E s war der erste Unterrichtstag nach der Winterpause. Die Schüler eilten durch die Gänge zum Frühstück oder genossen ihren Kaffee draußen an der frischen Luft dieses Januarmorgens. Der Winter war etwas milder als der letzte und die Schüler genossen es, mehr Zeit draußen verbringen zu können. Sie hatten die Möglichkeit, auf dem Gelände spazieren zu gehen, ohne durch einen meterhohen Schnee stapfen zu müssen.
Horace war besonders froh darüber, da er nicht jeden Morgen den Gehweg für die Lehrer freischaufeln musste. Ein bisschen Salz streuen gegen das Eis und ein kurzer Rundgang jeden Morgen waren die einzigen Aufgaben, die Horace erledigen musste, um sicherzustellen, dass die Lehrer wohlauf zur Schule kamen.
Einige der Schüler waren etwas enttäuscht, dass sie keine riesigen Schneemänner bauen konnten, wie in den letzten Jahren, aber das hielt einige von ihnen nicht davon ab, es zu versuchen. Überall auf dem Gelände standen daher winzige Schneemännchen wie Soldaten und bewachten die Gehwege. Magische Energie schwebte um sie herum und sorgte dafür, dass sich ihre Köpfe drehten, wenn ein Schüler vorbeiging. Einige verzauberten ihre Schneemänner sogar mit der Absicht, dass sie auf Schüler zusprangen, die nicht aufpassten. Dies verursachte anfangs ein wenig Panik unter den Schülern, später aber amüsierte es alle, als die Oberstufenschüler die Schneemänner auf dem Spielfeld bauten. Es war eine spielerische Art, sich die Zeit zu vertreiben.
Die Bibliothek bot während des Frühstücks eine zusätzliche tägliche Lernphase an, damit die Schüler, die es versäumt hatten, früh genug mit dem Lernen zu beginnen, für ihre Prüfungen pauken oder ihre Hausaufgaben erledigen konnten. An diesem Morgen machten mehrere Leute davon Gebrauch. Sie hatten Lese- oder Schreibaufgaben bekommen, die in den Winterferien erledigt werden sollten und kaum jemand hatte sie gemacht.
Miles, ein Schüler aus dem zweiten Schuljahr, war einer der Kandidaten, der das Lesen der beiden erforderlichen Kapitel bis zum ersten Schultag aufgeschoben hatte, sodass er früh zur Bibliothek geeilt war.
»Miles, bist du mit dem Lesen fertig?«, fragte einer seiner Freunde im Vorbeigehen.
»Ja, seit etwa zehn Minuten. Ich hatte in der Winterpause zu viel zu tun, um mich um Einführungskapitel für Zauberei zu kümmern. Ist es nicht eh genau das, was wir letztes Jahr schon gelernt haben?«
Sein Freund lachte und schüttelte den Kopf. »Wenn du im Unterricht tatsächlich aufgepasst hättest, würdest du das wissen. Wenn man bedenkt, dass du das ganze Halbjahr damit verbracht hast, mit Mabel zu flirten, würde ich sagen, dass das Lesen der Einführungskapitel heute Morgen wahrscheinlich eine gute Idee war.«
Miles schüttelte den Kopf. »Ja, ja whatever. Ich habe sie gelesen und ich bin bereit für den Unterricht. Außerdem habe ich das Fach letztes Jahr mit einer Eins abgeschlossen, also war es anscheinend egal, ob ich aufgepasst habe.«
Sein Freund grinste. »Nur, weil du die Hälfte der Zeit mit meinen Notizen geschummelt hast. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Mabel dir mit ihrer Magie geholfen hat, zu mogeln. Aber hey, du hast es geschafft, oder?«
Miles winkte ab und ging weiter, während er lächelte. Letztes Jahr war er entspannt davongekommen und er wusste, dass er auch dieses Jahr keine Probleme bekommen würde. Sein Vater arbeitete für den Teil der Regierung, der sich mit Magie beschäftigte und hatte ihm sein ganzes Leben lang Zaubersprüche beigebracht. Wie schlimm konnte ein Zauberkurs also schon werden?
