3. KAPITEL

Verwirrt überlegte Kerry, woher die Stimmen kommen mochten. Schlaftrunken drehte sie sich noch einmal im Bett herum, während von irgendwo her eine Kinderstimme mehr laut als schön das Schlumpflied sang.

Nun war ein albernes Kichern zu hören, Geschirrgeklapper und das Geräusch des Wasserkochers.

Kerry warf einen Blick auf den Wecker und erschrak. Schon nach neun Uhr! Sie hätte seit einer Stunde in der Praxis sein müssen!

Auf dem Nachttisch entdeckte sie eine volle Tasse mit inzwischen kaltem Kakao. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Franks Unfall, das Drama während der vergangenen Nacht, die Überschwemmung. Gestern war wirklich eine Menge passiert. Fast hätte sie vergessen, dass Denovan und sein kleiner Sohn bei ihr übernachtet hatten.

Denovan O’Mara. Seufzend ließ sie sich in die Kissen fallen und schloss die Augen. Deutlich sah sie die nächtliche Szene wieder vor sich: ihr Sturz und Denovans starke Arme, die sie sicher aufgefangen hatten. Fast meinte sie noch das erregende Kribbeln zu spüren, das sie bei der Berührung überlaufen hatte.

Und das schlechte Gewissen. Natürlich war er ein derart umwerfend attraktiver und erfolgreicher Mann, dass so ziemlich jede Frau auf ihn stehen dürfte. Sie allerdings würde sich ihm nicht an den Hals werfen. Für sie gab es nur Andy. Den netten, ruhigen, gleichbleibend liebenswürdigen Andy. Männer wie Denovan – selbstbewusst, arrogant und eingebildet – hatten sie noch nie interessiert.

Gut, in der letzten Nacht war sie sehr froh darüber gewesen, einen zweiten Arzt vor Ort zu haben. Seinen Einsatz konnte man nur als vorbildlich beschreiben. Genau genommen hatte er sich sogar ziemlich heldenhaft verhalten, als er nicht nur alles darangesetzt hatte, Sirie zu befreien, sondern auch noch das Kommando über die Rettungsmannschaft übernommen hatte. Nur deshalb war sie dann vermutlich seinem Charme erlegen.

All diese Überlegungen waren jedoch vollkommen lächerlich, denn egal, wie attraktiv sie ihn fand – Denovan O’Mara war ein Familienvater und damit indiskutabel.

Entschlossen schwang Kerry die Beine aus dem Bett und schälte sich aus den schmutzigen Sachen, in denen sie geschlafen hatte. Dann zog sie die Vorhänge auf und sah auf die Straße hinunter. Zu ihrem Erstaunen regnete es nicht mehr, sondern es herrschte ein herrlicher Sonnenschein, der das Städtchen und die sanften Hügel im Hintergrund in ein goldenes Licht tauchte.

Kaum mehr vorstellbar, dass noch vor wenigen Stunden ein wüster Sturm getobt hatte. Die verschlammten Straßen und zurückgelassenen Autos zeigten jedoch das Ausmaß der Katastrophe. Kerry war froh, dass Denovan und Archie noch am gleichen Tag wieder nach London zurückfahren würden. Sie würde auch ohne zwei Übernachtungsgäste genug zu tun haben.

Nach einer schnellen Dusche und in frischer Kleidung kam Kerry kurz darauf die Treppe hinunter. Köstlicher Duft nach frisch gebrühtem Kaffee und Toast wehte ihr aus der Küche entgegen. Plötzlich wurde Kerry bewusst, wie hungrig sie war. Eine Tasse Kaffee würde ihr jetzt guttun. Gleich danach würde sie sich auf den Weg in die Praxis machen. Bestimmt war das Wartezimmer schon gerammelt voll. Sie seufzte. Wie sollte sie das alles nur allein schaffen?

In der Küche hatte Denovan gerade sein Handy am Ohr, während Archie am Tisch saß und einen ganzen Berg Toastbrot verdrückte. Er grinste Kerry fröhlich an.

„Kerry ist endlich aufgestanden!“, rief er seinem Vater zu.

Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein. „Hallo, Archie. Hast du gut geschlafen?“

Der kleine Junge nickte ernsthaft. „Ja. Aber Daddy nicht. Er ist andauernd aus dem Bett gefallen, weil es zu klein für ihn war.“

Denovan klappte sein Handy zu und drehte sich zu ihnen um. „Das stimmt doch gar nicht. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier übernachten durften.“ Lächelnd sah er Kerry an. „Du warst gestern Abend in null Komma nichts eingeschlafen.“

Seinen vollkommen verdreckten eleganten Anzug hatte er gegen Jeans und ein verwaschenes Fischerhemd getauscht. Obwohl frisch geduscht, wirkte er schon wieder leicht zerzaust und eine Spur verwegen. Zum Anbeißen verwegen. Um sich abzulenken, stibitzte Kerry ein Stückchen Toast von Archies Teller.

„Wie sieht es heute Morgen aus? Sind die Straßen schon wieder frei?“

Denovan schüttelte den Kopf. „Nein, weder die Brücken noch die Straßen. Außerdem sind mehrere Stromleitungen unterbrochen, und zahllose Häuser stehen unter Wasser. Man kann die Stadt weder verlassen, noch kann jemand hinein. Zu allem Überfluss soll es auch ein Problem mit dem Rettungshubschrauber geben. Ach, übrigens, ich bin vorhin zur Praxis gelaufen und habe Bescheid gesagt, dass du heute etwas später kommst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich schätze, auf dich wartet eine Menge Arbeit.“

„Kann ich mir vorstellen“, stimmte Kerry seufzend zu. „Wie geht’s deinem Bruder? Konntest du Kontakt mit dem Krankenhaus aufnehmen?“

„Er ist stabil. Und Sirie Patel wird heute Vormittag operiert. Leider war nicht nur das Bein gebrochen, sie hat auch noch eine ernste Nierenquetschung. Hoffentlich bekommen sie alles in den Griff.“

Es war so viel passiert – und so viel zu tun. „Ich muss los!“, erklärte Kerry unruhig. „Ich kann hier nicht länger herumtrödeln.“

„Soll ich dir vielleicht helfen?“, schlug Denovan vor. „Sieht so aus, als könntest du etwas Unterstützung gebrauchen. Ich müsste nur einen Babysitter für Archie finden, dann könnte ich dir ein paar Patienten abnehmen, bis die Straße wieder frei ist.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Kerry ihn an und stichelte: „Ich dachte, du musst so schnell wie möglich nach London zurück … Weil du so unglaublich beschäftigt bist.“

Touché, dachte Denovan genervt. Er hatte es nicht besser verdient. „Na ja, da ich die Stadt im Moment nicht verlassen kann, erscheint es mir nur vernünftig, wenn ich mich ein wenig nützlich mache.“

„Wirklich? Ich muss zugeben, das würde mir sehr helfen. Was Archie betrifft – im Gemeindezentrum neben der Kirche gibt es einen kleinen Kindergarten. Bestimmt sind die Erzieherinnen nur zu gern bereit, auf den Sohn des berühmten Dr. Medic aufzupassen.“

Zu Kerrys Erstaunen war das Gemeindezentrum dicht bevölkert. Kinder rannten aufgeregt umher, Senioren saßen auf den Bänken im großen Saal und sahen etwas verloren aus. Mehrere Frauen, darunter Daphne, schenkten Kaffee und Tee aus.

„Was ist denn hier los?“, fragte Kerry sie.

„Die Leute, die unten am Fluss wohnen, sind evakuiert worden und mussten die Nacht hier verbringen. Es herrscht ein furchtbares Durcheinander!“

„Vermutlich wird dann heute nur Freda in der Praxis sein?“, erkundigte Kerry sich resigniert.

Freda Knight war ihre Auszubildende. Kerry hatte keine Ahnung, weshalb der Teenager sich entschlossen hatte, Arzthelferin zu werden. Freda war alles andere als engagiert und verbrachte die meiste Zeit damit, in den Illustrierten im Wartezimmer zu lesen. Bestimmt würde Freda vor Begeisterung völlig ausflippen, sobald der berühmte Dr. Medic die Praxis betrat.

„Ich komme, so schnell ich kann“, versprach Daphne.

