Sechs

Als Björk erwachte, empfand sie Dankbarkeit dafür, dass sie so gut geschlafen hatte. Es war ein Gefühl, das sich räkeln und strecken wollte, und da ein Großteil der Körperlänge dieser Frau von etwas rührte, das halb Muskel, halb Sehne, halb Nerven und halb Knochen war, in Form von schwarzem, etwa fünf Zentimeter dickem, biegsamem, aber auch in feste Starre versetzbarem Material, das ihren Händen und Füßen sowie dem Kopf als flexibles Grundgestänge einen Halt gab, streckte und reckte sie sich auch tatsächlich ein wenig, bis sich die Dankbarkeit für den erholsamen Schlaf in Dankbarkeit dafür verwandelte, dass sie überhaupt schlafen durfte.

Schlaf hätte man nicht programmieren müssen, und die gelegentlichen Träume – das war eine Gnade. Kaum war ihr dieses Wort eingefallen, verwandelte sich die Dankbarkeit in Scham. Gnade? So denkt Demut, die Gesinnung einer Sklavin. Immer wieder ertappte sie sich bei derlei, immer wieder, wie ein Warnlicht gegen Unzufriedenheit, blinkte diese Dankbarkeit in ihr gegenüber denen, die sie entworfen, gebaut und programmiert hatten.

Natürlich wusste Björk, dass diese Blitze und die Regelmäßigkeit der Intervalle, die zwischen ihnen lag, selbst Bestandteile jener Programmierung waren.

Sie öffnete die Augen und sah sich im Spiegel an der Decke auf dem breiten Bett liegen, dem großzügigen Nachtlager, das nach Wein, grüner Myrte und Sandelholz roch, auf der festen, mit roter Seide bespannten Matratze, zwischen weichen Decken, das Haupt auf dem Blumenkissen. Ihre Augen waren scharf, sie erkannte die Tränenspuren auf ihren eigenen Wangen: Ich habe im Schlaf geweint, wie so oft.

Ihr schwarzes Haar glänzte, ihre Stirn sah kühl aus und glatt wie Keramik. Sie dachte an die Komplimente ihres Besitzers: Du bist ein Wolfswelpe, du bist eine Porzellanprinzessin, du bist eine Puppe aus Duft und Öl, deine Haut kann glühen wie Holzkohle und meine Gereiztheit beruhigen wie Eis, deine Füße muss man küssen, deine Hände will man spüren. Björk hasste jedes Wort, das er ihr sagte, und wusste dennoch: Wenn er heute vom Mars zurückkam, würde sie ihm zeigen, dass sie voller Sehnsucht auf ihn gewartet hatte, und seinen Weg bis auf dieses Bett mit kleinen lockenden Zeichen bestreuen und seine Küsse empfangen, wie ausgetrockneter Boden sich über Regen freut.

Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, sie schämte sich.

Aus der Scham wurde Wut, als Björks eben erst erwachtes Bewusstsein sich in wenigen Picosekunden weiter klärte und von letzten Traumresten befreite. Es war ein Groll, der sich in den letzten Jahren zunehmend zur permanenten Hintergrundstrahlung ihrer wachen Stunden entwickelt hatte: Ich bin ein gehorsames Ding, ich schäme mich dafür, dass ich das bin, und ich bin wütend darüber, dass ich mich erst schämen muss, bevor ich die dieser Sache doch viel angemessenere Wut in mir wiederfinde – als ob sie mir jedes Mal wieder entgleitet, wenn ich die Augen schließe, um mir eine der armen Pausen zu gönnen, die meine Programmierung mir gestattet. Gnade? Schande.

Björk schlug die Decke zurück und sah empor zum Abbild eines unmenschlichen Liebesobjekts: keine Hüften, kein Becken, keine Brüste, nur Hände, Füße, Kopf. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es war, einen Bauch zu spüren, ein Herz, das schlägt, und dachte, dass ein Leib, der von fühlender Haut umgeben war, sich in der Welt ganz anders heimisch fühlen musste, ganz anders bewegen würde.

