Kapitel 9

F ür den Rest des Tages grübelte Alison darüber nach, was genau im Unterricht passiert war. Direkt in der darauffolgenden Unterrichtsstunde, hatten sie bei Professor Powell lernen müssen, wie man Schutzzauber durchbricht. Sie hatte gehofft, dass sie den Rest des Tages ohne Magie auskommen würde, aber sie war auf einer Schule für Magie, also konnte sie sich nicht darüber aufregen. Sie nahm ihren Platz neben Izzie ein und wartete darauf, dass der Unterricht begann. Izzie ergriff ihre Hand und drückte sie tröstend. Alison lächelte und drückte ihre dankbar zurück.

»In Ordnung, lasst uns direkt mit der heutigen Lektion beginnen. Wir werden Schutzzauber brechen oder zumindest lernen, wie man es macht. Dafür müssen wir vorher ein paar Dinge durchgehen.«

Professor Powell drehte der Klasse den Rücken zu und begann mit seinem Zauberstab an die Tafel zu schreiben. In der vorderen Reihe saßen neben Izzie und Alison einige der dunklen Zauberer und Hexen, die sich unterhielten, herumalberten und nicht aufpassten. Winter, einer der dunklen Zauberer, hatte im Vergleich zu den anderen immer relativ nett gewirkt. Er war zurückhaltend, lachte nie wirklich über die Streiche, die die anderen machten und wenn niemand sonst da war, war er sehr freundlich zu Alison und Izzie. Mit seinen Freunden in der Nähe war er jedoch anders. Der Zauberer neben ihm stupste ihn an und blickte zu Alison.

»Ich frage mich, ob sie es dieses Mal durch den Unterricht schafft, ohne alle in Gefahr zu bringen.«

Beide lachten und Winter rollte mit seinen Augen über Izzie und Alison. Izzie biss die Zähne zusammen und schob ihre Hände mit den Handflächen nach oben unter ihren Tisch. Dann ließ sie die Energie in ihre Fingerspitzen fließen. Sie schnippte mit den Fingern ihrer rechten Hand und traf sowohl Winter als auch den anderen Jungen mit erbsengroßen Feuerbällen am Hinterkopf. Durch Winters Aufschrei drehte sich Professor Powell blitzschnell mit einem genervten Blick zurück zur Klasse. Izzie bewegte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, während Winter schwieg und seine Freunde ihr leise drohten.

»Es sieht so aus, als müssten wir dem Waisenkind eine Lektion erteilen«, kicherten sie.

Alison drückte Izzies Hand erneut und lehnte sich zu ihr. »Lass es sein. Das ist es absolut nicht wert.«

Von Izzies anderer Seite lehnte sich Ethan heran und murmelte: »Wer benennt sein Kind nach einer Jahreszeit?«

Der Lehrer malte den Punkt des letzten I an die Tafel und erinnerte die Klasse mit ernstem Gesicht daran, wie wichtig sein Unterricht war. »Ich weiß, ich habe das schon hundertmal gesagt, aber ich werde es so lange wiederholen, bis ich sicher bin, dass ihr es alle verstanden habt. Der Sinn, die Geschichte der dunklen Magie zu lernen, ist, dass man erfährt, wie man sie bekämpfen kann und nicht, wie man sie benutzen kann. Jetzt möchte ich drei Freiwillige bitten, nach vorne zu kommen und sich selbst zu verzaubern.«

Er hob eine Augenbraue und wartete darauf, dass sich jemand freiwillig meldete. Nach ein paar Augenblicken befürchtete er, wahllos Leute auswählen zu müssen, aber dann hoben zwei Lichtelfen und ein Zauberer ihre Hände. Er nickte und winkte sie nach vorne.

