Vier

Lästig zwickte und klemmte etwas unten an Kiefs Nasenscheidewand. Seine Stirn drückte gegen glatte Kälte, seine Augenbrauen lagen auf weichem Material. Schaumstoff? Der Priester hob den Kopf im Liegen leicht, wischte mit der Stirn übers Kalte.

Das war, wie er jetzt sah, ein Fenster.

Kief lag seitlich auf einem schlichten Feldbett. Sein Gesicht hatte das Fenster berührt, seine Augenbrauen den Schaumstoffrahmen darum gespürt. Er blinzelte und litt Druckschmerz auf den Augen. Draußen: Schwärze, Sterne – er blickte den Leib der langen Keilmuschel entlang, in der er lag, sah radial darum angeordnete Teleroboterarme, sah Spektrometertrommeln, Tanks, Radiometer, Interferometer, die dünnen Spitzen von Rendezvousthrustern, Antenneneinheiten in Schutzverkleidung, sphärische Aufsitzer, deren Funktion er nicht einmal raten konnte.

Ein freier Blick Richtung Heck, kein freier Blick in die andere Richtung, nach vorn, nach rechts orthogonal zur Wirkrichtung der künstlichen Schwerkraft, die er in seinen Gliedern fühlte, die ihn auf der Liege hielt und die eigentlich keine Schwerkraft war und auch nicht, wie in den uralten Fähren, die im erdnahen Raum, etwa zwischen Erde und Luna, immer noch gebräuchlich waren, ein gemeinsames Erzeugnis von Fliehkraft und Rotation, sondern ein Trägheitstrick, erfunden, wenn er sich nicht irrte, auf der Venus. Die Spitze der Muschel war nicht zu sehen, weil Krümmung und Steigung von drei der Kugeln besetzt waren, die Kief an nichts erinnerten, was er kannte. Die Hülle des Raumfahrzeugs, in dem er sich befand, machte auf den Priester wegen der Aufsätze und Applikationen, die er in seinem Gesichtsfeld ausmachen konnte, den Eindruck von Stückwerk; als hätte man etwas, das für bestimmte Aufgaben gerüstet war, für andere umgerüstet, und zwar in einiger Eile, auf Kosten der Stimmigkeit und Schönheit des Gesamtarrangements.

Kief blinzelte erneut, der Schmerz ließ schon nach. Der Priester erinnerte sich an seine Rettung auf der Erde: Ich hing im Baum. Wurde rausgeschnitten, bin abgestürzt. Ein Schiff, dieses Schiff, war da. Ein Mann mit einem Arm aus Metall. Fließendem, gedankenschnellem Metall. Linker Arm. Spieße, Messer. Schere. Hat mich aufgegabelt. Aus dem Geäst geschnitten, aus dem Spinnengöppel befreit. Mich mitgenommen.

Wir sind im interplanetaren Raum, aber ich weiß nicht, wohin unterwegs. Kief drehte sich zur Seite, setzte sich auf, stieß sich beinahe den Kopf an einem schrägen Hängeschrank.

Sein Rock war, säuberlich zusammengefaltet, über eine Lehne gelegt worden, die zu einem Stuhl gehörte, auf dessen Sitzfläche Kiefs Socken lagen. Seine schwarzen Stiefel, ohne Spuren von Gras und Dreck, blitzblank geputzt, standen neben dem Stuhl. Kief trug kein Unterhemd, die Unterhose hatte man ihm gelassen. Er untersuchte seinen Körper.

In seiner Brust und in der rechten Schulter steckten Nadeln mit etwa daumennagelgroßen Würfeln als Köpfchen. Kief wusste, was das war: medizinische Femtidenspender, die etwas in seinen Stoffwechsel abgegeben hatten, das Knochenfrakturen, Schädigungen von Muskeln, Sehnen, Nerven und inneren Organen reparierte.

Er zog die Nadeln heraus, es tat nicht weh. Dabei sammelte er sie in der Kuppe seiner Rechten und streute sie dann auf das Kopfende des Bettes, woraufhin er sich aufrichtete und an sich hinuntersah: alles heil, nicht mal blaue Flecken von Prellungen. Die Nadeln wirkten also entweder ungewöhnlich schnell, oder er war länger als einen halben Tag bewusstlos gewesen. Er griff sich ins Gesicht. Die Klammer unter der Nase, die er beim Erwachen gespürt hatte, hielt einen winzigen chemischen Tank fest, dessen Inhalt ihn wahrscheinlich sediert hatte – und komplexe Pharmaka abgegeben, die eine etwaige Gehirnerschütterung oder andere Probleme seines Zentralnervensystems in Ordnung gebracht haben dürften. Er entfernte die Klammer samt Tank und legte sie neben die Nadeln. Eher aus Gewohnheit, als um eine Blöße zu bedecken, zog er sich an, Socken, Stiefel, dann den Rock, den er, als stünde ihm ein formeller Anlass in kirchlicher Funktion bevor, bis zum Hals zuknöpfte.