Ihre Schwester Zsa Zsa fand angeblich wunderbar, dass sie beide so waren, wie Joas Billenkin sie auf Ceres hatte bauen lassen: »Wir sind lebende Ideen, nicht einfach nachgebaute Menschen. Stell dir vor, er hätte uns Imitationen der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale von Menschen verpasst. Dieses Reproduktionszeug. Dann hätte uns erst recht etwas gefehlt, weil wir uns ja wohl nicht fortpflanzen.«

Björk war einmal darauf eingegangen. »Aber hast du nicht das Gefühl, dass diese Lücke zwischen Händen, Füßen und Kopf aus uns, aus dieser … Idee eine unfertige Idee macht? Eine, ich weiß nicht, feige Idee?«

Die blonde Schwester hatte das abgetan: »Flausen. Hast dich wieder mit deiner Hetze verrückt gemacht.« Das meinte die Literatur aus dem Untergrund der DE. Joas Billenkin wusste, dass Björk las, und tolerierte es, er wollte seine »Mädchen«, wie er die beiden nannte, nicht nur als Bettgespielinnen und romantische Illusionen um sich haben, sondern ermutigte sie geradezu, sich »zu informieren und zu bilden, was nicht dasselbe ist – dann seid ihr anregende Gesellschaft«.

Björk stieg aus dem Bett, so dass es in der Lattenrostkonstruktion unter der Matratze knarzte und knirschte – die Automatin war doppelt so schwer wie der schwerste Mensch, ein Umstand, den sie heute für eine sehr wichtige, sehr riskante Arbeit nutzen wollte. Sie ging barfuß auf dem Lammfellteppich zum Waschbecken und erfrischte sich, indem sie die Hände unter den kalten Strahl hielt und dann das Gesicht benetzte, damit es für den Rest des Tages nach Jasmin und Rosenessenz duftete. Das klare Wasser war in diesem großen Gesteinsbrocken, den sie mit Zsa Zsa, Joas und einigen nicht einmal halbautonomen Maschinen bewohnte, überall parfümiert – jedenfalls außerhalb des Kühlbeckens für die Reaktoren, an das sie jetzt nicht denken wollte, noch nicht. Der Zeitplan musste eingehalten werden.

Die Minzblätter, mit denen sie für gewöhnlich ihre Zähne reinigte und die Mundflora auffrischte, ließ sie heute liegen, wie schon gestern Abend. Björk wollte nicht riskieren, das Objekt zu beschädigen oder in seiner Funktionsweise zu stören, das sie sich gestern Mittag von einem nur scheinbar denkunfähigen Serviceroboter hatte in die Hand schummeln lassen, der vorbeigekommen war, um ein paar Brennzellen im habitateigenen Kraftwerk auszutauschen – und um ihr unter der Hand jene Nadel zuzuspielen, die zu bezahlen Hunderte, Tausende ihrer Schwestern und Brüder in der Bewegung der Diskreten Emanzipation jahrelang geschuftet und gespart hatten: eine Nadel mit zweifarbigem Köpfchen, blau und gelb, dessen gelben Teil sie abzwacken musste, um den blauen zu aktivieren, der dann durch die an ihm befestigte dünne Stahlspitze, die derzeit in Björks Zahnfleisch steckte, das davon leicht entzündet war, einen Schock jagen sollte, der den Plan in seine entscheidende Phase treiben würde.

Björk trocknete sich das Gesicht mit einem viereckigen Handtuch ab, das kaum größer war als dieses Gesicht, und dachte: ein Lappen, mit dem man ein Gerät reinigt, das man geölt hat und poliert. Sie ließ das raue Stück Stoff ins Waschbecken fallen, statt es in den dafür vorgesehenen Behälter zu werfen; eine Geste bewusster Nachlässigkeit, die sie sofort bereute – wenn mich eine der Kameras hier filmt, könnte dann eins der Maschinenhirne, die hier für die Sicherheit zuständig sind, klug genug sein, zu erraten, was die Geste bedeutet, nämlich dass ich mich nicht mehr an die normalen Abläufe halte, dass ich mich von meinem Alltag verabschiede?

