D ie Schüler feierten bis in die Nacht hinein und alle gingen gut gelaunt ins Bett. Misses Berens war zufrieden. Sie hatte ihr Ziel erreicht, da die Schüler gelernt hatten, dass sie trotz aller Rückschläge und Ungerechtigkeiten, selbst in den dunkelsten Zeiten, in der Lage waren, wieder aufzustehen und das Licht in allem um sie herum zu sehen. Sogar die Kinder der dunklen Familien hatten eine gute Zeit gehabt. Alle waren erschöpft und immer noch durchnässt von dem aufregenden und regnerischen Nachmittag, aber dennoch glückselig durch den spaßigen Abend mit Eis.
Als die Mädchen oben in ihrem Zimmer ankamen, duschten sie und machten sich bettfertig. Es dauerte nicht lange, bis Kathleen, Emma und Aya sich unter ihren Decken zusammengerollt hatten und in ihre Träume von der Louper-Meisterschaft und ihrer Rache an den Coyotes vertieft waren. Izzie und Alison hingegen waren wach und wie immer bereit für einen nächtlichen Ausflug. Izzie konnte vor lauter Angst vor weiteren Visionen und Träumen nicht schlafen und Alison hatte an diesem Tag schon meditiert, also war sie hellwach.
»Komm schon«, sagte Izzie aufgeregt, als sie aus dem Bett kletterte. »Lass uns einen Spaziergang machen. Es ist eine schöne Nacht.«
Alison beobachtete Izzies Energie. Es war das erste Mal seit mehreren Tagen, dass sie sie so positiv gestimmt sah. »Auf jeden Fall! Was sollte ich sonst bitte vorhaben? Schlafen etwa?«, antwortete sie ironisch.
Die Mädchen hielten ein Kichern zurück, als sie ihre Gummistiefel anzogen und sich ihre Regenmäntel schnappten, für den Fall, dass es noch regnen sollte. Sie schlichen durch den Schlafsaal auf den Flur und die Treppe hinunter zu den Eingangstüren. Keiner war mehr auf außer ihnen. Die restlichen Schüler waren zu erschöpft und selbst die Lehrer hatten sich bereits in ihre Hütten verkrochen.
Izzie schaute in den Himmel, während sie über den Rasen gingen. »Der Regen hat aufgehört.«
»Ich fühle auch nichts Nasses mehr«, kicherte Alison.
Die Luft war warm, obwohl es Nacht war und der frühe Sommereinbruch hatte alle Blumen um sie herum zum Blühen gebracht. Selbst in der Dunkelheit konnte Izzie die leuchtenden Farben der Blumen auf den Wiesen sehen und Alison roch ihren süßen Duft, als sie um sie herum und den Hügel hinunter in Richtung des abgelegenen Teils des Waldes gingen. Die Sommerferien rückten immer näher und sie hatten nicht mehr viele Nächte, in denen sie zusammen draußen spazieren gehen konnten. Über den Sommer würden sie getrennt auf nächtliche Ausflüge gehen müssen.
»Ich kann nicht glauben, dass das Jahr schon fast vorbei ist«, seufzte Izzie.
»Ich weiß, nicht wahr? Es fühlt sich an, als hätten wir gerade erst unser zweites Schuljahr begonnen, aber jetzt bereiten wir uns schon auf die Abschlussprüfungen vor und kommen in unser letztes Jahr vor der Oberstufe. Früher als ich noch mit meiner Mutter zusammenlebte, haben meine Freunde immer gemeckert, dass sie es nicht erwarten konnten, endlich erwachsen zu werden. Für sie konnte es nicht schnell genug gehen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe das Gefühl, dass die Zeit nur so verfliegt und ich wünschte irgendwie, alles würde langsamer vergehen.«
Izzie stieß einen langen Seufzer aus und drückte Alisons Hand. »Ich wünschte auch, es würde langsamer vergehen. Ich habe so viele Fragen, so viele Dinge, die ich herausfinden möchte, bevor mich das Leben der Erwachsenen mit voller Wucht trifft. Ich weiß nicht, vermutlich sollte ich es einfach sein lassen. Doch wie du schon sagtest, es ist mir so wichtig, also sollte ich es doch verfolgen, oder nicht? Das einzige Problem ist, dass es mich nirgendwo hinführt. Ich sehe immer wieder die gleichen Träume und die Visionen und nichts ergibt Sinn. Ich verstehe es einfach nicht.«
»Ich weiß nicht, Izzie. Vielleicht bekommst du die Antworten, wenn du nicht danach suchst und sie gar nicht erwartest. Manchmal, wenn wir etwas unbedingt wollen, geschieht es erst recht nicht. Aber wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, dann bekommen wir die Antworten, nach denen wir suchen.«
Sie blieben am Waldrand stehen und Izzie stieß Alison mit ihrem Ellenbogen in die Seite. »Meine Güte, das war ziemlich tiefgründig, Alison. Aber es ergibt Sinn. Ich hoffe nur, ich kann es genug loslassen, damit es seinen eigenen Lauf nimmt.«
»Und ich wünschte, ich könnte meinen eigenen Rat befolgen.« Alison lachte und sah sich nach der Energie des Drachens um.