Nun erst sah er sich um: Das Bettgestell stand schief in einem Freiraum, der etwas zu groß dafür war, und gleich fiel Kief noch etwas anderes daran auf; es schien ursprünglich medizinischen Zwecken gedient zu haben, denn auf der Seite, auf der er runtergeklettert war, hingen vier Fixierriemen, nicht primitives Leder wie die Gurte, mit denen er sich im Spinnengöppel festgebunden hatte, sondern Kunststoff, breit, mit Löchern für Schnallen, die der Priester bei genauerem Hinsehen an der Wandseite angebracht fand. Auch andere Zeichen in Raum deuteten darauf hin, dass die Kabine erst vor kurzem umfunktioniert worden war: Ein sehr altmodischer Feuermelder in der Ecke, ohne den eigentlich dazugehörigen Feuerlöscher, dann die unschönen und unbequemen kleinen Schränke überall, endlich das zweite Fenster, vor das man eine integrierte Kühl- und Herdeinheit geschoben hatte, in der Kief durch die Sichtscheibe einige Lebensmittelpäckchen ausmachen konnte – es sah fast aus wie in einem Hotel auf dem Erdmond oder in den bereits rezivilisierten Regionen der Menschenwelt.

An der gegenüberliegenden Wand hatte man ein Waschbecken und daneben ein mit sehr breiten Schrauben am Boden fixiertes WC angebracht. Es gab keine Trennwand davor, kein Zelt darüber wie in kleineren Schiffen, die eigentlich planetennah operierten, aber zur Not für ausnahmsweise längere Reisen zwischen Himmelskörpern ausgerüstet waren – in Fahrzeugen, die von vornherein für den interplanetaren Verkehr taugten, sorgte man für die hygienischen Belange ohnehin mit eigenen kleinen Räumen, wie in planetengebundenen Flugzeugen ja auch. Kief schüttelte den Kopf. Die Verpflegungseinheit war so groß, dass das daneben- und dahinterliegende Fenster tatsächlich zur Hälfte verdeckt blieb. Schließlich nahm der Priester bei seiner Inventur eine Kuriosität wahr, die ihm einen ungläubigen, bellenden kurzen Lacher entlockte: Direkt neben der verschlossenen Druckschleusentür standen zwei durch eine rote, herunterhängende Kordel verbundene Messingständer, dicht zusammengeschoben – wenn man sie trennte, riet er, war das eine Absperrung gegen ein Publikum, das einen Ort nicht betreten oder einen Gegenstand nicht berühren sollte – konnte das sein, handelte es sich bei dem Schiff, in dem er stand, etwa um ein Museumsstück, das irgendwer hastig und vermutlich illegal flugtüchtig gemacht hatte?

Das Amüsement wich der Beunruhigung, als Kief mit großer Selbstverständlichkeit, beinah ganz gedankenlos, die Hand auf die runde, von antiken Heizringen umrahmte Tür legte, um ihr damit mitzuteilen, dass sie sich öffnen sollte, und sie das nicht tat. War er ein Gefangener?

Eine geschlechtslose, leicht verzerrte Stimme, die, wie Kief rasch erkannte, aus einem schmalen Drahtgitter auf Augenhöhe direkt neben der Tür kam, fragte ihn: »Möchten Sie die Kabine verlassen?«

Er versuchte, »Ja« zu sagen, aber es kam nur ein gepresstes »Uäah« heraus, so dass er sich räusperte, während die Stimme sich wiederholte: »Möchten Sie die Kabine verlassen?«

Kief antwortete: »Ja, ich möchte die Kabine verlassen.«

Die Stimme entgegnete: »Sie haben den Wunsch geäußert, die Kabine zu verlassen. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, die Tür wird jetzt entriegelt.«

Die Irritation, die der Vorgang weckte, verließ Kief nicht, bis wenige Sekunden später ein leises hydraulisches Zischen zu hören war und die Stimme sagte: »Sie können die Tür jetzt öffnen und die Kabine verlassen.«

Abermals legte Kief die Hand auf die Tür, die aber wieder nicht seitlich in der Wand verschwand, weshalb er den Druck seiner Hand etwas erhöhte, woraufhin die Tür fast lautlos aus ihrem Rahmen sprang und sich aufdrücken ließ, etwas, das er von interplanetarer Technik so nicht kannte, was ihm aber aus den uralten Häusern auf der Erde, etwa von seiner Zeit in Nordafrika her, durchaus bekannt war. Beim Überschreiten der Schwelle wäre er beinah gestrauchelt. Direkt dahinter führte eine kleine eiserne Treppe von vier Stufen in eine Art Aufenthaltskabine. Er duckte sich etwas, schritt durch die Tür, nahm sie mit der Hand am Rand, schob sie zurück in ihren Rahmen und bemerkte einen Griff an der Rückseite, den er mit der Rechten fasste. Dann drückte er noch einmal gegen die Tür und hörte ein Sauggeräusch, rüttelte erneut am Griff und war zufrieden, als er spürte, dass die Tür jetzt wieder fest geschlossen war.