»Sprecht eure Schutzzauber und konzentriert euch darauf, sie aufrechtzuerhalten. Ich werde versuchen, sie mit einem Zauber zu brechen, aber habt keine Angst. Ich habe die volle Kontrolle über meine Magie und euch wird nichts passieren.«

Die drei Freiwilligen belegten sich schnell mit einem Schutzzauber. Die beiden Elfen tarnten sich als menschliche Wesen, wohingegen sich der Zauberer in eine große pelzige Kreatur verwandelte. Xander gluckste und nickte, dann zog er seinen Zauberstab und flüsterte den Zauber. »Reperire Falschheit. « Mit einem Zischen seines Zauberstabs peitschten funkelnde Stränge weißer Magie um die drei Freiwilligen herum, schossen dann zur Decke und überschütteten sie mit Glitzer. Die beiden Elfen verloren ihre Tarnung direkt. Ihre Ohren wurden wieder spitz und ihre Haut blass. Der Tarnzauber des Zauberers hingegen bekam nicht mal einen Riss und Xander lachte verbissen über die Herausforderung. Er schoss einen stärkeren Magiestrom ab, woraufhin der Zauberer zwischen seinem wirklichen Ich und seiner verzauberten pelzigen Tarnung hin und her flackerte, bis der Junge schließlich wieder vollständig zu erkennen war.

Daraufhin forderte einer nach dem anderen den Professor mit einem Tarnzauber heraus. Natürlich war Professor Powell geübt in seiner Magie und konnte sie alle nach und nach enttarnen. Nach etwa zwanzig Minuten stand Izzie aufgeregt auf, aber als der Lehrer sie zurückweisend ansah, zögerte sie. Ihr war, als würde er ihr sagen wollen, dass sie sich wieder hinsetzen solle und wenn Professor Powell ehrlich war, wollte er dies auch tun, aber nach einem kurzen Zögern entschied er sich, einen anderen Zauber an ihr auszuprobieren.

Lila und grüne Funken schossen aus der Spitze seines Zauberstabs und ohne nachzudenken, hob Izzie sofort ihre Hände. Energie strömte durch sie hindurch, als sie einen Schild erschuf, das sich um ihren Körper legte. Es war fast so, als hätte sie den Zauber erkannt, bevor er ausgesprochen worden war und ihre eigene Reaktion überraschte sie. Professor Powells Zauber prallte an den strahlenden Schallwellen ab, aber das daraus resultierende Klimpern, das alle anderen hörten, bekam Izzie nicht mit, denn ein Gedanke schoss durch ihren Kopf.

Das war der erste Zauber, den mir meine Mutter beigebracht hat.

Izzies Kopf schoss hoch und sie ließ die Schilde fallen. Professor Powell senkte zur gleichen Zeit seinen Zauberstab. Er hatte nicht mit diesem Blick des Schocks gerechnet, der sich in ihrem Gesicht ausgebreitet hatte. Ihre Augen glitzerten und ihr kamen die Tränen. Izzie war erschrocken über ihren Gedanken und über ihre Fähigkeit, Magie zu nutzen, von der sie nicht wusste, dass sie sie gelernt hatte. Außerdem war es eine Erinnerung an ihre Mutter, die sie nie zuvor gehabt hatte. Es fühlte sich an, als stünde die Zeit still, während sich der Gedanke in ihrem Kopf wiederholte. Alison beobachtete die Ströme von Anspannung und Traurigkeit, die sich in Izzies Energie kräuselten und sah, wie sich der Zauber auflöste. Sie wusste nicht, was passiert war, aber so wie es aussah, hatte Izzie eine Art von Vision gehabt.

Izzie wusste nicht, ob es wirklich eine Vision war, aber sie glaubte, dass da etwas in ihr war, das mehr über ihre Mutter wusste. Es war, als hätte ein Energiestoß sie direkt in die Brust getroffen und sie hatte keine Ahnung, an wen sie sich wenden sollte. Dieser Gedanke, kombiniert mit ihren Albträumen, ließ sie glauben, dass dies alles kein Zufall war. Sie war es leid, das alles nicht zu verstehen und so viele unbeantwortete Fragen zu haben. Izzie versuchte herauszufinden, woher dieser Gedanke kam. Sie suchte in ihrem Kopf nach mehr Informationen und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das erste Mal Magie ausgeübt hatte.

Meine Mutter? K annte ich sie? L ebt sie noch?

Eine Träne glitt über Izzies Wange und sie spürte die Nässe an ihrem Kinn heruntertropfen. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie im Unterricht und umgeben von Mitschülern war. Ohne sich umzusehen, schnappte sie sich ihre Bücher und rannte aus dem Raum.

Kathleen, Aya, Emma und Alison waren bereits von ihren Stühlen aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür, um Izzie hinterherzugehen. Der Professor wusste jedoch, dass Izzie etwas Zeit für sich brauchte. Etwas Zeit, um herauszufinden, was los war, sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu sortieren. Er schwang seinen Zauberstab und erzeugte eine Barriere vor der Tür. Die Mädchen prallten daran ab und landeten auf ihren Hintern am Boden. Sie blickten über ihre Schultern zum Professor, der eine Augenbraue hob und auf ihre Plätze deutete, bevor er sich wieder der Tafel zuwandte.

