Fast blind vor Tränen rannte Belinda auf die geöffnete Hecktür des Hubschraubers zu. Der Sanitäter bedeutete ihr mit einem Handzeichen, sich dabei zu ducken.
Sie brachte es kaum übers Herz, in den Rettungshubschrauber einzusteigen. Wie konnte sie ihre Kinder einfach so zurücklassen?
Doch Lizzy hatte sie gedrängt mitzufliegen. Margaret war auf der Reise so nett zu ihnen allen gewesen, und nun brauchte sie Belindas Unterstützung.
„Die Zwillinge sind bei mir gut aufgehoben“, hatte Lizzy beruhigend zu Belinda gesagt. „Du weißt, dass du sie mir anvertrauen kannst.“
Natürlich konnte sie das. Lizzy war wie eine zweite Mutter für die Kinder. Belindas Kollegin und die beste Freundin, die man sich nur wünschen konnte. Lizzy hatte Belinda beigestanden, als diese ihre geliebte Mutter verloren hatte. Ebenso wie bei ihrer unerwarteten Schwangerschaft und dann in der Zeit als alleinerziehende, berufstätige Mutter. Lizzy hatte die Lücke im Leben der Kleinen durch den fehlenden Vater wunderbar ausgefüllt. Sie waren alle eine Familie.
Eine Familie, die plötzlich bedroht zu sein schien.
Sobald Belinda in den Helikopter stieg, fing sie von Mario einen Blick auf, der ihr eindeutig feindselig vorkam.
Aber sie tat doch genau das, was er von ihr verlangt hatte. Also warum war er wütend? Es wäre doch nun wirklich unangebracht gewesen, vor allen zu zeigen, dass sie sich kannten. Belinda war hier nur zur Unterstützung der schwer verletzten Margaret mit dabei. Aber vielleicht spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck ja auch bloß die Sorge um seine Patientin wider.
„Setz dich hierhin“, sagte Mario zu ihr. „Und leg das Rettungsgeschirr an.“
Belinda, die mit dieser Art Ausrüstung nicht vertraut war, hatte Probleme mit den Gurten und der Schnalle. Als der Hubschrauber startete, beugte Mario sich zu ihr herüber, um das Rettungsgeschirr zu befestigen. Mit grimmiger Miene zog er Belindas Gurt fest. Danach wandte er sich wieder Margaret zu, und der grimmige Ausdruck verschwand. Er war also tatsächlich wütend auf Belinda.
„Belinda?“, meinte Margaret.
„Ich bin da.“ Auch wenn es Mario ganz offensichtlich nicht gefiel. „Sie sind in guten Händen, Margaret. Es ist alles in Ordnung.“
Was die medizinische Seite anbelangte, stimmte das auch. An der Erstversorgung und der Monitorüberwachung auf dem kurzen Flug gab es nichts zu beanstanden. Ebenso wenig wie an der Fachkompetenz des Notfallteams, das sie in dem großen Mailänder Krankenhaus in Empfang nahm. Belinda war beeindruckt von der Schnelligkeit, mit der Margaret untersucht und dann in den Operationssaal gebracht wurde. Gleichzeitig war sie jedoch auch etwas bestürzt darüber. Denn sie fürchtete, dass es nicht lange dauern würde, bis sie allein in einer fremden Notaufnahme zurückgelassen wurde. Und dann blieb ihr nichts weiter übrig, als auf den Krankenwagen zu warten, der Lizzy und die Kinder herbringen sollte.
Aber es kam anders. Mario begleitete seine Patientin nicht mit in den OP. Sobald Margarets Liege weggerollt wurde, wandte er sich an Belinda.
„Nach der Übergabe an das Operationsteam möchte ich mit dir sprechen“, sagte er kalt. „In zehn Minuten bin ich wieder in meinem Dienstzimmer. Geh durch die Doppeltür, dann nach rechts und weiter den Korridor entlang. Mein Name steht an der Tür.“
Belinda wollte nicht mit Mario reden, und schon gar nicht in dessen Dienstzimmer. Was würde er tun, wenn er mitbekam, dass die Zwillinge ihre Kinder waren? Wenn er erfuhr, dass er der Vater war? Womöglich würde er von ihr fordern, dass die Zwillinge in Italien blieben, ohne ihre Mutter.
Sie hatte den beiden versprochen, dass sie eines Tages versuchen würde, ihren „verlorenen“ Vater wiederzufinden, damit die Kinder ihn kennenlernen konnten. Aber das wäre eines fernen Tages in der Zukunft gewesen. Wenn Belinda sich dazu bereit gefühlt hätte, mit dem emotionalen Aufruhr umzugehen, den ein erneuter Kontakt mit Mario zweifellos auslösen würde.
Doch nun war dieser Tag völlig unvorbereitet eingetreten und erschütterte ihre heile Welt bis in die Grundfesten. Belinda hatte das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, und wusste nicht, ob sie die Fahrt überstehen würde.
Es war gefährlich, mit Mario zu sprechen. Schließlich stellte er eine echte Bedrohung für ihre glückliche kleine Familie dar. Es wäre schon erschreckend genug, mit ihm allein im selben Raum zu sein. Eigentlich sollte ich am besten hierbleiben, sagte Belinda sich.