Kerry sah sich in dem überfüllten Raum um. „Der Kindergarten bleibt heute wohl geschlossen? Denovan hat nämlich angeboten, heute Vormittag in der Praxis auszuhelfen, bevor er später zurück nach London fährt. Doch wir bräuchten einen Babysitter für Archie.“

„Vorhin hat jemand erzählt, dass es mehrere Tage dauern wird, bis die Brücke wieder passierbar ist“, wandte sich Daphne skeptisch an Denovan. „Sie haben sogar das Militär um Hilfe gebeten, weil die Lage so unübersichtlich ist.“

„Nicht so schlimm. Bestimmt wird irgendjemand in London für mich einspringen. Ich muss jetzt nur eine Betreuung für Archie finden.“

„Wissen Sie was? Meine drei Jungs sind drüben im Gemeinschaftsraum. Archie kennt sie schon, weil er ja gestern Abend bei uns war. Ich bin mir sicher, dass die drei sich sehr gern um ihn kümmern. Larry ist fünfzehn und sehr vernünftig für sein Alter. Die Schule fällt bis auf Weiteres aus, sodass sie Zeit für Archie haben. Falls es ein Problem gibt, können sie ja zu Ihnen in die Praxis kommen.“

Archie sah seinen Vater erwartungsvoll an. „Bitte, Dad! Jack hat eine riesige Modelleisenbahn mit echten Lichtsignalen! Gestern durfte ich die Lok fahren lassen!“

Daphne lachte. „Ihr Sohn ist wirklich sehr unkompliziert, Denovan. Ich hoffe, Ihnen ist klar, wie viel Glück sie mit ihm haben!“

Denovan nickte. Kurz begegnete er Kerrys Blick. „Hoffentlich hat er nicht das O’Mara-Gen für Streitsüchtigkeit geerbt. Das möchte ich wirklich niemandem wünschen …“

Die Patienten im Wartezimmer machten allesamt einen müden und verstörten Eindruck. Leise unterhielten sie sich über die unzähligen kleinen und großen Katastrophen der letzten Nacht. Viele hatten ihre Häuser verlassen müssen und daher kaum geschlafen. Es wunderte Kerry nicht, dass manche vollkommen erschöpft und verzweifelt waren.

Betont munter rief sie ein freundliches Hallo in die Runde. „Es geht gleich los!“

Beim Anblick des berühmten Dr. Medic hob sich die Stimmung im Wartezimmer spürbar. Und als Kerry dann noch verkündete, dass Denovan ihr helfen würde, war die Sensation perfekt. Bestimmt verlangt kein einziger Patient freiwillig nach mir, überlegte Kerry amüsiert.

Freda starrte Denovan sprachlos an, konnte ihr Glück kaum fassen. „Sie sind es wirklich, nicht? Dr. Medic!“, sagte sie andächtig.

Freundlich streckte er ihr die Hand hin. „Ja, ich bin Denovan O’Mara. Und ich werde hier heute ein bisschen mithelfen.“

Bevor Freda Denovans kostbare Zeit mit Fragen über das glamouröse Leben des Londoner Jetset verschwenden konnte oder den TV-Star womöglich um ein Autogramm bat, mischte Kerry sich ein. „Das Wartezimmer ist gerammelt voll. Haben alle diese Leute einen Termin?“

Freda zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Der Computer funktioniert nicht. Wahrscheinlich wegen des Unwetters letzte Nacht. Wen soll ich zuerst hereinrufen?“

„Kleinere Kinder und ältere Patienten behandeln wir bevorzugt. Es sei denn, wir haben akut Verletzte – die haben natürlich oberste Priorität.“

Zusammen mit ihrem Kollegen ging sie in Franks Behandlungszimmer, wo Denovan sich grinsend in den Schreibtischsessel fallen ließ. „Wer hätte das gedacht? Wenn Frank wüsste, dass ausgerechnet ich ihn vertrete, würde er vor Wut schäumen.“

Kerry furchte die Stirn. „Unsinn! Bestimmt wäre er dir sehr dankbar. Auf mich trifft das jedenfalls zu. Tut mir leid, dass nun auch noch die Rechner ausgefallen sind. Falls du Fragen hast, klopf einfach an meine Tür. Wir sollten uns jetzt an die Arbeit machen – es gibt viel zu tun.“

„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Denovan und rief den ersten Patienten herein.

Sie waren den ganzen Vormittag pausenlos beschäftigt. Viele der Patienten waren traumatisiert und machten sich große Sorgen um ihre Häuser. Ein Paar, das ein Schuhgeschäft im Zentrum betrieb, hatte die ganze Nacht vergeblich versucht, die Ware zu retten, wobei der Mann sich eine hässliche Schnittwunde am Arm zugezogen hatte.