Miles zog seinen Rucksack auf und machte sich auf den Weg zur Cafeteria. Als er an den Verkaufsautomaten im Eingangsbereich vorbeikam, hörte er ein quietschendes Geräusch und blieb abrupt stehen. Langsam drehte er sich zu einem der Automaten um und legte den Kopf schief, während er vorsichtig darauf zuging. Er schaute hinein und blickte einem Eichhörnchen in die Augen, das ihn verwegen anstarrte und fröhlich an einem Kinder-Schokoriegel herumkaute.
Miles schaute sich um, aber es war sonst niemand mehr in der Nähe. Er machte noch einen Schritt nach vorne und versuchte zu erkennen, wie zum Teufel das Eichhörnchen dort hineingekommen war. Es ließ seinen Schokoriegel fallen und quietschte aus vollem Halse. Es schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen das Glas und brachte den gesamten Automaten in Bewegung. Miles sprang zurück und schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich nur zu gut an den Vorfall im Gemeinschaftsraum der Jungs im Jahr zuvor.
»Nicht schon wieder!«, stöhnte Miles, wandte sich ab und ließ das Eichhörnchen zurück, das sich den Schokoriegel mit einem fröhlichen Zirpen zurückholte.
* * *
Der Speisesaal war gefüllt mit wartenden Schülern. Sie rieben sich die Hände und schauten erwartungsvoll auf ihre Teller, bis das Essen wie von Zauberhand erschien. Für viele von ihnen war es das erste große Frühstück nach ihrer Rückkehr. Zu Hause, wo ihre Eltern mit der Arbeit und anderen Dingen beschäftigt waren, hatten sie sich mit einer Schale Müsli oder aufgetauten Waffeln zufriedengeben müssen.
Der Geruch von Bacon wehte durch den Raum – er kam von einem Tisch in der Nähe der Empore, an dem ein Schüler aus dem dritten Schuljahr allein saß. Er lächelte breit, als er auf seinen Teller hinunterblickte und zunehmend mehr Bacon erschien, bis er ihm fast bis zu seinem Kinn reichte.
Professor Hudson beobachtete von ihrem Platz aus, wie der Junge aufgeregt den Bacon in seinen Mund schaufelte. Sie hob eine Augenbraue, ging hinüber und tippte dem Jungen auf die Schulter. Dieser zuckte zusammen und schaute langsam zu der Lehrerin auf, die ihn finster anblickte. Sie verschränkte die Arme, legte ihre Stirn in Falten und nickte in Richtung seines überquellenden Tellers mit Speck.
»Zu einem guten Start in den Tag gehört es, ihn mit einem nahrhaften Frühstück zu beginnen. Du solltest dir das Wort ausgewogen merken, es bedeutet, dass ich von dir erwarte, dass du wenigstens etwas Obst zu diesem Teller an Schweinefleisch hinzufügst.«
»Ja, Professor Hudson.« Der Junge seufzte und sie nickte zufrieden, als sie zu ihrem Platz zurückging.
Er atmete tief durch und sah auf seinen Teller mit Speck hinunter.
»Blödes Obst«, murmelte er vor sich hin.
Langsam bildete sich ein schelmisches Lächeln auf seinem Gesicht. Er nickte und eine einzelne Erdbeere erschien oben auf dem Berg Bacon. Er warf einen Blick zu Professor Hudson, die nur den Kopf schüttelte und sich wieder ihrem Kaffee widmete, während sich die Freunde des Jungen zu ihm gesellten. Sie machten sich über ihn lustig, aber taten es ihm gleich, indem sich ihre Teller mit Bacon, Würstchen und einem einzelnen Stück Obst füllten.
Mister Decker sah von seinem Teller zu Professor Hudson auf, als er sie kichern hörte. Sie zuckte mit den Schultern und setzte ihre Kaffeetasse ab.
»Ich schätze, man kann sie nicht alle gewinnen«, seufzte sie.
