lernen, und ich muss die Notizen für meine letzten Vorlesungen in Blindenschrift übertragen.“ Damit wandte er sich ab.

Hayley zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

„Verdammte Fliege! Ich konnte die Dinger schon nicht binden, als ich noch sehen konnte. Warum muss man zum Dinner des Vizekanzlers im Smoking erscheinen?“

Tom war drauf und dran, das verhasste Seidentüchlein in die Ecke zu feuern, aber er tat es nicht, weil Hayley auf dem Bett saß und ihm zusah. In ihrer Gegenwart verspürte er das Bedürfnis, seinen Unmut zu beherrschen. Etwas, das er bisher in seinem Leben selten für nötig gehalten hatte.

Und heute Abend fiel es ihm besonders schwer. Die Aussicht, mehrere Stunden in einem Saal voller Menschen zu sitzen, machte ihn nervös. Schon wenn er nur an die Geräuschkulisse dachte.

Er hätte es nie zugegeben, aber er war froh, dass Hayley ihn begleitete. Wie wenige andere hatte sie ein sicheres Gespür dafür, wann er die ihm verhasste Hilfe brauchte und wann nicht. Nun ja, meistens. Ihr Vorschlag, einen Blindenhund anzuschaffen, war einfach absurd. Sie musste doch wissen, wie wichtig ihm seine Unabhängigkeit war.

Allerdings hätte er bei dem bevorstehenden Bankett keine andere Frau an seiner Seite haben wollen. Guy Laurent wurde in den Ruhestand verabschiedet. Tom erinnerte sich noch gut an die Vorlesungen, die er als Medizinstudent beim „Prof“, wie er von allen nur genannt wurde, gehört hatte. Aber zweifellos würden heute Abend auch gähnend langweilige Reden gehalten werden. Mit Hayley neben sich konnte er sie besser ertragen.

Hayley stand auf, und das Rascheln ihres Abendkleids beschwor erotische Bilder in seinem Inneren herauf. „Jeder Mann sieht im Smoking unglaublich sexy aus.“

Ihre rauchige Stimme streichelte seine Sinne, zusammen mit einem unwiderstehlichen Duft nach Sandelholz und Moschus. Für den Abend hatte Hayley ein schweres, verführerisches Parfum gewählt, so ganz anders als der unschuldige Sommerblumenduft, der sie sonst umgab. Toms Puls beschleunigte sich.

Er spürte Hayleys Finger am Hals, als sie ihn an den Enden der Seidenfliege zu sich heranzog, und dann ihre warmen Lippen auf seinen.

Tom schlang die Arme um ihre Taille und vertiefte den Kuss. Ihr betörender Duft stieg ihm zu Kopf, er wollte ihr das Kleid vom Leib reißen und sich in ihr verlieren. „Wir könnten auch hierbleiben“, flüsterte er an ihrem Mund.

„Und meine einzige Chance verstreichen lassen, ein Mal im Jahr aus der OP-Kleidung rauszukommen und ein schickes Kleid zu tragen? Bestimmt nicht!“

Ihre Fingerknöchel streiften seine Brust, während sie ihm die Fliege band. „So, jetzt bist du fertig. Du siehst umwerfend elegant aus.“

„Und wie siehst du aus?“ Tom legte ihr die Hände auf die Hüften, griff in ein Meer von weichem, duftigem Stoff. Langsam ließ er die Finger höhergleiten, über ein Mieder, das sich eng an ihre schmale Taille und ihre Brüste schmiegte. Dann fühlte er den weichen Ansatz ihrer Brüste und nur noch warme nackte Haut, überall. „Schulterfrei?“, sagte er heiser.

Hayley lachte. „Ja! Es ist schwarz mit einem breiten weißen Satinband oben am Mieder, passend zu deinem schwarz-weißen Outfit.“

Schmerzliches Bedauern erfüllte ihn. „Ich wünschte, ich könnte dich sehen.“

Sie nahm seine Hände und sagte zärtlich: „Du hast schon mehr von mir gesehen, als ich je einem anderen Menschen gezeigt habe.“

Ihre Worte rührten etwas in ihm an. Tom wurde klar, dass auch er in den vergangenen Wochen Hayley mehr von sich preisgegeben hatte als jedem anderen. Ohne dass er es merkte, war sie wie selbstverständlich zu einem Teil seines Lebens geworden. Warum sonst fragte er sich in letzter Zeit gelegentlich, wie es wohl wäre, wenn sie bei ihm bliebe?