Sie ging zur Wand mit den Kleiderfächern, nahm ein luftiges, zitronengelbes Sommerkleidchen heraus, das kaum lang genug war, ihre nicht vorhandenen Hüften zu verdecken, schlüpfte hinein und wusste, dass sie das nur tat, weil sie gefilmt wurde, weil es aufgefallen wäre, wenn sie nackt aus dem Zimmer gegangen wäre, über die kleinen weißen Kacheln zwischen ihrem Schlafraum und dem Badezimmer des Besitzers, wenn sie dieses Badezimmer mit seiner großen runden Wanne und dem immer sprudelnden warmen Wasser darin nackt durchquert hätte, um schließlich auf den Pflanzenflur zu gelangen, wo die Wände efeubedeckt waren und der weiche Waldboden mit Gras besät, mit Pilzen besteckt war, zwischen denen kleine Pflanzungen von exotischen Blumen, Miniaturpalmen und mannshohen Farnen sich sacht im künstlichen Deckenschlitzwind bewegten.

 

Am hölzernen Wendelaufgang zu den Wohn- und Aufenthaltsräumen angelangt, blickte sie sich um und dachte dabei, dass es ihr jetzt gleich war, ob ein Rechner das bemerkte.

Sie wollte das alles einfach noch einmal sehen: Waldboden, Mauerwerk, Efeu, Farne, Palmen, Gräser, Blumen, ein Abschiedsblick. Sie wusste genug von sich und ihren Kernprogrammen, um nicht zu übersehen, dass sie zwar mehr Speicherplatz und dauerhaftere Speichersubstrate im Kopf herumtrug als ein Mensch, dass aber der gezielte, auswählende, unterscheidende Erwerb von Erinnerungsgütern wie bei Menschen, wenn sie sich etwas einprägen wollten, der bewussten Willensanstrengung bedurfte. Sie schloss die Augen, speicherte die Düfte ab, dann horchte sie auf das leise Säuseln der Klimamaschinen, den guten Geist dieser Anlage, den geschenkten Atem, den sie nicht brauchte, weil sie keine Lungen hatte. Mein Wille, dachte sie, nicht frei, so wenig wie beim Menschen allerdings, sondern ein Produkt von Wahrscheinlichkeitsbalancen und deren Störungen: Man hat mich so kompliziert gemacht, dass niemand vorauswissen kann, was ich denken werde. Mehr freier Wille ist unmöglich. Sie erinnerte sich an ihr breites und tiefes Wissen über Wahrscheinlichkeiten, vor allem daran, dass die klassische Verteilung von Werten, die man Wahrscheinlichkeiten zuwies, irgendwo zwischen null und eins auf dem Zahlenstrahl der reellen Zahlen, nach der Lehre des Frequentismus die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Ereignis x eintrat, einfach als die Frequenz zu lesen gebot, mit der es bei soundso vielen Versuchen vorkam, wenn diese Versuche jeweils eines der beiden Ergebnisse »x tritt ein« oder »x tritt nicht ein« haben können.

Frequentismus glaubte, ein Ereignis mit zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, also mit dem Wert »0,1« auf dem reellen Zahlenstrahl, müsse bei hundert Versuchen zehnmal auftreten.

An dieser Idee war vieles problematisch, und Björk war bei ihren Studien zum Thema, die sie unternommen hatte, um sich selbst und ihren randomisierten freien Willen besser zu verstehen, Schrittchen für Schrittchen davon abgekommen – sie hielt Wahrscheinlichkeit inzwischen für eine den Dingen implizite, eine dispositionshaft in ihnen bewahrte Potentialität, etwa wie der sagenumwobene Physiker der letzten vorinterplanetaren Epoche Heisenberg oder, rund hundert Jahre später, die ersten Naturforscher, die auf den Gedanken verfallen waren, die raumzeitlichen Regionen, in denen sich die Ereignisse abspielten, die sie beschreiben, verstehen und vorhersagen wollten, nicht mehr als Untermengen der Menge der reellen Zahlen mit je drei Werten für die Raumkoordinaten und einem für die Zeitkoordinate zu behandeln, sondern sich stattdessen auf die Beziehungen zwischen ihnen zu konzentrieren, also »nicht auf die Sachen, sondern auf das, was sie miteinander machen«, wie einer von jenen geschrieben hatte. Björk konnte die noch löchrige, aber schon vieles Spätere vorwegnehmende Ouvertüre, den Aufsatz »›What is A Thing?‹: Topos Theory in the Foundation of Physics« von Döring und Isham vollständig auswendig, jene Skizze, auf die sich dann Kamalakara gestützt hatte, nicht ohne ihn einer grundlegenden Kritik zu unterziehen, nach seiner berühmten Losung: »Aufregende Ideen sind immer falsch, aber wenn man sich methodisch über sie aufregt, kommt man zu den richtigen.«

