3. KAPITEL

„Natürlich habe ich daran gedacht, dass der Eingriff zu Gehirnschäden führen könnte. Es gab diese Momente. Aber das gesamte Team war fest entschlossen, den kleinen Zwillingsjungen, deren Köpfe von Geburt an miteinander verwachsen waren, ein besseres Leben zu ermöglichen.“

Wie gebannt lauschte Hayley seiner tiefen, selbstbewussten Stimme, als Tom Jordan seinen spektakulärsten Fall beschrieb. Als ihr etwas auf die Füße fiel, blickte sie erstaunt zu Boden. Unbemerkt war ihr der Hefter mit dem Ausdruck seines Vortrags vom Schoß gerutscht. Bisher hatte Hayley jedes Mal eine Seite umgeblättert, wenn Tom auf die Fernbedienung drückte, um das nächste Bild seiner Präsentation aufzurufen. So wusste sie genau, an welcher Stelle seiner Vorlesung er war, falls die Technik versagen sollte.

Aber in den letzten Minuten war sie von seinen Ausführungen so fasziniert gewesen, dass sie nur bewundernd zuhörte. Tom und sein Team hatten Bahnbrechendes geleistet.

„Zwei Jahre lang hatten wir uns auf diese Operation vorbereitet. Und wir waren nicht nur erfolgreich, sondern haben auch den Weg für andere Neurochirurgen bereitet. Anfang des Jahres wurde ein ähnlicher Eingriff in England durchgeführt.“

Hayley bückte sich, um den Hefter aufzuheben, und blickte zu Tom hoch. Vorhin noch, als er ihr erklärte, was sie zu tun hatte, war er angespannt und fast unerträglich pedantisch gewesen. Jetzt war er kaum wiederzuerkennen. Am Rednerpult stand ein erstklassiger Chirurg, seine schlanken, sonnengebräunten Hände ruhten auf dem in Blindenschrift verfassten Manuskript.

Doch er brauchte die Notizen nicht. Hayley wusste, dass er jedes Detail der Operation im Kopf hatte, und sein Vortrag war alles andere als langweilig. Er hatte seine Zuhörer in den Bann geschlagen. Niemand döste vor sich hin, keiner checkte Mails oder SMS am Handy. Die meisten saßen vornübergebeugt da, um ja kein Wort zu verpassen.

Bald darauf kam Tom zum Schluss, und Hayley verspürte eine leichte Enttäuschung. Sie hätte ihm viel länger zuhören können. Aber er gewährte seinen Zuhörern noch eine Viertelstunde, in der sie Fragen stellen konnten, und beendete dann die Veranstaltung.

Die meisten verließen den Saal sofort, manche zögerten merklich, als wollten sie noch mit Tom sprechen. Aber sie verschwanden wie die anderen, leicht verlegen und mit mitfühlender Miene. Was sollten sie auch zu jemandem sagen, dessen vielversprechende Karriere von einem Tag auf den anderen beendet worden war?

Finn Kennedy wechselte auf seine knappe Art ein paar Worte mit ihm, verzog sich jedoch schnell, als Evie und Theo auf Tom zukamen. Sie begrüßten ihn herzlich und unterhielten sich eine Weile mit ihm. Als sie gegangen waren, kamen zwei Männer vorbei, die anscheinend nicht merkten, dass sie noch in Hörweite waren.

„Was für ein Jammer“, sagte der eine. „Er war der Beste, und jetzt …“

Hayley sah, wie Toms breite Schultern steif wurden.

Er hat ihn gehört, dachte sie bestürzt.

Um der gedankenlosen Bemerkung den Stachel zu nehmen, sagte sie spontan: „Das war ein beeindruckender Vortrag!“

Es kam lauter heraus, als sie beabsichtigt hatte.

Tom zuckte zusammen und wandte sich ihr zu. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. „Ich bin blind, Hayley, aber nicht taub.“

„Ich weiß, ich wollte nur …“ Sie schwieg. Er wird nicht hören wollen, dass du dieses verrückte Bedürfnis verspürst, ihn zu trösten, dachte sie. Außerdem hat er kein Problem damit, auf deinen Gefühlen herumzutrampeln. „Ich war in England, als ich von der Operation erfuhr. Mir war nicht klar, dass Sie das Team geleitet haben.“

„Jetzt wissen Sie es.“ Er drehte sich um und klappte seinen Laptop zu.