Jeden Abend tollen Sex.

Ach ja? Wenn du sie fragst, wird dein schlimmster Albtraum wahr, weil sie Hochzeitsglocken hört, an weiße Kleider und an Babys denkt.

Kinder?

Der Gedanke ließ ihn nicht los, setzte sich in seinem Kopf fest. Tom verspürte wieder den vertrauten Anflug von Panik.

Seine Uhr meldete, dass es sieben war, und holte ihn in die Gegenwart zurück. „Ich habe Jared gesagt, dass wir uns ein Taxi nehmen. Wir sollten nach unten gehen. Bist du so weit?“

Hayley hakte sich bei ihm unter. „Ich gehöre ganz dir.“

Ein wundervoller Abend ging zu Ende.

Anfangs hatte Hayley Toms Anspannung deutlich gespürt, doch als sie erst am Tisch saßen, fing er sich schnell. Humorvoll und mit unterhaltsamen Geschichten war er es, der in der Runde für eine angenehme Stimmung sorgte. Hayley hatte oft zusammen mit den anderen Gästen gelacht. Sie konnte kaum glauben, dass es derselbe Mann war, den sie bei ihren ersten Begegnungen für wortkarg und ungesellig gehalten hatte.

Am schönsten waren jedoch die Momente gewesen, in denen er, den Arm auf ihrer Stuhllehne abgestützt, zärtlich ihre nackte Schulter gestreichelt hatte. Und das in aller Öffentlichkeit. Voller Hoffnung nahm es Hayley als ein Zeichen, dass sie nicht die Einzige war, die sich verliebt hatte.

Tom kam über die leere Tanzfläche auf sie zu, aufrecht, die breiten Schultern durchgedrückt, mit ernster Miene. Es mochte abweisend wirken, aber Hayley wusste, dass er sich konzentrierte. Zu Beginn des Abends hatte sie ihm leise den Raum beschrieben, damit er sich zurechtfand.

Kurz vor ihrem Tisch blieb er stehen. „Hayley?“

Sie stand auf und ging zu ihm. „Hier bin ich. Hast du dich von Guy verabschiedet?“

„Er freut sich auf seinen Ruhestand. Nächste Woche reisen sie nach Frankreich. Wollen wir los?“

„Natürlich, ich brauche nur noch meine Sachen.“ Sie wandte sich ab, um ihre Clutch und die Abendstola zu holen.

Als sie zurückkam, stand Richard Hewitson, der Dekan der medizinischen Fakultät, bei Tom. Sie hatte sich im Laufe des Abends mit ihm unterhalten, und jetzt nickte er ihr freundlich zu. „Gerade habe ich Tom gefragt, ob er sich entschieden hat.“

„Oh?“ Sie hatte keine Ahnung, worum es ging, und warf Tom einen fragenden Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos.

„Mit Guys Pensionierung entsteht eine Lücke, und Tom würde frischen Wind auf den Posten bringen. Aber er lässt uns am ausgestreckten Arm zappeln.“ Richard schmunzelte. „Sie könnten sich ein paar Lorbeeren verdienen, wenn Sie ihn davon überzeugen, sich unserem Team anzuschließen.“

Voller Freude für Tom öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, aber Tom kam ihr zuvor. „Richard …“ Jemand, der ihn nicht kannte, würde dem besonderen Unterton keine Bedeutung beimessen. Hayley hingegen wusste, was er bedeutete: Tom ging auf Distanz. „Wir bleiben in Verbindung.“

Sie verabschiedete sich rasch und eilte Tom nach, der, seinen Blindenstock fest im Griff, schon zum Ausgang marschierte.

Tom war wütend. Es hatte ihn all seine Willenskraft gekostet, sich seinen Ärger auf Richard nicht anmerken zu lassen. Was fiel dem Dekan ein, Hayley in die Sache hineinzuziehen?

Hayley hatte ihn eingeholt. „Hast du ein Taxi gerufen?“

„Nein. Es ist nicht weit. Kannst du in den hohen Schuhen laufen?“

„Sie sind ganz bequem, und wenn wir langsam gehen, ist es kein Problem.“ Sie berührte ihn am Ellbogen. „Wo entlang?“

Er drehte sich um fünfundvierzig Grad und ging los. „Die Avenue hinunter, dann durch die Unterführung …“

„Ist sie nachts beleuchtet?“

„Ja. Danach sind wir schon auf der Hauptstraße. Keine fünf Minuten von hier.“

„Wie praktisch … falls du dich entscheidest, die Stelle anzunehmen.“

„Ich nehme sie nicht.“

„Warum nicht?“ Sie klang überrascht.