»Eines Tages werden diese Kinder zurückblicken und sich wünschen, sie hätten auf dich gehört. Natürlich erst, wenn ihr Arzt ihnen sagt, dass ihre Arterien aus Speck bestehen.« Mister Decker lachte laut auf.
Professor Hudson kicherte erneut, hob das eine Stück Bacon von ihrem Teller auf und grüßte die Jungs damit. Wenn sie sie nicht überzeugen würde, konnte sie es ihnen auch genauso gut gleichtun, dachte sie sich.
* * *
»Warum sieht die Hälfte der männlichen Schülerschaft in diesem Raum so aus, als wäre sie bereit, jeden Moment aufzustehen und wegzulaufen?«, fragte Kathleen und steckte sich ein Stück Wassermelone in den Mund.
»Weil heute der Tag ist, an dem sie uns offiziell mitteilen, ob wir es ins Louper-Team geschafft haben«, erklärte Luke aufgeregt.
Ethan gab ihm ein High five und schaufelte sich einen Löffel Froot Loops in den Mund. »Aber du weißt doch schon, dass du es geschafft hast, Luke. Der Trainer würde dich bei so was ja nicht anlügen.«
Izzie war nervös. Sie wusste, dass es Luke viel bedeutete, also stellte sie sich an die Tür des Speisesaals als Luke den Raum in Richtung schwarzes Brett verließ und wartete auf seine Rückkehr.
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Alison, als sie die Ströme von Angst in Izzies Energie sah.
»Och«, stöhnte sie. »Ich möchte nur, dass alles gut für ihn läuft, weißt du? Er hat schon so viel durchgemacht, als Wandler und so und wenn er nicht im Team wäre, würde das seinen Lebensmut zerstören.«
»Was ist eigentlich mit deinen Problemen? Hast du noch Visionen?«
Izzie drückte die Hand von Alison. »Darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist.«
Nach etwa fünf Minuten und einer ganzen Reihe von Anfeuerungsrufen kam Luke mit einem breiten Lächeln im Gesicht durch die Tür zurück, gefolgt von Ethan mit einem leicht verwirrten Blick.
»Ich habe es in die Mannschaft geschafft«, bestätigte Luke stolz. Er beugte sich vor und küsste Izzie auf die Wange. »Und überraschenderweise hat der Trainer auch Ethan ins Team aufgenommen, obwohl er ja nur aus Jux ein bisschen geholfen und geübt hat.«
»Wow! Das ist wirklich toll!«
»Danke. Natürlich ist das nur der erste Schritt. Ich muss mir den Hintern aufreißen und mein Bestes geben, auf und neben dem Spielfeld. Alles, was ich in diesem Spiel tue, überträgt sich auf meinen Charakter, also muss ich vorbereitet sein.«
»Ich bin sicher, du wirst die Session rocken. Außerdem bist du unglaublich gut auf dem Spielfeld, also sollte dein Charakter auch nicht darunter leiden.«
Luke lächelte sie an und drückte ihre Schulter. »Apropos unglaublich sein, sie haben die Besetzung für das Stück aufgehängt, für das du vorgesprochen hast. Du solltest es dir ansehen.«
»Ja!« Kathleen quiekte und verschluckte sich fast an ihrem Obst. »Komm schon, steh auf! Wir müssen sehen, mit welcher Rolle du berühmt werden wirst!«
Alison stand auf und zog Izzie von ihrem Stuhl. Izzie war nervös und voller schnell kreisender Energie. »Tief durchatmen. Entweder hast du Dorothy bekommen oder nicht. So oder so, du hast dich phänomenal geschlagen, das sagen jedenfalls alle außer Scarlett.«
»Genau«, antwortete Izzie, atmete lautstark aus und ging mit Alison und Kathleen zur Liste. »Entspann dich. Es wäre nicht das Ende der Welt.«
Es gab ein Gedränge um die Liste und mindestens fünf Erstklässler rollten mit den Augen.
»Toll, ein verdammter fliegender Affe. Meine Mutter wird so stolz sein«, stöhnte einer ironisch.