»Ich schätze, wir müssen in den Wald gehen und nach Dorvu suchen. Es ist so ziemlich die perfekte Nacht für ihn, um draußen zu sein.«
Die Mädchen fassten sich an den Händen und machten sich auf den Weg in den Wald, wo sie vorsichtig über die umgestürzten Bäume und durch das nasse Laub stapften, das den Waldboden bedeckte. Als sie die kleine Höhle erreichten, in der der Drache gelegentlich vorzufinden war, sahen sie sich um. Plötzlich wehte eine Böe durch die Haare der Mädchen und Izzie sah, wie der Drache zwischen den Ästen hindurchglitt und vor ihnen landete.
Alison lächelte über die Seele des Drachens vor ihr. Die Farben, die sie bei ihm sah, waren immer noch genauso wild, wie sie es im Inneren des Eies gewesen waren.
»Also, ich habe einige neue Dinge gelernt«, sagte der Drache.
»Das ist fantastisch und verdammt, bist du groß geworden«, erwiderte Izzie schockiert.
Der Drache zuckte mit seinen schuppigen Schultern und grub seine Krallen in die nassen Blätter unter ihm. »Ja, hier läuft eine Menge Essen herum, aber so sehr sieht man es mir doch gar nicht an.«
Izzie nickte und versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. »Nein, natürlich nicht. Du siehst perfekt aus.«
Der Drache lenkte seinen Blick auf Alison und ging langsam auf sie zu. »Hey, Alison. Es ist schön, dich wiederzusehen. Manchmal wird es echt einsam hier draußen im Wald, aber Horace hängt ab und zu mit mir ab. Nur bringt er leider auch diesen Köter mit.«
Alison lächelte, schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus, um den Drachen zu streicheln. »Ich habe dich auch vermisst. In der Schule war einfach verrückt viel los, vor allem wegen des Louper-Spiels und allem, was sonst noch so passiert ist. Es ist alles unglaublich chaotisch.«
»Ich habe von den Wandlern gehört.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Izzie. »Das mit Luke tut mir leid, aber er schien heute ganz gut in Form zu sein.«
»Du hast zugesehen?«
»Natürlich. Ich musste mich nur ein bisschen zurückhalten, damit mich niemand sieht. Horace flippt immer aus, wenn er mitbekommt, dass ich alle beobachte, aber ich weiß schon, was ich tue. Ich lasse mich nicht erwischen.«
Alison lachte. »Ja, das haben wir auch gesagt, bis wir dabei erwischt wurden, wie wir aus dem Kemana kamen. Und, ach ja, dabei ertappt wurden, wie wir ein Drachenei in der Schule versteckt haben, wo es geschlüpft ist und das Zimmer komplett zerlegt hat.«
Er zog eine Grimasse: »Ja, das tut mir leid … immer noch. Ich meine, was soll ich sagen? Ich war noch ein Baby.«
Izzie rümpfte die Nase und lachte. »Ich hoffe wirklich, dass magische Kinder weniger zerstörerisch sind als Drachenbabys, sonst muss ich mein Kind in einer Hüpfburg großziehen.«
Alle lachten und der Drache schüttelte den Kopf. »Ich glaube deine Kinder werden keine drei Zentimeter langen Krallen und scharfe, gezackte Zähne haben, also musst du dir keine Sorgen machen. Wie auch immer, ich habe einen neuen Trick gelernt. Wollt ihr ihn sehen?«
Izzie nickte. »Natürlich wollen wir das.«
Der Drache richtete sich auf und hob seinen Kopf, dann atmete er schnell ein und blies den Mädchen einen frostigen Wind ins Gesicht. Er war also doch kein feuerspeiender Drache. Er war ein frostspeiender Drache. Izzie und Alison kicherten, als sie sich mit den Fingern durch ihre Haare fuhren, um die Eiskristalle zu entfernen.