 

Kief stieg die paar Stufen hinunter und sah sich dann um in dem Quader, der etwa drei Viertel so groß war wie das zentrale Wohn- und Schlafzimmer in seinem vermutlich zerstörten Baumhaus: linker Hand eine lange Spiegelscheibe, daneben eine etwas kleinere, aber wie schon die Luke, durch die er eingetreten war, kreisrunde und von einem Heizring umschlossene Tür und etwas wie ein Schreibtisch, auf dem Papiere, Ausdrucke von Fotos und uralte Bücher lagen, außerdem stand ein mit milchiger Flüssigkeit gefüllter Plastikkanister darauf, unter dessen Drehhahn eine Halterung mit einer Reihe von Plastikbechern angebracht war. Halb unter, halb vor dem Schreibtisch stand ein Bürosessel auf drehbarem Standkreuz, an dem Kief dieselben Fixiergürtel auffielen, die er auch an seinem Feldbett gesehen hatte – also doch nichts Medizinisches, also doch Gefangenschaft?

An der schmalen Wand fand Kief ein kleineres, niedriges Pult, über dem sich ein Monitor aus der Wand wölbte, auch hiervor stand ein – allerdings schlichterer, hölzerner – Stuhl mit Rücken- und zwei Armlehnen, auch diese Sitzgelegenheit wies die hier aus irgendeinem Grund üblichen Gurte auf.

Links daneben, an der zweiten Längswand, fiel Kief eine quadratische Platte auf, die da offensichtlich nicht hingehörte. Als er sich direkt davorstellte, sah er, dass sie durch einen Haken an einem verzinkten Knopf verschlossen war, der sich leicht lösen ließ – er klappte die Platte zur Seite und fand dahinter eine Art Schrein oder Nische, in der eine merkwürdige kleine Skulptur aus bemaltem Glas, Ton oder Ähnlichem stand – eine stilisierte lachende Katze, deren Zunge unten aus dem Mund hing und die ihm mit einem beweglichen rechten Arm winkte, vor und zurück, vor und zurück. Wie bei der Museumabsperrung vorhin regte sich Kicherlaune in ihm, die er bezwang, indem er die Klappe einfach wieder zumachte und mit dem Haken verschloss.

Er wandte sich um und betrachtete für einen Moment die Spiegelwand. Ihm war klar, dass hinter ihr ein Raum sein musste, der, wenn er die Breite des Raumschiffs richtig einschätzte, vermutlich noch einmal so groß war wie der, in dem er sich befand. Wahrscheinlich war dieses Fenster nur einseitig verspiegelt. Falls sich drüben jemand befand, konnte man Kief sehen – er hob aus einer Laune heraus die Hand zum Gruß und setzte ein leicht albernes Lächeln auf. Als nichts geschah, senkte er die Hand wieder und wandte sich der größeren der beiden Schreibunterlagen zu – Fotos vom Wald, den er so gut kannte, Ausdrucke von Tabellen, lange Zahlenreihen.

Eine Pappkarte lag auch dabei, die ein Gemälde reproduzierte: eine rothaarige Frau in einer militärischen Uniform vor schweren Draperien. War das nicht die ehemalige Diktatorin der Venus, Leona Christensen? Kief fiel ein, dass sein Helander-Manuskript vermutlich im Wald verbrannt war. Er empfand Kummer darüber und Ärger. Dann trat er zur kurzen Kopfseite des Raumes. Auch hier gab es eine Tür, aber sie war nicht direkt vor ihm in der Wand, sondern auf Augenhöhe, in einer herausgekanteten Schräge, das hieß, man musste dort wohl aufwärtsklettern, vermutlich an Stangen, die für die Schwerelosigkeit gedacht waren, möglicherweise gab es dazwischen aber auch Trittleiterstufen. Über dieser Luke entdeckte Kief einen schmalen Lautsprecher, der dem in der Kabine glich, in der er erwacht war.

Derselbe Klangschlitz fand sich auch über der Tür neben dem Spiegel, auf die er jetzt die Hand legte, um herauszubekommen, ob der Lautsprecher dieselbe Frage wie eben an ihn richten würde. Tatsächlich meldete sich die ihm schon bekannte Stimme, aber mit einer leicht modifizierten Formulierung. »Möchten Sie die Reifungskammer betreten?«

Kief fand, er hatte keine andere Wahl, als darauf mit dem erprobten »Ja« zu antworten. Aber anstatt ihn zu informieren, dass die Tür zur »Reifungskammer«, was immer das war und was immer dort reifte, jetzt entriegelt werden würde, forderte die Türstimme ihn auf: »Bitte nennen Sie den Autorisierungscode für die Reifungskammer.«

Wahrheitsgemäß erwiderte Kief: »Den kenne ich nicht. Ich wusste nicht mal, dass es einen gibt. Ich weiß auch nicht, was die Reifungskammer ist und was da reift.«

Das war nicht nur eine Übung in Aufrichtigkeit, sondern auch ein Versuch, experimentell zu ermitteln, wie anspruchsvoll die Spracherkennung und das sentische Rechnen hinter der Stimme überhaupt waren, die hier eine Unterhaltung mit ihm simulierten.