Immer noch unter dem Eindruck der großartigen Vorlesung, antwortete sie fast ehrfürchtig: „Es muss ein unglaubliches Gefühl gewesen sein, als Ihnen klar war, dass Sie es geschafft haben.“

„Es ist etwas, das man nicht mehr vergisst.“

„Ich wünschte, ich hätte Ihnen beim Operieren zusehen können.“

„Damit ist es endgültig vorbei“, sagte er tonlos.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht daran erinnern, dass …“ Beschämt verstummte sie.

„Dass ich nicht mehr operieren kann, wollten Sie sagen? Wie außerordentlich einfühlsam und taktvoll Sie doch sind, Hayley.“

Die bissige Antwort ließ sie zusammenzucken. Hayley straffte die Schultern. „Lassen Sie mich noch einmal von vorn anfangen. Ich wollte sagen, dass Ihr Vortrag der beste war, den ich je gehört habe. Wirklich.“ Sie lächelte. „Und glauben Sie mir, ich habe in den letzten zehn Jahren viele todlangweilige Vorlesungen über mich ergehen lassen müssen. Sie sind ein toller Redner. Hier im Harbour können sie froh sein, dass sie Sie haben.“

Er hängte sich die Laptoptasche um. „Also wirklich, jetzt machen Sie mich aber verlegen.“

Der eisige Tonfall jedoch strafte seine Worte Lügen. Tom ließ seinen Stock vorschnellen, und Hayley musste zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.

„Es ehrt mich sehr, dass Sie mich für einen tollen Redner halten“, fuhr er zynisch fort. „Immerhin habe ich darauf die letzten zwanzig Jahre meines Lebens hingearbeitet. Vergessen wir die Neurochirurgie. Vergessen wir, dass ich Leben gerettet und Menschen von Schmerzen befreit habe. Was ist das schon im Vergleich dazu, ein toller Redner zu sein?“ Er ging los.

Seine Worte waren wie schallende Ohrfeigen. Was bildete er sich ein? Als wäre er der Einzige, dem das Schicksal böse mitgespielt hatte! Hayley wusste nur zu gut, was es bedeutete, etwas Kostbares zu verlieren. Leid, das kaum zu ertragen war – und das Leben ging trotzdem weiter.

„Waren Sie, bevor Sie erblindet sind, auch so rüde?“

Tom Jordan blieb stehen. „Ich war Neurochirurg!“ Wie ein Aufschrei hallte die Antwort in dem nun leeren Vortragssaal wider.

„Das heißt also Ja.“

Er schwieg einen Moment. „Rein aus Neugier, Hayley“, sagte er dann. „Sind Sie neu am Harbour, weil man Ihnen an Ihrem letzten Arbeitsplatz nahegelegt hat, zu gehen?“

In einem von Männern dominierten Fachgebiet wie der Chirurgie hatte Hayley gelernt, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. „Meine Referenzen vom Royal Hospital in London lassen das Papier leuchten, auf dem sie geschrieben sind“, entgegnete sie selbstbewusst.

Sie erwartete eine spöttische Antwort, doch stattdessen trat eine Pause ein, und dann fing Tom Jordan an zu lachen. Es war ein tiefes, kehliges Lachen, das die Fältchen in seinen Augenwinkeln vertiefte. Seine grünen Augen funkelten wie das Meer an einem sonnenheißen Tag.

„Und deshalb haben Sie eine der begehrten Oberarztstellen am Harbour ergattert.“

Hayley ließ die Arme sinken und entspannte sich. Für jemanden wie Tom Jordan kam diese Bemerkung einem Kompliment gleich. „Es stand ganz oben auf meiner Prioritätenliste.“

„Auf meiner auch.“ Sofort war er wieder da, der düstere Ausdruck, aber dann nahm Tom sich zusammen. „Sie haben einen höllischen Tag hinter sich“, fuhr er fort. „Und wie Sie sicher bemerkt haben, war meiner auch nicht viel besser. Was halten Sie davon, ihn wenigstens angenehm ausklingen zu lassen, und ich lade Sie zum Essen ein?“

Sie war so überrascht, dass sie den Atem anhielt. Dinner mit Tom Jordan?

Nichts lieber als das, wenn sie sicher sein könnte, dass sie mit dem Neurochirurgen am Tisch saß. Hayley brannte darauf, mehr über seine richtungweisenden Operationen zu erfahren.

Aber die Vorstellung, einen Abend mit dem Mann Tom Jordan zu verbringen, beunruhigte sie. Und doch, wenn sie ehrlich war, so reizte es sie sehr, die Einladung anzunehmen. Er war ein umwerfend gut aussehender Mann.

Und er hat einen Schatten auf der Seele, pechschwarz wie sein Haar. Mit ihm essen zu gehen, war keine gute Idee. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber …“

„Aber was?“, unterbrach er sie.