„Weil sie unter meinem Niveau ist.“

„Das musst du mir erklären.“

„Meinst du ernsthaft, ich sollte Erstsemester in Anatomie und Physiologie unterrichten?“

„Was du bestimmt sehr gut könntest.“

Tom hieb mit seinem Stock auf den Boden. „Ich war Neurochirurg, Hayley. Ich sollte wenigstens Neurochirurgie lehren!“

„Guy hat auch in anderen Fächern gelehrt. Vielleicht ist es nur der Anfang. Sieh doch das Gute daran. Man hat dir eine Professur an einer Eliteuniversität angeboten, die mit einem der besten Lehrkrankenhäuser der Welt kooperiert. Es würde dir alle möglichen Chancen eröffnen. Und da du nicht mehr operieren kannst, ist es einfach perfekt für dich.“

Sie hatte recht, das sagte ihm sein gesunder Menschenverstand. Aber die Gefühle waren stärker. „Was soll daran perfekt sein? Es ist ein Abstieg!“ Tom blieb abrupt stehen, weil er in seiner Erregung vergessen hatte, seine Schritte zu zählen. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Hayley nur: „Unterführung. Vier Schritte abwärts.“

„Ich weiß“, knurrte er, wütend auf sich und die ganze Welt. Er ließ sie stehen, arbeitete sich die vier Stufen hinunter und betrat den Tunnel. Sie folgte ihm, ihre High Heels klackten auf dem Zementboden. Dann hörte er schnelle Schritte. Vorsichtshalber trat er zur Seite.

Die Schritte wurden lauter. Unerwartet explodierte ein heftiger Schmerz in seiner Magengrube, dann folgte ein Schlag gegen seine Schulter. Tom taumelte rückwärts und fiel hin.

„Hey!“ Hayleys Stimme hallte von den Tunnelwänden wider.

Die Schritte wurden langsamer, dann schrie Hayley auf. Ihr Schrei ging ihm durch Mark und Bein. War sie verletzt? Hatte man sie niedergestochen?

Mühsam rappelte er sich auf. „Hayley!“

Keine Antwort. Das Einzige, was er hörte, waren Schritte, die sich rasend schnell entfernten, begleitet von anderen, schärferen Echos. Ohnmächtig vor Wut wegen seiner Hilflosigkeit und von Angst um Hayley erfüllt, konnte er sich nicht auf die Echoortung konzentrieren. Tom streckte die Hand aus, um seinen Stock zu suchen. Etwas Scharfkantiges schnitt ihm ins Fleisch, aber er kümmerte sich nicht darum, tastete mit beiden Händen weiter.

Aber er spürte nur Glasscherben unter seinen Fingern und den kalten, feuchten Boden des Tunnels.

Du kannst sie nicht beschützen. Du kannst nicht einmal deinen verdammten Blindenstock finden.

Der Gedanke nahm ihm den Atem, Tom brach der Schweiß aus.

Du bist völlig nutzlos für sie.

Hayley betupfte die Schnittwunden an Toms Hand mit einem Antiseptikum. Ihr saß noch immer der Schrecken in den Gliedern, nachdem sie gesehen hatte, wie Tom zu Boden gestoßen worden war.

Tom selbst hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie ihm in der Unterführung seinen Stock gereicht hatte. Er wirkte seltsam abwesend, auch noch, nachdem er geduscht und einen Fingerbreit Whisky getrunken hatte. Das muss der Schock sein, dachte sie.