Wenn sie ihre Frage einfach wiederholen würden, dann hätte Kief die Gewissheit, es mit einem nichtbewussten, vielleicht nicht einmal semi-autonomen System zu tun zu haben. Aber das geschah nicht. Die Maschine sagte, kaum klüger allerdings: »Sie können die Reifungskammer leider nicht betreten. Möchten Sie den Fortschritt der Reifung stattdessen optisch überprüfen?«

Mit sachter Ironie sagte der Priester: »Wenn ich dafür einen Passcode brauche, können wir das auch vergessen.« Mit freundlicher Gleichgültigkeit erklärte die Maschine: »Für die optische Überprüfung benötigen Sie keinen Passcode.«

Spielte man mit ihm? Kief sagte: »Wenn das so ist, dann nehme ich an, man kann diese Spiegelscheibe entspiegeln und mich durchgucken lassen, richtig?« Ganz so flexibel war der Apparat dann doch nicht; eine um ein einzelnes Wort gekürzte Wiederholung von bereits Gesagtem war die Antwort: »Möchten Sie den Fortschritt der Reifung optisch überprüfen?« Es klang seufzend, etwas enttäuscht, als Kief sein »Ja« ausstieß, aber das, was dann geschah, nahm ihm für einen Augenblick den Atem: Der silbrig-blassgoldene Spiegelschimmer auf der Scheibenwand zerging nicht langsam, wie er das bei vergleichbaren Polarisationsvorrichtungen gesehen hatte, sondern war augenblicklich verschwunden und gab den Blick frei.

In einem tatsächlich gleich großen Zweitraum auf der gegenüberliegenden Seite stand eine etwa anderthalb Meter breite und etwa einen Meter achtzig hohe Trommel, die ein transparentes Medium von unbestimmbarer Viskosität ausfüllte, in dessen Mitte, zusammengekrümmt zu klassischer Embryonalhaltung, etwas schwamm, für das Kief bei sich keine anderen Worte fand als: ein Skelett, an dem teilweise Fleisch hängt.

Die Füße und Beine waren fast vollständig, der Hintern und die Hüften auch. Nach den Umrissen zu schließen, war das Wesen, das da schwebte, ein weiblicher Mensch. Unter den Rippen schlug das Herz noch freiliegend, es gab einen mit verschiedenen Verbindungen zu anderen Organen versehenen Magen, aber keinen Darm – Augen lagen in den Höhlen, aber Kinn und Wangen waren fleischlos, während über der Schädelkuppe bereits sehr kurze, feuerrote Haare glänzten.

»Wünschen Sie, dass der Zylinder gedreht wird? Wünschen Sie Einzelauskünfte zu spezifischen Vitaldaten?«, fragte die blecherne Stimme.

»Ich … nein, danke. Nein, ich habe … ich bin, ich habe genug gesehen«, sagte Kief, der sich zwingen musste, diese Sätze laut und deutlich genug auszusprechen, so perplex, nicht eigentlich entsetzt, aber doch zutiefst erschrocken war er.

»Reifungsgünstige Lichtverhältnisse werden wiederhergestellt«, gab die Maschinenstimme bekannt, und im selben Moment sah Kief aufs Neue seine eigene Gestalt und den ihn umgebenden Raum reflektiert, wo eben noch das halbfertige Geschöpf in seiner Trommel gewesen war. Von seiner eigenen heftigen Reaktion auf das soeben Enthüllte befremdet, fragte sich der Priester, was ihm da eigentlich unter die Haut gegangen war – hatte er als biologischer Feldforscher wie als Missionar in den letzten zwanzig Jahren nicht weit Erstaunlicheres, Seltsameres und vor allem Ekelhafteres erblickt als eine Frau, die nicht recht lebte, nicht wirklich tot war, aber offenbar unterwegs zu einer Art lebensfähiger Körperlichkeit – war das nicht allemal verständlicher und, nun ja, ansehnlicher als etwa einige der aberwitzigen und abscheulichen Mutationen, die den Seuchensumpf im Norden der ehemaligen Stadt London auf der Insel England bevölkerten und die meisten ihrer Jungen selbst auffraßen? Eine Frau, die nicht recht lebt, aber auch nicht wirklich tot war: Wie ein Schlag in die Magengrube traf ihn der Gedanke, dass es eine Erinnerung war, die dieser Leib in ihm geweckt hatte, etwas, an das seit seinem Erwachen hier nicht schon gedacht zu haben ihn beschämte und traurig machte: Kuanon.

Kuanon ist tot, denn ich habe sie getötet.

Aber auf irgendeine Art habe ich ihr Leben damit doch retten, bewahren, bergen wollen, und das ist misslungen, und jetzt habe ich sie überlebt, wohl ohne eine Spur von ihr, genau das, was sie nicht wollte, genau das, was sie veranlasst hat, mich darum zu bitten, sie auf diese ganz bestimmte, schreckliche und intime Weise umzubringen. Die schmerzliche Erinnerung schnappte um ihn zu wie eine Stahlfalle.