Sie war drauf und dran, ihm eine gesalzene Abfuhr zu erteilen, doch etwas in seiner Miene ließ sie innehalten. Er erwartet, dass du Nein sagst. Der Gedanke ging ihr ans Herz. Glaubte er wirklich, dass sie seine Einladung zurückweisen würde, weil er blind war?

Sie straffte die Schultern. „Ich wollte sagen, dass ich für ein Dinner im Restaurant nicht richtig angezogen bin.“

„Angezogen oder nackt macht für mich keinen Unterschied. Aber ich vermute, dass Sie etwas anhaben.“

Als er das Wort nackt aussprach, prickelten ihre Brüste, als hätte er sie berührt. Hayley war froh, dass er nicht sehen konnte, wie sich plötzlich ihre Brustspitzen unter dem T-Shirt abzeichneten. „Natürlich habe ich etwas an.“

Tom zog die dunklen Brauen hoch und streckte den Arm aus. „Dann sind Sie richtig angezogen. Los, entscheiden Sie sich, ehe ich meine Meinung ändere.“

„Wie charmant Sie sind. Ich bin überwältigt.“ Aber sie hakte sich bei ihm ein. Sofort spürte sie, wie seine Wärme durch ihr langärmeliges T-Shirt drang.

„Natürlich sind Sie das.“

Er lächelte, und ihr wurden die Knie weich. Hayley sah die Grübchen in seinen von dunklem Bartschatten bedeckten Wangen, und es war, als stände ein anderer Mann vor ihr. Hatte sie ihn vor ein paar Minuten noch als gut aussehend bezeichnet, so fand sie ihn auf einmal unwiderstehlich.

Worauf habe ich mich da eingelassen?

Tom saß Hayley im Warung Bali gegenüber, einem Restaurant nicht weit vom Krankenhaus entfernt, und fragte sich, was zum Teufel in ihn gefahren war.

Er wusste auch nicht mehr, wie es passiert war. War er gerade noch zutiefst verbittert gewesen wegen der himmelschreienden Ungerechtigkeit, dass er nicht mehr operieren konnte, so hörte er sich im nächsten Moment diese Einladung aussprechen.

Und da er bisher im Warung Bali immer allein gegessen hatte, konnte er auch nicht voraussehen, dass der Wirt Hayley begeistert willkommen hieß und fragte, ob er Champagner bringen dürfe.

Tom hatte sich schnellstens um Schadensbegrenzung bemüht. Dies hier war kein Date. „Hayley ist eine Kollegin am Harbour, Wayan“, betonte er.

„Hallo, Wayan.“ Ihre rauchige Stimme war voller Wärme. „Die Idee mit dem Champagner ist sehr verlockend, aber ich habe Rufbereitschaft. Ein kaltes Mineralwasser genügt vollkommen.“

Sie gaben ihre Bestellung auf, und das Essen ließ nicht lange auf sich warten. Tom stieg der aromatische Duft von Zitronengras, Koriander, Erdnuss-Saté und Chili in die Nase.

Wayan stellte ihm den Teller hin. „Die Erdnuss-Spieße liegen auf zwölf Uhr, der Reis auf drei und das Gemüse auf neun“, nannte er die Anordnung der Speisen, so wie er es immer tat, seit Tom ihn bei seinem ersten Besuch darum gebeten hatte.

Sie aßen fast schweigend, machten nur gelegentlich Bemerkungen über das Essen. Als Tom schließlich seine Serviette zusammenlegte, hörte er das Klingeln von Eiswürfeln gegen Glas. Aber es klang nicht so, als würde Hayley einen Schluck trinken. Nein, das Geräusch war stetig, und Tom vermutete, dass sie mit dem Strohhalm gedankenverloren in ihrem Drink rührte.

Tom unterdrückte ein Seufzen. Er musste das Schweigen brechen. Allerdings hatte er noch nie einen Sinn darin gesehen, belangloses Zeug zu schwätzen. Er dachte an seine erste Begegnung mit Hayley. „Seit wann fürchten Sie sich im Dunkeln?“

Als sie anfing zu husten, wurde ihm klar, dass er nicht mitbekommen hatte, dass sie gerade etwas getrunken hatte.

„Seit wann sind Sie blind?“, antwortete sie schließlich mit einer Gegenfrage.