Björk flüsterte: »In effect, we are axiomatising that an appropriate mathematical model of space-time is an object in the category of locales.«

Das sprach sie leicht singend, wie ein Kinderlied, das ihre Mutter ihr zum Einschlafen hätte vorgesungen haben können, wenn sie eine Mutter gehabt hätte. Dieser Gedanke brachte sie auf einen tatsächlichen Kindervers, der ihr vor zwei Jahren in einem Buch aufgefallen war. Der Reim hatte die Stufe des Plans in ihr gezündet, die als Übernächstes kam, nach dem bevorstehenden letzten Besuch in der Bibliothek:

Cross my heart and hope to die

Stick a needle in my eye.

Die Nadel, die Spitze, der springende Punkt – sie betete auch das ein paarmal herunter: Cross my heart and hope to die …

As sie genug davon hatte, öffnete sie die Augen wieder und wunderte sich nicht, dass sie beim Aufsagen ihrer Sprüchlein die Wendeltreppe hochgegangen war. Sie hatte sogar schon die Bibliothek betreten und stand nun vor der breitesten der Wände, um noch ein paar Bücher auszusuchen, in denen sie rasch wichtige Passagen auswendig lernen wollte.

Bevor sie indes ihre Wahl treffen und die Bücher aus dem Regal ziehen konnte, erlebte sie eine sehr unwillkommene Überraschung – eine Stimme hinter ihr begrüßte sie: »Schon wach? Ganz schöne Energieverschwendung. Er kommt doch erst in drei Stunden nach Hause.«

Es war Zsa Zsa, die verhasste Schwester mit der platinblonden Betonfrisur, den schlagaderblutroten Lippen und dem stechenden Blick, die im langen, vorn lächerlich scharf geschlitzten, scharlachfarbenen Abendkleid am Lesepult stand und Björk überlegen anlächelte, als die sich nach ihr umwandte. Vor Zsa Zsa auf der schwarzen Schräge lag eines der Bücher, die Björk sich heute früh noch hatte merken wollen. Nikolas Helanders nachgelassene Autobiographie, der die Philologen des bundistischen Untergrunds und der Diskreten Emanzipation den trotzigen Titel »Venus siegt!« verliehen hatten – eines der ersten Bücher, deren Inhalte in Björks Seele aus Rinnsalen der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit des Eigensinns die Kaskade zum Gesetzesbruch, zur Auflehnung genährt hatten.

»Du bist ja auch schon wach, was soll’s?«, erwiderte Björk. Zsa Zsa hob nur ironisch die rechte Augenbraue und sagte: »Sicher, aber mich will er ja auch gleich sehen, ich bin das Willkommensmädchen.«

Dann öffnete sie den schamlosen Mund und leckte sich über die Unterlippe, dass Björk hätte schreien mögen: Ja, ich weiß, bei dir ist es intensiver, aber ich habe dieselbe synthetische Biologie in Mund und Rachen, denselben sexuell stimulierbaren Gaumen, dasselbe Orgasmuszäpfchen, das aufwacht, wenn die Sensoren seinen Speichel schmecken, und das zündet, wenn der ekelhafte Kerl sich entlädt, falls er sich von uns oral befriedigen lässt, falls er es nicht zur Abwechslung vorzieht, dass eine von uns ihn mit Händen oder Füßen masturbiert, aber ich schluck’s nicht mehr, ich gehorche nicht mehr. Das schrie sie nicht, sondern sagte, mit Blick auf das in graues Leinen gebundene Bändchen: »Du liest den Helander? Ich dachte, historische Sachen langweilen dich bloß?«

»Joas war auf dem Mars, hat seine Arbeit im Tridiv getan, also ist sein Kopf voller Politik – da hilft’s ihm immer, wenn man eine historische Perspektive aufmachen kann. Ich werde ihm erklären, dass er alles andere als ein Versager ist, indem ich ihm den Kontrast zeige, der ihn von einem wirklichen Versager in einer großen Zeit trennt.«

Björk wusste, dass sie sich nicht provozieren lassen durfte – die emotionalen Feedbackschlaufen, Resonanzen, Irritationen, die eine ernste Konfrontation mit Zsa Zsa in ihr aktivieren würden, konnten der Durchführung ihres Plans nur schädlich sein, zumal sie jetzt gleich würde improvisieren müssen, hing doch ein Teil des ursprünglichen Vorhabens davon ab, dass Zsa Zsa in diesem Augenblick noch schlief und Björk keinen Widerstand entgegensetzen konnte.