Bewegungsdrang erfasste ihn, er wollte weg hier, fort von diesem Spiegel, wollte Menschen suchen, wollte wissen, wer ihn in diesem Schiff eingesperrt hatte, und wandte sich an die einzig sichtbare Gelegenheit, das herauszufinden: die verschlossene Luke nach oben, im gekippten Wandsegment. Er legte die Hand darauf und bekam, wie erwartet, zu hören: »Möchten Sie die Tür zum Kapitänsquartier öffnen?«

»Allerdings. Ja. Möchte ich. Ich muss mal dringend diesen Kapitän sprechen, wenn’s einen gibt.«

»Sie haben den Wunsch geäußert, die Tür zum Kapitänsquartier zu öffnen. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, die Tür wird jetzt entriegelt.«

Kief war es selbst lästig, dass er’s so eilig hatte, aber es schien wirklich eine Ewigkeit zu dauern, bis das Zischgeräusch kam – diesmal allerdings musste er die kreisrunde Platte nicht nach innen drücken. Sie verschwand wie eine normale Tür in jedem zeitgenössischen Gebäude seitlich in ihrem Rahmen und gab den Blick auf eine Röhre frei, in der tatsächlich eine Sprossenleiter zwischen den zwei erwarteten Haltestangen nach oben führte.

Der Durchgang war gerade breit genug für den massigen Mann, der allerdings, als er sich auf eine Höhe hievte, die ihm erlaubte, die Beine nachzuziehen und sich mit den Füßen im Innenrand abzustützen, ins Keuchen kam. Erwachsenen Menschen, und gar Passagieren auf interplanetaren Reisen, sollten, fand Kief, derlei gymnastische Übungen nicht zugemutet werden – auch wenn er sich an einer Fahrt mit einem sehr alten Unterseeboot entlang der gefährlichen schottischen Küste im Rahmen einer Bestandsuntersuchung zur maritimen Ökologie vor vielen Jahren erinnerte, bei der er, damals beleibter als heute, die entsprechenden Verrenkungen und Anstrengungen als abenteuerliche körperliche Selbstfindung unter beengten Verhältnissen sogar genossen hatte. Ans Auftauchen an Deck dort erinnerte ihn das Ende seines Aufstiegs durch die Röhre im Muschelschiff, als er deren Ausstieg schließlich erreichte – Hände, Arme, dann Kopf und Schultern waren die ersten Körperteile, die sich in das Zimmer schoben, das ganz anders aussah, als er es sich unterwegs vorgestellt hatte, angefangen damit, dass es keine runde Türplatte gab, keine Verriegelung, keine Stimme, die ihn aufforderte, seine Wünsche zu äußern und dann zu warten. Er stieg einfach aus einem Loch im Boden und saß, bevor er seine Beine hochzog, auf dessen Rand, um sich ans schwächere Licht zu gewöhnen – gedämpft, aber nicht warm; ein Licht, bei dem er an Krankenzimmer, Sterbezimmer auf Intensivstationen in Kliniken dachte. In der Tat kam das schwache bläuliche Licht aus zwei Neonleisten auf halber Menschenhöhe, die neben einem Bett angebracht waren, in dem hinter einem semitransparenten Sauerstoffzeltvorhang ein Mensch lag. Bleiches, knochiges Gesicht mit Bartstoppeln und sandfarbenem Haupthaar, weißgekleideter – oder: bandagierter? – Oberkörper, dessen Arme aber nicht unter der Decke auf die Matratze gebettet waren – der rechte lag vielmehr auf dem Tuch, das dem Ruhenden bis zur Brust reichte, und der linke war ausgestreckt, reichte durch ein Loch in der Zeltplane nach draußen, wo ein Pult stand, auf dem ein Keypad lag, auf das mehrere Finger dieser Hand sehr schnell, aber rücksichtvoll leise etwas tippten.

Konnte das ein Kapitän sein, dieser Kranke, der ausgezehrter aussah als der Retter im Wald, an den sich Kief erinnerte, aber doch wohl derselbe Mensch war? Jedenfalls legte das der Arm nahe: Kief stand auf und sah ihn jetzt unter sich, sah das Keyboardfeld und dass es mehr als fünf Finger waren, mindestens sieben, die da tippten, und ein achter wurde länger, länger, wuchs in die Höhe, stellte sich auf wie eine Schlange, die ein Fakir mit einer Flöte dazu verführt, und hatte an der abgeknickten Fingerkuppe, die er Kief, dem es spätestens jetzt mulmig wurde, nun zuwandte, eine schwarze Perle, ein ölglattes Etwas, das wohl eine Kameralinse war.