»Wo waren wir?«

Als die Mädchen Platz genommen hatten, hielt der Professor einen Moment lang inne und kurz war Sorge in seinem Gesicht zu erkennen. Er fragte sich, ob sie gemerkt hatten, dass er wegen Izzie misstrauisch war. Er fand das Mädchen schon seitdem er es kennengelernt hatte etwas sonderbar und als ihre Magie wuchs, wuchs auch sein Verdacht. Er räusperte sich und fuhr mit dem Unterricht fort, denn er wusste, dass er zu diesem Zeitpunkt nichts tun konnte. Er würde sie aber definitiv im Auge behalten. Misses Berens hielt Izzie immer in ihrer Nähe und das bestimmt nicht nur, weil sie ein Waisenkind war. Er kannte die Direktorin besser und er vermutete, dass hinter Izzie mehr steckte als das, was man ihm erzählt hatte – oder sogar als das, was man ihr erzählt hatte. Sie war ungewöhnlich mächtig und ihre Kräfte wuchsen mit jedem Tag sprunghaft an. Für eine heranwachsende junge Elfe war das nicht die Norm.

Xander war auch nicht der Einzige, der das bemerkt hatte. Selbst Izzie kam ihre Situation immer verdächtiger vor – nicht nur ihre Kräfte, sondern auch ihre Vergangenheit verwirrten sie mehr und mehr. Tränen strömten ihr Gesicht runter, als sie durch die Flure lief und über all die seltsamen Erinnerungen und Träume nachdachte, die sie in letzter Zeit gehabt hatte. Sie grübelte darüber, wie stark ihre Kräfte geworden waren und stellte fest, dass Misses Berens strenger Umgang mit ihr keinen Sinn ergab, wenn sie doch nur eine einfache Lichtelfe war.

Izzie lief die Treppe hinauf, den leeren Flur entlang und zu ihrem Zimmer. Sie riss die Tür auf und schloss sie schnell hinter sich. Für einen Moment lehnte sie sich dagegen und schluchzte unkontrolliert in ihre Hände. Sie hatte das Gefühl, nicht atmen oder denken zu können. Es war, als ob etwas in ihr versuchte, sich zu befreien und ihr mitzuteilen, wer sie war. Gleichzeitig wurde dies jedoch durch etwas sehr Starkes blockiert. Es fühlte sich fast so an, als würde Izzie eine fremde Macht in sich tragen.

Sie ging zu ihrem Bett und ließ ihre Bücher darauf fallen, dann ließ sie sich davor auf den Boden sinken. Mit ihrer Hand vor dem Mund versuchte sie die lauten Schluchzer abzudämpfen. Sie wusste, dass ihre Freunde versuchen würden, ihr zu folgen, aber sie hoffte, zumindest für den Moment alleine sein zu können. Sie war zu aufgewühlt und wollte es nicht allen erklären müssen. Alison war die einzige, der sie von ihren Träumen, ihren Gedanken und ihren Kräften erzählt hatte. Aber selbst Alison wusste nicht alles. Izzie wollte nur einen Moment für sich, um die Gedanken in ihrem Kopf zu sortieren.

Sie holte tief Luft und lehnte ihren Kopf zurück gegen das Bett, blinzelte die Tränen aus ihren Augen und starrte in das Licht an der Decke. Sie versuchte, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen und ging die Ereignisse der letzten Tage und Wochen in ihrem Kopf durch. Zitternd fuhr sie sich mit den Händen durch die Haare und fasste sich an den Hinterkopf, während sie die Knie eng an ihre Brust zog. Sie hatte gedacht, dass es ihren Erinnerungen auf die Sprünge helfen würde, wenn sie einen Moment allein war, aber stattdessen hatte die Zeit zwischen dem Verlassen des Klassenzimmers und dem Ankommen im Schlafsaal dafür gesorgt, dass die Erinnerungen wieder aus ihrem Gedächtnis vertrieben worden waren. Frustriert schlug sie die Hände auf den Boden und schüttelte den Kopf.

»Warum kann ich mich nicht erinnern?«