Wieder musste er lächeln. Schon zum dritten Mal an einem Tag – was für ein Rekord. „Das heißt, Ihre Angst vor Dunkelheit ist ein Tabuthema?“

„Ihre Erblindung auch?“

Tom überlegte. „Ja und nein.“

Ihre verschwommene Gestalt beugte sich vor. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Stellt einer von uns eine Frage, die dem anderen unangenehm ist, sagt dieser einfach: ‚Kein Kommentar.‘“

Eine Frau wie Hayley Grey war ihm noch nicht begegnet. Die meisten Frauen wollten alles bis in die kleinste Einzelheit wissen und waren beleidigt, wenn man dazu nicht bereit war. Ihre Idee gefiel ihm. „Gut, dann fangen Sie an.“

„Okay.“ Der Tisch bewegte sich leicht, so als hätte Hayley die flachen Hände darauf abgestützt. „Die Angst im Dunkeln habe ich seit meiner Kindheit – und sagen Sie nicht, das hätte ich mir längst abgewöhnen müssen.“

„Ich lebe seit zwei Jahren in Dunkelheit, nachdem mich in Perth ein SUV gerammt hat. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zu einer Konferenz und bin mit dem Kopf zuerst auf dem Asphalt gelandet.“

Wie bunte Fetzen blitzten Erinnerungen in seinem Bewusstsein auf. Tom schob sie beiseite. „Man hat mir gesagt, dass meine Haut erstaunlich gut verheilt ist und ich keine einzige Narbe habe. Aber der Aufprall hat mir das Augenlicht genommen.“ Er zwang sich, die Hände ruhig im Schoß zu halten, während er sich für ihre Reaktion wappnete. Wahrscheinlich würde sie die gleichen Plattitüden von sich geben wie alle anderen.

„So ein Mist.“

Schon wieder verblüffte sie ihn. Nein, diese Frau war nicht wie die anderen. „Großer Mist, und jetzt hier wieder in Sydney zu sein, ist …“ Keine Schwächen zugeben, niemals. Tom unterbrach sich, bevor er mehr preisgab, als ihm lieb war.

„Eine Herausforderung? Sinnvoll? Eine Erleichterung?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht, ob ich erleichtert bin.“ Er strich mit dem Finger über den Löffel, den Wayan ihm als Orientierungshilfe hingelegt hatte. Toms Weinglas stand genau oberhalb der Spitze des Löffels.

„Warum sind Sie zurückgekommen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es zieht einen eben nach Hause.“

„Wegen der Familie?“ Ihre sonst so feste Stimme bebte kaum merklich.

Tom versuchte, nicht an seine Mutter zu denken. „Nein, aber ich bin hier aufgewachsen.“

„Und Sie haben im Harbour gearbeitet.“

Ihre Worte waren wie ein Messerstich ins Herz. „Erzählen Sie mir nicht, dass Vorträgehalten genauso wichtig ist wie Operieren. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass das nicht einmal annähernd vergleichbar ist.“

Er erwartete, dass sie ihm widersprach, stattdessen hörte er sie tief aufseufzen. Und er wusste genau, was sie meinte. „Es hat etwas, wenn man das Skalpell in der Hand hält, kurz bevor man den ersten Schnitt setzt“, fügte er hinzu.

„Oh ja, das kenne ich!“ Begeisterung schwang in ihrer rauchigen Stimme mit. „Da ist dieses Glücksgefühl, aber man ist gleichzeitig aufgeregt und besorgt, weil immer die Möglichkeit besteht, dass selbst bei einem Routineeingriff Komplikationen auftauchen können.“

Besser hätte sie ihn nicht beschreiben können, den einen Moment, den jeder Chirurg durchlebte. Doch statt der gewohnten Verbitterung verspürte Tom ein Interesse, das er seit zwei Jahren nicht mehr empfunden hatte.

Wie sehr hatte er es vermisst, mit Kollegen zu reden … mit einem Chirurgen. Natürlich hatte er mit Ärzten gesprochen, aber da war er der Patient gewesen … ein himmelweiter Unterschied.

„Und in der Neurochirurgie hält selbst das Bekannte manchmal unangenehme Überraschungen bereit“, sagte er.

Der feine Luftzug, den er im Gesicht spürte, brachte den betörenden Duft nach Magnolien mit sich. Tom begriff, dass Hayley sich wieder vorgebeugt hatte.

„Selbst mit MRT?“

„Die Schichtaufnahmen sind eine ausgezeichnete Straßenkarte, um die richtige Richtung zu finden. Aber wie so oft bei Fotos geht es mitunter um das, was nicht auf dem Bild ist.“

„Jeder menschliche Körper ist die Variation eines Themas.“

Ihr Enthusiasmus faszinierte ihn. „Stimmt genau“, bekräftigte er. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich …“ Greller Techno-Beat zerriss die Luft.

„Entschuldigung, das ist mein Handy.“ Der Lärm verstummte. „Hayley Grey.“

Tom blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören. Die Worte waren ihm vertraut, weil er früher fast dieselben gesagt hatte – beim Abendessen, im Bett, im Wagen, auf seinem Fahrrad.