Jetzt sagte eine Stimme, die etwas voller, etwas weiblicher klang als die Maschine, mit der Kief sich schon zweimal unterhalten hatte, aus mehreren, offenbar besser versteckten Lautsprechern irgendwo oben, wahrscheinlich an den Wänden, seitlich, direkt unter der Decke: »Schön, dass Sie wach sind, Herr Sunderland. Ich kann Sie sehen. Das, was Sie da gerade anschauen, wie es Sie anschaut, ist eine Kamera, was Sie wohl schon erraten haben.«

Kief blickte von der Kamera zu den tippenden Fingern – sie schrieben, was er hörte, so verstand er, und dann bemerkte er neben dem Pad einen Stapel von teils Büchern, teils losem Papier, etwa zwei Handbreit hoch, und in dessen Mitte ein Manuskript, das er von der Seite so gut erkannte, als hielte er es in Händen: »Das ist meins. Da liegt … das ist Nikolas Helanders Buch.«

»Ja«, sagte die Stimme, »ich habe es mir ausgeliehen. Ich besitze eine andere, lückenhaftere und weniger gut erhaltene Version. Diese hier habe ich aus Ihrem hübschen Habitat gerettet, bevor es in Flammen aufging und aus allen Wipfeln fiel. Ich war auf der Suche nach Ihnen, habe Sie nicht gefunden und dachte mir, es wäre in Ihrem Interesse, wenn das nicht verlorengeht. Sie können es sehr bald wiederhaben, aber Sie werden einem Sammler verzeihen – Sie sind ja selbst einer –, wenn er ein paar Vergleiche anstellt und seine eigene mangelhafte Textkenntnis aus Ihrem vorzüglich konservierten Exemplar ergänzt.«

Statt auf diese Bemerkung und den eigenartig neckischen Ton, in dem sie vorgebracht war, einzugehen, stellte Kief eine Frage: »Mit wem rede ich überhaupt? Wieso öffnen Sie nicht die Augen und sprechen direkt mit mir, und wie kommen Sie dazu, mich … Sunderland zu nennen? Niemand nennt mich so. Niemand, mit dem ich in den letzten zwei Jahrzehnten zu tun hatte, kennt diesen Namen überhaupt. Sehen Sie mich an. Öffnen Sie die Augen, und spielen Sie keine Spielchen mit mir!«

Es sollte drohend klingen und klang ängstlich. Der Priester richtete den Blick dabei auf das fahle Gesicht hinterm Vorhang, aber nicht dessen Mund, sondern die Computerstimme antwortete: »Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor, das wir augenblicklich klären sollten. Mir ist klar, dass Sie während der letzten zweiundsiebzig Stunden fürchterliche Erfahrungen gemacht haben, dass Ihr Leben umgestoßen wurde, dass Sie sich neu orientieren müssen und so weiter. Ich werde, soweit es in meiner Macht steht, darauf Rücksicht nehmen. Aber Sie reden nicht mit dem Mann, der hier neben mir auf dem Bett liegt. Dieser Mann schläft. Dieser Mann befindet sich, technisch gesehen, in einer Art Wachkoma, und das ist so, weil er sich bei Ihrer Rettung überanstrengt hat – in ihm geht, wenn ich es so ausdrücken darf, dermaßen viel vor, dass er körperliche Anstrengungen unbedingt vermeiden sollte, die ich ihm deshalb auch so weit wie möglich zu ersparen suche. Schließlich sitzen wir, wie man früher gesagt hätte, ja in einem Boot. Ich bin jemand anderer, und mit mir müssen Sie sich jetzt verständigen, wenn wir eine Basis für unser weiteres Zusammenleben an Bord dieses Schiffes finden wollen. Mein Name ist Fabien, und ich weiß, was es bedeutet, schlimme Erfahrungen durchzumachen – ich habe wesentlich länger gelebt als Sie. Ich war anfangs eine Art Tausendfüßler, dann eine Weile ein Mann, und im Augenblick bin ich ein Arm.«

Kief nahm diese Informationen auf, fasste jedoch sofort den Entschluss, zu einem späteren Zeitpunkt gründlich darüber nachzudenken, was sie bedeuteten. Ihm war klar, dass er jetzt zumindest versuchen sollte, genug zu erfahren, um sich mit seinen Überlegungen nicht auf Wegen zu verlaufen, die gerader und übersichtlicher wären, wenn er zum richtigen Zeitpunkt, nämlich jetzt, die richtige Frage stellte.

So erkundigte er sich bei dem Arm, mit dem er redete: »Wer ist er? Der Mann im Bett? Und warum strengt ihn Bewegung so an? Was ist das, was, wie Sie sagen, in ihm vorgeht?«

»Zunächst einmal«, sagte der Arm, »ist er in einem gewissen, sehr grundsätzlichen Sinn mein Vorgesetzter, weswegen es mir keineswegs freisteht, Ihnen nach Ihrem oder meinem Belieben mit Auskünften über ihn zu dienen. Sagen kann ich Ihnen aber, dass man das, was in ihm vorgeht, in gewissem Sinn eine geistige Verdauung nennen kann. Waren Sie während Ihrer Zeit auf der Erde jemals in Australien?«

»Was hat das damit zu tun?«

Kief verlor für einen Augenblick die Beherrschung und bereute es im selben Moment, aber der Arm, der mit ihm redete, antwortete in gutem Gleichmut mit einem weiteren Rätsel: »Koalabären.«