„Der Laden ist seit drei Generationen im Besitz unserer Familie. Mein Großvater hat ihn quasi aus dem Nichts aufgebaut. Der Gedanke, dass jetzt alles verloren ist, bringt mich fast um.“ Traurig sah Peter Whittaker Denovan an.

Seine Frau Donna legte beruhigend ihre Hand auf seinen gesunden Arm. „Mach dir keine Sorgen. Ich werde meine Brüder bitten, herzukommen und uns zu helfen. Du wirst sehen, es dauert nicht lange, und wir können den Laden wieder aufmachen.“

Sie wechselten einen Blick, und Peter streichelte die Hand seiner Frau. „Natürlich, Schatz. Du hast vollkommen recht. Es bringt jetzt gar nichts, sich das Schlimmste vorzustellen.“

Nachdenklich sah Denovan den beiden nach, als sie hinausgingen: ein glückliches Paar, das auch in schlechten Zeiten fest zusammenhielt. Obwohl sie weit davon entfernt waren, ein luxuriöses Leben zu führen wie er, und vermutlich wesentlich härter arbeiten mussten, wirkten sie sehr zufrieden. Beneidenswert.

Er zog die Jalousien vor dem Fenster hoch, ließ den Blick über die weitläufigen Felder hinter dem Praxisgebäude schweifen. Wie mochte es sein, wieder auf dem Land zu leben? Auf jeden Fall total anders als in London, wo ständig etwas los war und man sich niemals langweilte.

Allerdings war er hier aufgewachsen, und obwohl seine Kindheit alles andere als glücklich gewesen war, sehnte er sich nach der Weite und der Schönheit dieser ländlichen Gegend. Hier konnte man wunderbar wandern und joggen, die Luft war sauber, der Fluss klar, und die Menschen kümmerten sich umeinander. Ganz anders als in der Anonymität Londons.

Abrupt drehte er sich um und ließ die Jalousien wieder herunter. Überflüssig, über die Vorzüge des Lebens hier nachzudenken. Es kam nicht infrage, in Franks Nähe zu leben oder zu arbeiten.

Ein leises Klopfen an der Tür, und Kerry trat ein. „So, wir haben es jetzt fast geschafft. Wie sieht’s bei dir aus?“

„Bin ebenfalls durch mit der Sprechstunde. Die Leute haben eine Menge durchgemacht in den letzten achtundvierzig Stunden. Einer der Patienten müsste dringend geröntgt werden, und eine hochschwangere Frau sollte so schnell wie möglich in die Klinik geflogen werden.“

„Angeblich ist ein Hubschrauber unterwegs. Am besten schicken wir die Betreffenden gleich zum Landeplatz.“

Denovan blickte auf seine Uhr. „Ich erlöse Daphne erst einmal von Archie. Schließlich kann ich nicht erwarten, dass sie den ganzen Tag auf ihn aufpasst. Danach schaue ich mal, wie weit sie mit der Reparatur der Brücke sind.“

„Ich bin ebenfalls im Zentrum – um das Ausmaß der Schäden zu inspizieren. Wir werden uns also wahrscheinlich sehen, nachdem du Archie abgeholt hast.“

Bei Tageslicht betrachtet, war der Schaden an manchen Häusern noch schlimmer, als Kerry erwartet hatte. Die Hauptstraße glich einem Fluss, Spiel- und Sportplätze hatten sich in Seen verwandelt. Im Augenblick tauchte die Sonne alles in goldenes Licht, sodass Kerry fast versucht war zu vergessen, welche Katastrophe die Überschwemmung für das Städtchen bedeutete.

Menschen wateten durch die Fluten im verzweifelten Bemühen, wenigstens einige ihrer Habseligkeiten zu retten. Auf dem kleinen Marktplatz stand ein Mann in Gummistiefeln und Regenjacke und gab ein Interview. Wie war es dem Reporter bloß gelungen, in die Stadt zu kommen?

Kerry erkannte den Mann, der gerade interviewt wurde. Es war der lokale Abgeordnete des Unterhauses. Sir Vernon Hood, groß und weißhaarig, machte seinen Job als Volksvertreter gut, doch er wirkte auch stets etwas arrogant und gönnerhaft.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht gekriegt hatte. Doch natürlich ließ er sich eine solche Katastrophe nicht entgehen und wollte nun Mitgefühl demonstrieren. Aufmerksam sah sie ihn an und stellte fest, dass Sir Vernon irgendwie älter aussah als noch vor wenigen Wochen.