„Die Polizei sagt, es ist unwahrscheinlich, dass sie den Kerl kriegen, der mir die Handtasche entrissen hat.“ Hayley versuchte, unbekümmert zu klingen. „Viel Freude wird der Typ an seiner Ausbeute aber nicht haben – ein billiges Handy mit einem grässlichen Klingelton und zehn Dollar, mehr war in der Tasche nicht drin.“

Tom antwortete nicht. Sie klebte ein Pflaster auf den tiefsten Schnitt und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Hand. „Ich habe alle Steinchen entfernt, das müsste also schnell abheilen.“

„Danke.“ Er legte die Hände in den Schoß. „Ich hätte nicht vorschlagen sollen, dass wir zu Fuß gehen.“

„Es war nicht deine Schuld. Der Tunnel ist gut beleuchtet, und auf dem Campus ist überall Security. Ich glaube, der Kerl hat sich spontan entschieden.“

Tom schnaubte. „Weil ich blind bin.“

Seine Verbitterung ging ihr zu Herzen. „Nein, weil wir in Abendgarderobe waren und wie reiche Leute aussahen. Ich bin nur froh, dass uns nichts Ernstes passiert ist. Es ist spät, lass uns ins Bett gehen. Morgen ist ein neuer Tag.“

„Geh nur.“

Unbehagen durchzuckte sie. Tom hatte sie noch nie zurückgewiesen, wenn sie vorschlug, ins Bett zu gehen. „Im Dunkeln schlafe ich besser, wenn du bei mir bist.“ Sie setzte sich auf seinen Schoß und strich mit dem Zeigefinger verführerisch über seine Lippen. „Nicht dass ich vorhätte, sofort einzuschlafen …“

Er erhob sich, schob sie praktisch von seinem Schoß herunter. „Du kannst dich nicht auf mich verlassen, wenn du schlafen musst, Hayley. Du kannst dich überhaupt nicht auf mich verlassen!“

Genauso gut hätte er ihr einen Stoß versetzen können. „Tom, was ist los?“

Tom marschierte zum Sofa und packte mit beiden Händen die Rückenlehne. „Du hättest heute Abend ernsthaft verletzt werden können, und ich konnte absolut nichts dagegen tun.“

„Und ich habe gesehen, wie du zu Boden gestoßen wurdest, und konnte nichts dagegen tun.“

Er fuhr herum. „Du weißt genau, was ich meine! Wenn ich sehen könnte, hätte ich dich beschützt.“

Hayley ging zu ihm und schlang die Arme um ihn. „Woher willst du das wissen? Es ging alles so schnell, und jeden Tag sind die Zeitungen voll von Meldungen, dass Leute überfallen und ausgeraubt wurden. Die Betroffenen waren nicht blind.“ Liebevoll streichelte sie ihm die Wange. „Aber danke, dass du mich beschützen wolltest.“

„Natürlich möchte ich dich beschützen.“ Seine Stimme klang zärtlich.

Er liebt mich.

Ein überschäumendes Glücksgefühl durchströmte sie, Tränen stiegen ihr in die Augen, und Hayley küsste ihn innig. Dann sprach sie zum ersten Mal laut aus, was sie seit Tagen im Herzen bewegte: „Ich liebe dich, Tom.“

Einen winzigen Moment lang hielt sie den Atem an.

Aber Tom wich nicht zurück oder reagierte abwehrend. Stattdessen hob er die Hand und strich sanft über ihr Haar. „Meine Hayley.“

Meine Hayley. Sie schmiegte den Kopf an seine Schultern und seufzte erleichtert. Tom liebte sie, sie gehörten zusammen. Wie ein märchenhafter Zauberteppich entrollte sich der Weg in eine wundervolle Zukunft … der Weg, den sie gemeinsam mit Tom gehen würde. In ihrem ganzen Leben war Hayley noch nie so glücklich gewesen.

Er schob sie behutsam von sich. „Ich denke, es ist am besten, wenn du morgen ausziehst.“

Ihre Knie gaben nach, und einen Moment lang konnte sie nicht Luft holen. Hayley betrachtete sein Gesicht, aber es verriet nichts. „Du willst, dass ich gehe?“

Tom nickte knapp. „Es war schön mit dir, Hayley, aber jetzt ist es vorbei.“

Ihre Gedanken überschlugen sich. „Ich dachte, du … du liebst mich.“

„Um Liebe geht es hier nicht“, sagte er müde. „Wir beide … das hat keinen Sinn.“

Hoffnung flackerte in ihr auf. „Aber du liebst mich doch?“

„Ich weiß es nicht. Als Kind habe ich Liebe nie kennengelernt, und meine Mutter ist daran zerbrochen, dass es in ihrem Leben keine gab. Deshalb wollte ich nie eine Beziehung. Das mit dir war vielleicht annähernd eine, aber es ist zwecklos.“