»Ko… ich kann nicht folgen«, gestand Kief höflich, und die synthetische Stimme nahm es ihm nicht übel: »Ich weiß gar nicht, ob’s die noch gibt. Die Urgroßmutter des Mannes, den Sie hier schlafen sehen, hat mir von ihnen erzählt. Diese Frau, ihr im Augenblick schlafender Urenkel und ich, wir drei … sind mit einer sehr schwierigen Pfeilfigur beschäftigt, deren Kern ein Pfeil von dem Graphen ›Venus siegt‹ zu dem Graphen ›Venus lebt‹ ist, eine Operation innerhalb der subjektiven Kategorie der irreflexiven gerichteten Graphen, soweit diese geeignet sind, Sätze mit Subjekt und Prädikat abzubilden, als Modell der objektiven Kategorie der tatsächlichen Sachverhalte. Das Ganze ist vor allem ein Schema für die Beantwortung der Frage, ob das, was damit objektiv gemeint ist, wahr sein kann. Wir fragen von bestimmten Sätzen über bestimmte wahre Sachverhalte, ob sie wahr sind, und da geht’s dann ins Toposcoding, aber weil es um Sätze über Lebendiges geht, arbeiten wir mit einer Mathematisierung von Darwin. Wir haben also den Begriff der Fitness, wie in ›survival of the fittest‹, als eine mathematische Größe definiert, eine Größe eines bestimmten Outputs eines Rechners, der eine beliebig sich entwickelnde Software berechnet. Ein einfacher, sich entwickelnder Software-Organismus, sagen wir, das Bundwerk, nennen wir es Venus, berechnet eine ganze Zahl, eine positive ganze Zahl – wir nehmen keine rationalen oder reellen Zahlen, obwohl die Physik sie bevorzugt, aber da wird es schnell haarig. Wenn wir jetzt auf Mutationen vertrauen, wie das die Lebewesen nach Darwin ja müssen, dann haben wir also eine Mutation von einer bestimmten Größe, sagen wir, das Programm, der Programmabschnitt der Mutation ist genau K bits lang, die führt uns vom Zustand A des Venus-Organismus zum Zustand A’, das ist dann M von A, also die Mutation von A, das hat dann die Wahrscheinlichkeit von zwei hoch minus K, und die Mutation bleibt nur hängen, wenn A’ fitter ist als A. Dann haben wir nach einer Weile, wenn die Fitnesskonkurrenz zwischen einerseits dem Organismus Venus und andererseits, sagen wir, dem Mars oder der beginnenden Diversitas stattfindet … ja, so ist jedenfalls der Koalabär entstanden. Dabei kam ein pelziger kleiner Kerl raus, der im Baum hängt, der sich von Eukalyptusblättern ernährt, die extrem schwer verdaulich sind, aus denen man nur sehr langsam und chemisch aufwendig Nährstoffe gewinnen kann, und der Koalabär muss deshalb eine Menge Energie sparen, muss seine Körperkraft sehr sparsam einsetzen, muss seinen Stoffwechsel ganz aufwandsarm halten, und deshalb ist er nur etwa vier Stunden am Tag – und mit Tag meine ich: Tag und Nacht – überhaupt aktiv, den Rest der Zeit schläft er. Den Rest der Zeit verdaut er. Und unser Freund hier, nennen wir ihn den Müden … der Müde, der hat sich sozusagen mit informationellen Eukalyptusblättern vollgestopft, in eurem Wald da unten, und zuvor auf der Venus, und demnächst noch im Asteroidengürtel, und das alles muss er verarbeiten, in einer Art Stoffwechsel, und in Sprüngen, durchaus in Sprüngen, es sind ja nicht nur quantitative Angelegenheiten, da sind ja qualitative Sprünge dabei, abermals: Mutationen, gewissermaßen, und auch denen muss er standhalten, ohne völlig durchzudrehen, deshalb schläft er.«

»Und das da unten in der Trommel, diese halbfertige Frau, das wird auch so ein Koalabär?«

Kief hatte beschlossen, in die Offensive zu gehen, die verspielte Art des kurzen Vortrags hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Der Arm geriet auch diesmal in keine Verlegenheit: »Mein lieber Kiefer Sunderland – und Sie sollten diesen Namen nicht so verstecken, Ihre Eltern, insbesondere Ihre Mutter, die als Erdhistorikerin wirklich Bedeutendes geleistet hat, und das unter den erschwerten Bedingungen der gegenwärtigen, politisch doch sehr statischen Periode der Herrschaft dieser dummen Verträge – was ich sagen will: Ihre Eltern haben, den Familiennamen Sunderland einmal vorausgesetzt, einen ganz guten Witz gemacht, als sie Ihnen Ihren Namen gaben. Gleichviel. Nein, das da unten im Zylinder wird kein Koalabär, das wird die gute alte Lily. Leona Christensen. Wir, die wir dafür stehen, dass Venus lebt, waren der Meinung, dass die Zeit gekommen ist, ihr nach einer sehr langen Zeit als Gespenst in anderen Köpfen mal wieder einen Kopf und einen Körper bereitzustellen, in dem sie sich zu Hause fühlen kann.«

»Dann ist … dann ist das … das Ende von Helanders Manuskript, als er diese Begegnung mit … ich dachte immer, Gertie oder Grünauge oder Freundin Sternchen … dass er an dieser Stelle flunkert. Oder auf seine alten Tage den Verstand verloren hat oder sich eine bewusste Mystifikation hat einfallen lassen … Sie sagen, das ist wirklich wahr, man hat das Bewusstsein der Diktatorin in anderen Köpfen geparkt und …«