Sie wandte sich an Mary, eine ihrer Patientinnen, die mit einem traurig-verlorenen Ausdruck in der Tür stand.

„Es ist furchtbar“, klagte Mary. „Dieser modrige Geruch und all das Wasser. Es wird Monate dauern, bis wir die Schäden behoben haben.“

Tröstend nahm Kerry sie in den Arm. „Bestimmt ist bald wieder alles in Ordnung. Heutzutage gibt es riesige Maschinen und große Pumpen, die alles trockenlegen. Die Armee soll schon dabei sein, die Geräte herzuschaffen.“

Mary lächelte tapfer. „Zumindest ist das eine gute Gelegenheit, unser Haus etwas umzugestalten.“ Sie warf Sir Vernon einen abschätzenden Blick zu. „Ich hoffe, er und seine Kollegen klopfen jetzt nicht nur große Sprüche, sondern sorgen dafür, dass wir Hilfe bekommen. Seit Jahren verspricht er, sich um eine Uferbefestigung zu kümmern, aber geschehen ist nichts. Und nun haben wir die Bescherung!“

Auf dem Nachhauseweg grübelte Kerry darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis die Stadt sich von dieser Katastrophe erholt hatte. Bestimmt würde es unter diesen widrigen Umständen besonders schwierig sein, einen Vertretungsarzt anzuheuern.

„Sieht ganz schön schlimm aus, was?“

Aus ihren Gedanken aufgeschreckt, blickte sie auf und sah Denovan vor sich stehen. Sie seufzte. „Viel schlimmer, als ich gedacht hatte. Zum Glück hat es inzwischen aufgehört zu regnen.“ Fragend schaute sie ihn an. „Wo ist Archie? Ich dachte, du wolltest ihn abholen.“

Denovan lächelte. „Daphnes Jungs sind einfach großartig. Sie haben Archie mit in den Garten genommen und veranstalten gerade ein Picknick. Archie ist begeistert. In London kommen wir nur selten dazu, so was zu machen.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe einen Mordshunger. Wenn ich mich nicht täusche, hat das kleine Café neben der Kirche wieder geöffnet. Wie wäre es mit einem Kaffee und etwas zu essen?“

Das Café war völlig überfüllt, doch irgendwie gelang es ihnen, einen kleinen Tisch zu ergattern. Sie quetschten sich in die viel zu enge Nische, und Kerry bemerkte die neugierigen Blicke der anderen Gäste. Oder besser gesagt: Sie starrten Denovan an. Da jeder in der Stadt sie kannte, konnte Kerry sich nur zu gut vorstellen, wie die Gerüchteküche brodeln würde.

Sie warf Denovan einen kurzen Blick zu. Kein Wunder, dass er beim Fernsehen arbeitete. Er war wirklich unverschämt attraktiv mit seinen sinnlichen Lippen, den durchdringenden blauen Augen, die jede Frau betörten, und seinem durchtrainierten Körper, mit dem er sich gerade so dicht an sie drängte, dass es schon peinlich war. Noch ein Stück weiter, und sie landete noch auf seinem Schoß!

Kerry holte tief Luft und rückte so weit wie möglich zur Seite.

Als die Kellnerin an ihren Tisch kam, musterte sie Denovan unverhohlen. „Wow! Sie sind dieser Fernsehdoktor, stimmt’s? Sie sehen in echt ja noch viel besser aus!“

„Danke für das Kompliment. Würden Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee bringen? Und zwei Portionen Fish and Chips.“

„Stört es dich eigentlich, dass du immer gleich erkannt wirst?“, fragte Kerry.

Denovan zuckte die Schultern. „Man gewöhnt sich daran. Außerdem beruhigt es mich irgendwie, dass die Leute meine jämmerliche Show kennen.“

„Gefällt dir dein Job etwa nicht?“, fragte Kerry verblüfft.