Aber wieso weigerte sich ihr Körper, auch danach zu handeln? Warum hatte sie auf einmal dieses dringende Bedürfnis, durch die Doppeltür und dann nach rechts zu gehen? Und weiter, bis sie vor einer Tür mit der Aufschrift „Mario Antonelli“ stand?
Belinda wusste, warum. Weil sie Mario trotz des Schadens, den er möglicherweise anrichten würde, einfach nicht widerstehen konnte.
Mario fragte sich, was er sich bloß dabei gedacht hatte, Belinda zu sich zu bestellen.
Er hätte lieber flüchten sollen. Nachdem er seine Patientin an das OP-Team übergeben hatte, hätte er einfach in sein Zimmer gehen, die Tür hinter sich zumachen und die Zufallsbegegnung mit Belinda aus seinen Gedanken verbannen sollen. Es gab nicht den geringsten Grund, sie oder ihre Freundin oder diese hübschen Kinder wiederzusehen.
Es gab wirklich überhaupt keinen Grund dafür. Außer dass Mario Antonelli wütend war. Nein, mehr als das. Er war fuchsteufelswild.
Belinda zu sehen, ihre Stimme zu hören, sie zu berühren, das hatte all die Ereignisse von damals aufs Neue aufgewühlt. Wie konnte sie es wagen, einfach so wieder in seinem Leben aufzutauchen? Und dabei auch noch so schön auszusehen wie vor vier Jahren? Nein, sogar noch schöner. In den vergangenen Jahren war sie reifer geworden. Selbstbewusster. Sie besaß eine Ausstrahlung, die zeigte, dass sie ein wundervolles Leben führte. Ohne ihn.
Das wurmte Mario. Verdammt noch mal!
Sicher, Belinda konnte nicht wissen, dass er sich so sehr in sie verliebt hatte, dass er danach nie wieder richtig glücklich hatte sein können. Ihr dagegen war es offenbar nicht so ergangen. Verständlicherweise. Immerhin hatten sie nur wenige Stunden miteinander verbracht. Aber ihn ohne jede Erklärung einfach abzuservieren? Ihn in diesem Café dort sitzen und warten zu lassen, während ihm mit jeder Minute sein Verlust immer deutlicher bewusst wurde? Und jetzt war sie so glücklich mit ihrem Leben?
Mario musste ihr zumindest sagen, wie gemein das gewesen war. Wie verletzend.
Er konnte Belinda nicht allein für die katastrophale Wendung verantwortlich machen, die sein Leben nach ihrer Begegnung damals genommen hatte. Aber er glaubte, wenn er wenigstens die Antwort auf eine einzige Frage bekam, wäre er vielleicht imstande, all die furchtbaren Erinnerungen hinter sich zu lassen und die Vergangenheit für immer zu begraben.
Das Schicksal hatte ihm diese unerwartete Gelegenheit geschenkt, und er musste sie ergreifen. Komisch, das einzige andere Mal, dass Mario so impulsiv gehandelt hatte, war der Augenblick gewesen, als er Belinda Smith getroffen hatte. Aber vielleicht passte es ja auch, denn somit schloss sich der Kreis.
Ein Abschluss.
Die entscheidende Frage lag Mario auf der Zunge, als Belinda in sein Dienstzimmer kam und sich vor den Schreibtisch stellte. Ihr schüchterner Gesichtsausdruck wirkte entwaffnend.
„Warum?“, fuhr Mario sie an. „Das ist die einzige Frage, die ich dir stelle. Warum hast du dein Versprechen nicht eingehalten, dich an jenem Tag mit mir zu treffen?“
„Was?! Aber das habe ich doch!“, gab sie zurück.
„Scusi?“ Entrüstet sprang er auf. „Ich war in dem Café. Du aber nicht.“
„Natürlich war ich da! Ich habe auf dich gewartet, und du hast dich verspätet.“
„Pfff!“ Mit zwei langen Schritten war er neben Belinda. „Höchstens fünf Minuten. Du wusstest doch, was ich vor unserem Treffen tun wollte. Es war klar, dass es nicht leicht sein würde. Das Gespräch dauerte länger, als ich gedacht hatte. Und du konntest nicht mal eine Weile auf mich warten?“
Mario merkte, dass er sich allmählich in Rage redete. „Okay, ich hatte mich also um ein paar Minuten verspätet. Und das reichte schon aus, dass du es dir anders überlegt hast?“, fragte er ungläubig. „Na, vielleicht war es ja auch besser so. Es hat mir zumindest gezeigt, dass du nicht die Frau warst, für die ich dich gehalten hatte.“
Belinda schien tief getroffen. Das Glänzen in ihren geweiteten Augen verriet, dass sie den Tränen nahe war.
Gut. Mario wollte sie zum Weinen bringen. Sie sollte wenigstens etwas von dem Schmerz fühlen, den er so lange mit sich herumgetragen hatte.
Doch dann hob sie das Kinn, und ihre Augen blitzten.