Seine Worte taten weh, doch Hayley versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie zwischen den Zeilen las. „Dann hast du dir also vorgestellt, dass wir zusammenbleiben?“

„Gelegentlich.“

„Wenn du an uns gedacht hast, was hast du gesehen?“

Ein schwaches Lächeln glitt über seine markanten Züge, aber dann wurde sein Gesicht wieder ausdruckslos. „Lassen wir das, Hayley. Wie gesagt, ich wollte nie eine Beziehung, und seit ich erblindet bin, erst recht nicht. Heute Abend ist mir deutlich bewusst geworden, dass dich nicht beschützen kann … geschweige denn Kinder.“

Ihr Herz machte einen Luftsprung. „Du hast an Kinder gedacht?“

„Nur daran, dass ich ihnen kein richtiger Vater sein könnte.“ Tom hieb mit der Faust in seine andere Hand. „Verdammt, sie könnten zur Tür hinausspazieren, ohne dass ich es merken würde! Bei mir wären sie nur in Gefahr.“

Hayley nahm seine Hände. „Gemeinsam schaffen wir es“, beschwor sie ihn. „Wir ergänzen uns wunderbar, das haben wir doch die letzten Wochen gesehen.“ Verzweifelt suchte sie nach Argumenten, um ihn zu überzeugen. „Und wir holen uns Hilfe. Dafür sind Haushälterinnen und Kindermädchen doch da.“ Sie dachte an ihre Mutter und musste lächeln. „Und Großmütter.“

Tom lachte freudlos auf. „Auch da kann ich nichts beisteuern.“

„Du hast Familie, Tom. Carol wird uns mit Freuden helfen, und Jared kann der junge Onkel sein, der mit ihnen Blödsinn macht und sie so viel Schokolade essen lässt, wie sie wollen.“

„Hör auf zu träumen, Hayley. Eines Tages wird es dir zu viel werden, das anstrengende Leben an der Seite eines Blinden. Ich tue dir also einen Gefallen, wenn ich es jetzt beende.“

„Es stört mich nicht, dass du blind bist“, antwortete sie bestimmt. „Für mich bist du einfach Tom, der achtsamste, liebevollste Mann, den ich kenne. Ich liebe dich, Tom, und ich werde dich nie verlassen.“

„Das sagst du jetzt.“ Ein Beben ging durch seinen großen, starken Körper. „Aber du hast keine Ahnung, wie ich mich in dem Tunnel dort gefühlt habe. Nie wieder möchte ich so hilflos sein. Ich habe mich niemals auf andere verlassen, und ich werde damit jetzt nicht anfangen.“

Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, ihn geschüttelt, doch sie wusste, dass er sich dann erst recht verschließen würde. „Tom, ich kann glasklar sehen, und trotzdem bin ich von dir abhängig, in kleinen und in großen Dingen. Ohne dich wäre ich immer noch chronisch erschöpft. Du hast mich dazu gebracht, mich mit meinen Ängsten auseinanderzusetzen, und es ist schon viel besser geworden. Kein Mensch kann völlig unabhängig von anderen leben. Und wenn doch, dann ist er einsam und bestimmt nicht glücklich.“

Langsam drehte er sich zu ihr um, und sie sah ihm an, dass sie verloren hatte. Was sie auch sagte, sie erreichte ihn nicht. Ein scharfer Schmerz zerschnitt ihr das Herz. „Du willst nicht für uns kämpfen, oder?“, flüsterte sie.

„Es tut mir leid.“ Tom ging Richtung Gästezimmer. „Ich schlafe heute Nacht hier. Jared kann dir morgen helfen, deine Sachen wegzubringen. Leb wohl, Hayley.“ Kaum hörbar schloss er die Tür hinter sich.

„Ich hätte dich nie für einen Feigling gehalten, Tom Jordan!“ Aufgebracht schleuderte sie ein Sofakissen gegen die Tür. Als es zu Boden plumpste, gaben ihre zitternden Beine nach. Hayley sank aufs Sofa. Jahrelang hatte sie es nicht gewagt, sich auf Gefühle einzulassen. Bis Tom den Weg in ihr Herz fand und Sehnsüchte und einen wundervollen Traum erweckte.

Jetzt hatte er den Traum zerstört, doch ihre Liebe blieb und mit ihr zutiefst enttäuschte Hoffnung.

Hayley barg das Gesicht in den Händen und weinte stumm.