Izzie klatschte in die Hände. »Das ist fantastisch!«
Alison zupfte immer noch Eis aus ihrem silbernen Haar. »Okay, okay, das ist cool!«
Izzie sah sich auf dem Boden um und trat nach den Blättern, bis sie einen alten Tennisball fand, den der Hund von Horace zerkaut hatte. Sie streckte ihn dem Drachen entgegen. Er näherte sich langsam und hauchte den Ball an, bis er gefroren war. Izzie betrachtete den Frost, der den Tennisball bedeckte. Sie zerdrückte ihn in ihrer Hand und er zersprang in eine Million Stücke.
»Wow!« Izzie war verblüfft. So etwas hatte sie noch nie gesehen, außer vielleicht in den seltsamen Wissenschaftsvideos, die sie in der Grundschule geschaut hatten.
Der Drache grinste, wobei er seine großen Zähne zeigte und setzte sich. »Also, was gibt’s Neues bei euch? Habt ihr bald wieder irgendeine Party oder so?«
»Ja, tatsächlich. Wir haben demnächst dieses Eltern-Schüler-Wochenende«, sagte Alison aufgeregt. »Es wird das erste Mal sein, dass ich ein Elternteil bei irgendetwas dabei habe, seit meine Mutter gestorben ist. Mein Vater, James Brownstone, fliegt dafür mit Shay Carson, seiner Freundin, ein.«
Der Drache quietschte wie ein Teenagermädchen und klatschte aufgeregt mit dem Schwanz auf den Boden. »Ich mag es, dass du Brownstone jetzt Vater nennst. Das ist wirklich schön zu hören.«
Izzie zuckte mit den Schultern und trat gegen die Blätter. »Das Wochenende klingt nett, aber ich habe niemanden, der mich besuchen kommt.«
Der Drache rieb sein Gesicht an ihrem Arm. »Mach dir keine Sorgen, Izzie. Ich habe auch keine Familie, zumindest keine Eltern. Du und die anderen Mädchen sind meine Familie.«
Alison fühlte, wie ein Stich von Schuldgefühlen sie durchfuhr. Sie war so aufgeregt gewesen, mit ihrem Vater bei einer Schulveranstaltung aufzutauchen, dass sie die Tatsache, dass Izzie niemanden mitbringen konnte, völlig vergessen hatte. Alison konnte ihre beste Freundin und sogar ihre Schwester sein, aber sie konnte niemals ihre Mutter oder ihren Vater ersetzen. Alison wusste das nur zu gut. Obwohl sie Brownstone Dad nannte und sie ihn sehr liebte, würden Shay und Brownstone niemals wirklich die Eltern ersetzen, die sie gehabt hatte, bevor alles den Bach runtergegangen war. Es gefiel ihr nicht, dass Izzie so traurig war. Sie rieb ihre Hände aneinander und biss sich auf die Lippe.
»Weißt du was, Izzie?«, begann Alison und legte ihre Hand auf Izzies Schulter. »Du bist nicht allein. Keiner von uns beiden hat richtige Eltern, aber wenn Brownstone wie ein Vater für mich sein kann, dann werde ich ihn mit dir teilen, damit du nicht allein sein musst. Wir gehen als Familie auf den Ball. Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen, als meine Schwester an meiner Seite zu haben und meine neue Familie mit ihr zu teilen.«
Izzie kamen die Tränen und sie umarmte Alison fest. Manchmal wusste sie nicht, ob sie all die Liebe, die Alison ihr gab, verdiente, aber sie wollte sie definitiv nicht mehr missen.