Es dauerte nicht lange, bis Izzie ihren Namen ganz oben neben Dorothy fand. Sie stieß einen Freudenschrei aus und hielt sich den Mund zu. Das war genau die Bestätigung, die sie gebraucht hatte. Nachdem sie bei dem Vorsprechen fast alle mit einem Energieschub umgehauen hatte, war sie sich eigentlich sicher gewesen, dass sie die Hauptrolle nicht bekommen würde.
»Ich hab sie! Ich habe tatsächlich die Rolle der Dorothy bekommen!« Izzie lachte und drückte Alisons Hand.
»Ich wusste, dass du es schaffst. Das ist für mich überhaupt keine Überraschung.«
»Das ist so aufregend«, stieß Kathleen hervor und ergriff ihre andere Hand. »Du bist wie geschaffen für diese Rolle.«
»Das hoffe ich doch«, antwortete Izzie lachend. »Denn ich werde sie vor der ganzen Schule spielen.«
»Werd jetzt bloß nicht nervös«, warnte Alison. »Ihr habt noch nicht einmal mit den Proben begonnen.«
»Genau und vertrau mir – sobald du dich mit deinem Text und den anderen Schauspielern wohlfühlst, vergisst du die ganze Aufregung in weniger als zwei Sekunden«, sagte Kathleen überzeugt.
»Wirklich? Ich …« Sie hielt inne, als ein Raunen durch die Menge ging.
Scarlett stapfte auf das schwarze Brett zu, schob Alison und Izzie zur Seite, stemmte die Hände in die Hüften – und ihr selbstgefälliges Gesicht wirkte plötzlich wie versteinert. Zwei Reihen unter Izzie stand Scarletts Name, direkt neben dem der guten Hexe Glinda, worüber sie nicht im Geringsten erfreut aussah.
Sie schnaufte und drehte sich blitzschnell zu Izzie um. Sie wedelte mit ihren Fingernägeln direkt vor ihrem Gesicht herum.
»Ich schätze, die Rolle ist perfekt für dich. Ein Waisenkind, das ein Waisenkind spielt.« Damit stürmte Scarlett mit ihrer Gruppe von Untergebenen davon, den ganzen Weg über fluchend und keuchend.
Alison schmunzelte, wandte sich Izzies aufgeregter Energie zu und zuckte mit den Schultern. »Sie ist nicht so glücklich über ihre Rolle, schätze ich?« Izzie lachte und nahm Alisons Hand.
Die beiden holten Kathleen im Treppenhaus ein, wo diese Plakate in ihren Armen balancierte. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass sie weggegangen war und wunderten sich, wann sie die Zeit gehabt hatte, so viele Plakate aufzutreiben. Aber wenn sie etwas über Kathleen wussten, dann, dass sie sich zu ihrem Wissen über Magie bedeckt hielt und mehr wusste, als sie zugab.
Sie schwenkte ihren Zauberstab und mehrere der Poster flogen gleichzeitig durch die Luft und an die Wände. Sie lächelte Alison und Izzie an und reichte Izzie eines der Plakate.
»Ich kandidiere für das nächste Jahr als Stufensprecherin«, sagte Kathleen aufgeregt. »Mein Vater hat mir geholfen, die Plakate zu gestalten. Mir ist heute Morgen klar geworden, dass die Wahl bald ansteht, also dachte ich mir, nun wäre ein guter Zeitpunkt, um sie aufzuhängen.«
Izzie begutachtete das Plakat. Rechts stand in großen, fettgedruckten Buchstaben: Wählt Kathleen zur Stufensprecherin ! Darunter und auf der linken Seite waren Fotos von Kathleen in Paris und an einem Stand zu sehen. Die Bilder waren verzaubert und bewegten sich wie Videos auf dem Papier: Kathleen rannte, lachte und sah dabei wie immer fabelhaft aus. Darunter war ein weiteres magisches Foto, auf dem sie dem Betrachter des Plakats einen Kuss zuwarf und kleine magische Herzen wie Seifenblasen hinausschweben ließ. Es war genau das, was man von Kathleen erwarten würde und überraschenderweise liebte Izzie es.