Er zögerte kurz. „Nicht mehr so wie früher. Natürlich ist es toll, in London zu leben und zu arbeiten, doch seit ich hier in Braxton bin, erinnere ich mich wieder an all die Dinge, die mir als kleiner Junge so gut gefallen haben – die frische Luft, der Fluss, in dem man wunderbar angeln kann, die traumhafte Umgebung …“

„Aber du wolltest doch die Praxis deines Vaters nicht übernehmen, oder?“

„Es ist nicht gut, wenn zu viele O’Maras an einem Ort sind.“ Er wich ihrem Blick aus.

Kerry seufzte. „Ich schätze, du führst ein ziemlich aufregendes Leben in London und triffst ständig irgendwelche interessanten Leute.“

„Ich bin viel zu beschäftigt, um ein wildes Partyleben zu führen. Außerdem verliert auch das nach einer gewissen Zeit seinen Reiz.“

„Wurde Archie in London geboren?“, fragte Kerry unvermittelt.

„Nein, in Neuseeland. Ich bin erst einige Monate nach seiner Geburt mit ihm nach England zurückgekehrt.“

Seine Antwort machte sie neugierig. Natürlich ging seine Familiensituation sie nichts an, trotzdem hätte sie gern mehr darüber erfahren. „Ist Archies Mutter auch im Showbusiness?“

„Archies Mutter?“ Sein Ton war kühl geworden.

„Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich sein.“

„Archies Mutter ist ziemlich unkonventionell“, erklärte Denovan knapp. „Nach unserer Rückkehr nach England zog sie in eine Hippie-Kommune in Cornwall. Es würde mich wundern, wenn sie seitdem auch nur einen Gedanken an Archie verschwendet hätte.“ Er trank einen großen Schluck Wasser. „Ich fürchte, Archie kann sich gar nicht mehr an sie erinnern.“

Mit einem Mal sah Kerry in ihm nicht mehr den glamourösen und erfolgreichen Denovan O’Mara, sondern einen alleinerziehenden Vater, dem nichts mehr am Herzen lag als das Wohl seines Kindes.

„Tut mir leid“, sagte sie leise.

„Es war nichts Lornas Schuld. Sie hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie keine Kinder wollte.“ Die Trauer in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich dachte, sie würde ihre Meinung ändern, wenn das Baby erst einmal da ist. Aber ich habe mich geirrt.“

„Du machst dir deshalb doch nicht etwa Vorwürfe?“

„Doch, sicher. Man kann Menschen nie zu etwas zwingen, das ihrer Persönlichkeit widerspricht. Und Lorna ist einfach nicht dafür geschaffen, Mutter zu sein.“ Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen. „Und wer weiß – vielleicht bin ich nicht dafür geschaffen, mit jemandem zusammen zu sein. Auf jeden Fall hat das Ganze mir gezeigt, dass man sich nicht leichtfertig auf eine Beziehung einlassen sollte. Es wird eine Weile dauern, bis ich wieder etwas mit einer Frau anfange – falls überhaupt noch mal!“

Kerry nickte verständnisvoll, doch tief in ihrem Inneren nagte die Enttäuschung an ihr.

„So, jetzt haben wir genug über mich geredet“, wechselte er das Thema. „Erzähl mir von dem Urlaub, den Frank dir vermasselt hat.“

„Woher weißt du davon?“

„Als ich dir gestern Nacht den heißen Kakao brachte, wäre ich fast über deinen Koffer gestolpert.“

„Stimmt, ich sollte jetzt eigentlich mit einem kühlen Cocktail am Strand von Tobago sitzen und mich auf die Hochzeit meiner Cousine freuen, die am Freitag dort stattfindet. Mit mir als Brautjungfer.“

„Oh nein! Das ist ja furchtbar! Hoffentlich klappt es ein anderes Mal.“

Kerry lachte. „Das ist unwahrscheinlich. Ich habe nur die eine Cousine.“

„Dann musst du eben warten, bis du selbst heiratest.“

Kerry versuchte, den schmerzhaften Stich zu ignorieren, den diese Bemerkung ihr versetzte. „Ja. Eines Tages.“

„Na, komm schon“, neckte er sie. „Bestimmt gibt es doch irgendeinen Kerl, der hoffnungslos in dich verliebt ist.“

„Nein, keine verliebten Kerle in Sicht.“

Zum Glück erschien in diesem Augenblick die Kellnerin mit einem schwer beladenen Tablett, das sie zwischen ihnen abstellte. „So, Herrschaften, hier ist Ihr Essen. Fish and Chips mit Kaffee. Guten Appetit!“