Hayley atmete scharf ein. „Wann …? Notaufnahme …? Wie viele? Fünf Minuten … okay, dann in zwei. Rufen Sie David Mendez an … Bis gleich.“

Sein Puls schlug schneller. „Gibt es ein Problem?“

„Verkehrsunfall.“ Er hörte, wie sie den Stuhl zurückschob. „Ich muss zurück.“

Langsam schob auch er seinen Stuhl zurück und erhob sich. Wenn er nur wüsste, wo sie stand! Der vertraute Ärger wurde besänftigt, als er ihren Duft wahrnahm.

„Tom …“ Ihre Hand schob sich in seine, und er spürte warme, samtigweiche Haut.

Erregende Hitze durchströmte ihn, so heftig, dass er die andere Hand zur Faust ballte, um sich zu beherrschen. Sonst hätte er Hayley an sich gezogen. Es war, als wäre sein Körper nach langem Schlaf erwacht und völlig ausgehungert. Tom wollte Hayley berühren, erkunden, ob ihr Körper so üppig und sexy war, wie ihre sinnliche Stimme und ihr Duft nach Sonne und Sommergärten es versprachen.

Sie drückte seine Hand. „Danke für das beste Saté, das ich außerhalb Asiens gegessen habe.“

„Keine …“ Tom räusperte sich. „Keine Ursache. Ich bringe Sie zurück.“

„Vielen Dank, aber ich muss rennen.“

Tom hörte das Bedauern in ihrer Stimme, noch bevor sie das Wort ausgesprochen hatte. Er konnte nicht rennen …

Hayley entzog ihm ihre Hand. „Ich werde nicht fragen, ob Sie zurechtkommen, weil Sie mir wahrscheinlich sonst den Kopf abreißen.“

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Da haben Sie recht.“

„Ich habe in vielem recht. Gute Nacht, Tom.“

„Gute Nacht, Hayley.“

Eilige, sich schnell entfernende Schritte, das Bimmeln der Glocke, als die Tür aufgezogen wurde, eisige Winterluft, die Toms Knöchel umwehte, dann der dumpfe Laut, als die Tür ins Schloss fiel. Hayley war weg, lief jetzt die Straße hinunter, in Gedanken bei ihrem Notfall.

Und er konnte sie nicht ins Krankenhaus begleiten, geschweige denn, ihr dabei helfen, Menschenleben zu retten.

Zorn kochte in ihm hoch, und er suchte mit bebenden Händen die Rückenlehne seines Stuhls. Mit einem unterdrückten Fluch ließ er sich auf die Sitzfläche sinken, stieß dabei mit einer Hand gegen seinen Teller. Kalter Reis quoll zwischen seinen Fingern hervor. Tom fluchte wieder und schob den Teller von sich. Ein lautes Klirren folgte, als dieser in Scherben auf dem Boden landete.

Enttäuschung und Wut, oft verspürte Gefühle an diesem Tag, überrollten ihn wie eine erstickende Woge. Tom schnappte unwillkürlich nach Luft, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Wenn sie zurückkamen, waren sie eine Weile nicht da gewesen.

In der Zeit beim Abendessen.

Eine Stunde Zeit, die du mit Hayley verbracht hast.

Aber jetzt waren sie wieder da, stärker und niederschmetternder als vorher. Es erinnerte ihn daran, dass sein Leben ein armseliger Abklatsch dessen war, wie er vorher gelebt hatte. Verzweiflung krallte sich in ihn, drohte ihn in das dunkle Loch zu zerren, aus dem er sich mühsam immer wieder hervorgearbeitet hatte.

Hayley würde operieren. Leben retten. Und er? Patschte mit der Hand in kaltes Essen und warf Teller zu Bruch. Tom rang nach Atem. Was nützte es ihm, dass Hayley nach sonnigen Gärten duftete oder dass ihre heisere Stimme Verlangen in ihm weckte wie eine leidenschaftliche Liebkosung? Wenn der Versuch, ein normales Leben zu führen, ihn nur daran erinnerte, was er alles verloren hatte, würde er ein für alle Mal darauf verzichten.

„Wayan!“, rief er ungehalten, ohne sich darum zu scheren, dass ihn alle anderen Gäste sicher anstarrten, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.

„Ja, Tom?“

„Bringen Sie mir den Rest Rotwein. Sofort.“

Er hatte erst ein Glas aus der Flasche getrunken, aber Tom war fest entschlossen, sich mit Connawarras bestem Merlot zu betäuben und Hayley Grey zu vergessen.