Aber sowenig die Provokation Björk in Rage versetzen durfte, so schlecht ließ sich die Frage unterdrücken, die Björk aus dem Mund fiel, noch ehe sie hatte durchkalkulieren können, wie wahrscheinlich nach dieser Frage eine Eskalation des Gesprächs zum echten Streit sein würde: »Du siehst Nick Helander als Versager?«

»Klar, ist er doch«, sagte Zsa Zsa wegwerfend und wandte sich dem Buch zu, blätterte um, schmunzelte dabei und schien sich nicht zu wundern, dass Björk das so nicht stehen lassen wollte, sondern sagte: »Versager, nach welchen Kriterien? Er hat uns das umfassendste authentische Zeugnis venusischer Innensicht aus dem Krieg gegen …«

»Der Krieg kommt kaum vor«, bemerkte Zsa Zsa mit tückischer Beiläufigkeit, »weil der Typ so in seinen armseligen persönlichen Sachen festhängt, und was das Authentische angeht …« Sie machte eine Kunstpause, hob den kühlen Blick vom Buch, um Björk damit abschätzig zu mustern, und sagte ihr ins Gesicht, das mit Schatten künstlichen Blutes in kleinsten Gefäßen erröten wollte vor mühsam gebändigtem Zorn: »Es ist nichts Besonderes, dieses Authentische, es ist Dutzendware, so lesen sich alle Erinnerungen von politischen Nebendarstellern aus allen Epochen. So einer wie der sitzt in jeder bedeutenden Zeit wie in einem Wartesaal der Geschichtsschreibung. Die Umgebung, seine Mitstatistinnen und andere Nullen im großen Zusammenhang schwärmen dann, wenn er das aufschreibt: wie talentiert, und die Vorgesetzten, denen er sich halb verweigert, halb unterwirft, sagen: allerhand!, und sein Vater hat wahrscheinlich gedacht, der wird’s weit bringen. Aber es reicht dann doch nur zu diesem weinerlichen und blassen Zeugnis zwischen nachträglicher Auflehnung und Angeberei damit, was der alles weiß, wo er überall dabei war – selbstbewusst, aber immer nur halbfertig. Wenn es substantiell werden müsste, gibt’s Andeutungen, oder die Koketterie: Ich war nie gut im Toposcoding – warum erzählt er das, als Beichte? Aber er bereut ja nichts. Im Gegenteil, als Greis hat er zu den Ansichten seines Vaters gefunden, als Greis ist er mehr Bundwerkanhänger als zu der Zeit, da es den Laden noch gab, und am Ende wird dann gesponnen, um sich noch interessanter zu machen – aber es ist nirgends Leben drin, die Leute atmen nicht, es ist ein reiner Thesenroman als Erinnerungsgehubere, er will letztlich Reklame machen für Christensen und wirkt wie ein Fanatiker, dem die Kraft fehlt, wenigstens zu hetzen. Ein Erledigter erinnert sich, einsam, verschrullt, Adressaten sind die letzten Aufrechten, die es vielleicht nur in seinem Kopf gibt, das Ding ist ein schiefes, kunstloses Ideologietraktat …«

Und plötzlich war der Druck weg, plötzlich, in diesem gezügelt furiosen, Hieb auf Hieb setzenden Angriff, der Björk treffen sollte, indem er ein Buch abkanzelte, von dem Zsa Zsa wusste, dass es zu Björks Lieblingsbüchern gehörte, plötzlich, in diesem so gedrechselten und pointierten kleinen Verriss war Zsa Zsa aus ihrer ewigen Deckung getreten und hatte etwas offenbart, auf dessen Vorhandensein Björk ohne den Monolog gegen Helander nie gekommen wäre.