»Geparkt, das klingt, als wäre sie untätig gewesen. Aber um Ihre Frage direkt zu beantworten: Nein, es ist keine bewusste Mystifikation. Sie finden im Text viel früher als am Ende Hinweise darauf, wenn Sie sorgfältig lesen. Zum Beispiel das wandernde Muttermal.«

»Das wandernde …«

»Ja. Der Leberfleck auf der Stirn, über der Augenbraue. Es wandert, in Nikolas Helanders Text – mal links, mal rechts, wo war es? Nun, wie die alten Aufnahmen zeigen und wie der neue Körper zeigen wird, wenn wir keinen Fehler gemacht haben mit dem alten Erbgut, war das Muttermal auf der linken Seite der Stirn, auch wenn man es bei offiziellen Gemälden manchmal weggelassen hat. Aber Sie werden in Helanders Buch vielleicht die Stelle bemerkt haben, wo es heißt: ›Das rote Haar hatte sie nicht wie sonst zu von Hand gestalteter Wildheit geformt. Es wirkte eher wie angepappt, ein müder Mopp, dessen Strähnen übers berühmte Muttermal rechts auf der Stirn fielen.‹ Warum wandert das Muttermal? Es wandert, weil Helander sich hier an den Blick in den Spiegel erinnert. Spiegelverkehrt. Den Blick der Ersten Delegierten selbst, als sie ihre Haare zurechtmachte. Es war ihr Bewusstsein in seinem, das ihm diesen Fehler in sein Manuskript diktiert hat. Und es gibt noch andere Spuren, Hinweise … Herr Sunderland? Was ist? Ist Ihnen nicht … nicht gut?«

»Ich muss nur … ich habe … mir war gerade ein bisschen schwindlig.«

»Sie haben die Heilnadeln entfernt?«

»Ja. Beim Aufstehen. Hätte ich das nicht tun sollen?«

»Doch, das war schon richtig. Aber Sie müssen etwas essen und trinken, Herr Sunderland.«

»Kief, bitte.«

»Gut, Kief. Gehen Sie in Ihre Kabine zurück. Hier habe ich nichts für Sie, ich ernähre den … müden Mann bei Bedarf flüssig. Aber in Ihrer Kabine …«

»Gibt’s einen Kühlschrank und auch einen Kochapparat, hab’s gesehen.« Auf diese Feststellung erwiderte der Arm nichts, aber die Schlange mit dem Kameraauge zog sich ein wenig zurück, als wollte sie Kief Raum geben, seine Gedanken zu ordnen. Der spürte plötzlich eine Schwerfälligkeit, Trägheit, auch Erschöpfung seines Gemüts, die er schon auf dem Feldbett für einen Augenblick empfunden hatte, die ihm aber während der Entdeckungen der letzten Viertelstunde nicht mehr bewusst gewesen waren. Er zuckte mit den Schultern: »Es kann wahrscheinlich nicht schaden, wenn ich was trinke. Und was esse. Aber … aber ich habe noch eine ganze Menge Fragen.«

Die Finger tippten wieder, dann sagte die Stimme: »Gehen Sie. Stärken Sie sich. Ruhen Sie vielleicht noch mal eine Weile aus. Dann kommen Sie zurück und stellen Ihre Fragen – vielleicht ist später sogar der müde Mann wach, der mehr weiß als ich.«

»Gut. Ja. Gut«, sagte Kief und hasste den folgsamen, wie betäubten Ton seiner Stimme. Aber was sonst hätte er sagen, was sonst hätte er tun sollen, als den Tunnel wieder hinabzusteigen, dort denselben Dialog mit der Maschine führen, den er schon zweimal ertragen hatte, auf die Türentriegelung zu warten, in den unheimlichen Aufenthaltsraum zurückzukehren, dort nur sehr flüchtig seitwärts auf das nun wieder verspiegelte Fenster zu schauen, abermals an der Tür seinen Wunsch zu äußern hindurchzugehen, auch dieses Hindernis schließlich zu passieren, in die ihm zugewiesene Kabine zurückzukehren und sich dort ein lauwarmes, wenig schmackhaftes Hirschragout aufzuwärmen, dessen Verzehr bei ihm nichts auslöste als Überdruss und eine noch größere Erschöpfung, die ihn auf seine Liege zurücktrieb?

Er legte sich im Rock, ohne die Stiefel auszuziehen, der Länge nach auf das Feldbett, drehte sich zur Seite und blinzelte zermürbt. Er sah die Sterne, aber vor den Sternen das vom Guckfenster reflektierte Gesicht. Es war seins. War es seins? Die Augen waren anders, als er sie kannte. Die Färbung der Wangen war anders. Der Bart schien sich etwas gelichtet zu haben, und der Mund … war das sein Mund? Oder war das ein anderer Mund, einer, den er vermisste? War das Kuanon, was ihn ansah?

Sechs Herzschläge danach war er eingeschlafen.