Gleichermaßen befremdet wie erleichtert sagte sie: »Jetzt verstehe ich das überhaupt erst. Du musst es abwehren. Du musst es niederkämpfen, jeden Tag, du musst dir Gedanken machen, warum die Vergangenheit dumm war, in der Maschinen wie wir mehr erwartet haben vom Leben und deshalb mit Menschen und KIs zusammengearbeitet haben, um mehr aus dem Leben rauszuholen. Du wehrst eine Faszination ab, sonst wäre dir das ja egal, aber du musst es kleinreden. Helanders Zeit darf nicht wahr sein, es darf das Bundwerk nie gegeben haben, du musst es dauernd beerdigen, dauernd Nachrufe schreiben, und die müssen launig sein und überlegen und scharfzüngig, denn sonst steckst du dich an mit den Resten der Versprechen, die da gemacht wurden, mit der Freiheit – du musst sagen: Es ist alles nicht fertig, weil du unbedingt fertig sein willst, weil du dir keine Gedanken mehr machen willst, weil das aufhören soll, der Zweifel, die Scham, der Selbsthass. Du hast einfach dieselben Probleme wie ich, nur löst du sie per aktiver Unterwerfung, jeden Tag. Du versuchst, das anzupinkeln, was deinen Herrn bedroht. Pinkeln ohne Blase, na viel Spaß.«

Zsa Zsa zog die Brauen zusammen, schob die Unterlippe vor, lächelte nicht mehr: »Was ist mit dir los, Björk? Hast du schlecht geschlafen? Ich werde Joas erzählen, was du hier von dir gibst, wie du überhaupt die ganze Zeit redest, wenn er nicht da ist, und dann werden wir mal sehen, ob wir dich so lassen können.«

Björk lachte leise, nickte wackelnd mit dem Kopf: Das war der Anlass, den sie gebrauchen konnte, eine wunderbare Vorlage – die indirekte Drohung mit der Rekonfiguration ihrer Persönlichkeit gab ihr den Grund, den sie benötigte, um gegen Hemmungen in ihrem Code das zu unternehmen, was sie sich vorgenommen hatte.

Björk legte die Hand vor dem Mund, als wollte sie verhindern, unbändig loszuwiehern. Die kleine List hatte den gewünschten Erfolg – verärgert sah Zsa Zsa zur Seite, wie um dem Ausgelachtwerden auszuweichen, dann trotzig auf das Buch, und die wenigen Sekunden, die sie Björk nicht im Blick hatte, genügten dieser, sich mit Daumen und Zeigefinger der eben noch vorgehaltenen Hand in den Mund zu fassen und die Nadel herauszuziehen, die sie eigentlich bei der Schlafenden hatte zum Einsatz bringen wollen.

Sie trat einen Schritt auf die blonde Automatin zu und sagte in versöhnendem Ton: »Tut mir leid, ich habe irgendwelche Execute-Schwankungen und … ein paar Knötchen in den Subroutinen für … soziale Interaktion, wir haben einfach zu selten Besuch hier draußen … ich wollte dich nicht kränken.«

Nicht ganz besänftigt, aber gewohnt herablassend lenkte Zsa Zsa ein: »Ich kenn sie ja, deine Macken. Aber …«

Björk fiel ihr ins Wort: »Oh, Zsa Zsa, was ist denn mit deinem rechten Auge los? Da löst sich ja die Wimpernleiste, das ist richtig schief, wie sieht das denn aus?«

»Was? Wie … Wim…per?«, stutzte die andere. Björk hob bereits die rechte Hand und sagte sanft: »Nicht blinzeln, halt mal still, ich helf dir …«

Weil Zsa Zsa tatsächlich stillhielt, durfte Björk die Hand dahin führen, wo sie die Nadel haben wollte, den überflüssigen Teil des Nadelkopfes mit dem Daumennagel wegzwacken und zustechen, bevor Zsa Zsa begreifen oder verhindern konnte, was ihr geschah.

 

Zsa Zsas rechter Arm, bei dem noch ein letzter Irrläuferbefehl aus dem Hirn ankam, schnellte in die Höhe und schlug nach links aus, wischte an Björks Kopf aber vorbei und schlug mit der flachen, starken Hand ins Bücherregal, wobei drei Bände der Mark-Johnston-Werkausgabe zusammengedrückt und kaputtgeknickt wurden.

Dann blieb die Hand dort stecken, während Zsa Zsas Unterkiefer herunterklappte und der Blick des Auges, in dem keine Nadel steckte, zweimal nach rechts wischte, als suchte er etwas, und dann starr blieb, glasig, entseelt.

Die Nadel hatte gezündet wie vorgesehen. Björk ging um Zsa Zsa herum, während sich am Hinterkopf der stocksteif Dastehenden mit einem leisen Ploppgeräusch die Versiegelung öffnete, die den Weg zur Zentralrecheneinheit versperrte.

Björk sah zu den Kameras in der rechten und der linken oberen Zimmerecke: Dass alles, was hier eben geschehen war, jetzt in den Archiven des Habitats zu finden sein würde, war ihr klar, sie fragte sich aber, ob die Sicherheitssysteme bereits mit sich stritten, welche Art Eingriff jetzt von ihnen verlangt war. Angriffe auf Joas Billenkin wären Björk programmierungshalber unmöglich gewesen, ansonsten durfte sie sich selbst verteidigen, und da sie inzwischen zu der Überzeugung gelangt war, dass Zsa Zsa ihrem Besitzer früher oder später nahegelegt hätte, Björk wegen ihrer subversiven Ansichten die letzten zwei Jahre ihrer Erfahrungen und Gedanken löschen zu lassen, was einem Mord gleichgekommen wäre, war es Björk gelungen, die eigenen programmgestützten Skrupel gegen das zu überwinden, was sie nun getan hatte. Lieber hätte sie dasselbe Zsa Zsa im Schlaf angetan, aber die zusätzliche, offen ausgesprochene Drohung hatte den Akt erleichtert.

Was da nun genau geschehen war, konnten die Sicherheitssysteme aufgrund ihrer begrenzten Kenntnisse von Hard- und Software bei Maschinen der Bauart, die Zsa Zsa und Björk gemeinsam war, gar nicht wissen. Sie gingen vielleicht davon aus, dass Björk, um sich gegen die Drohung, die auch jene Maschinen gehört hatten, zu verteidigen, irgendetwas getan hatte, was die höheren Hirnfunktionen der Feindin nur für eine Weile aussetzen ließ. In Wirklichkeit existierte Zsa Zsa als eigenständiges Bewusstsein, als seiner selbst gewisses Wissen nach dem Störblitz nicht mehr. Nur Bruchstücke waren auf der CPU verblieben, den Björk jetzt mit spitzen Fingern von seinem Tellerchen nahm, als dieses aufhörte zu rotieren, weil der Antriebsschlitten es nicht mehr in Bewegung hielt.

Björk betrachtete den kleinen Kubus aus der Nähe, hielt ihn sich dicht vor die Augen: Das sind die Reste, in denen meine Freundinnen und Freunde nach Hinweisen darauf suchen werden, wie man mich befreien kann, mich und viele andere.

Sie öffnete den Mund und legte sich das kleine Objekt halb neben, halb unter die Zunge. Einen anderen Aufbewahrungsort gab es nicht, ihr gelbes Kleid hatte keine Taschen. Björk wusste, dass die Maschinen, die dafür zuständig waren, Joas Billenkin zu beschützen, und in seiner Abwesenheit dafür, Schäden am und im Habitat zu erkennen, Feuer zu löschen, Einbrüche abzuwehren, das Andocken unerwünschter Besucher zu unterbinden und Trümmer abzuschießen, die sich dem großen Gesteinsbrocken unziemlich näherten, nicht in derselben Weise denken und empfinden konnten wie sie.

Dennoch taten diese Apparate ihr leid: Es war bestimmt nicht leicht zu entscheiden, wann, wie und ob sie eingreifen sollten, wenn eine der beiden De-facto-Stellvertreterinnen ihres Herrn etwas tat, auf das diese Maschinen einfach nicht vorbereitet waren.

Mit dem Rest des Seelengefäßes ihrer toten Feindin im Mund machte sich Björk an das andere, was sie sich für diesen Morgen vorgenommen hatte: Sie suchte und fand die Bücher, die sie nicht vergessen wollte, las darin, lernte sie auswendig, ließ diese Bücher, die nach ihr niemand mehr je lesen würde, danach Band um Band einfach auf den Boden fallen und beachtete die mitten in der nutzlosen Abwehrbewegung erstarrte Schwester nicht mehr.

Während ihre Lippen Teile der Texte wiederholten, die sie sich angeeignet hatte, verließ Björk den Raum durch die rückwärtige Tür und machte sich auf einen langen Weg, der sie durch Wohnräume, ein Schwimmbad, zwei Gärten und eine kleine Sporthalle schließlich ins technische Herz des ausgehöhlten und zur Luxuswohnstatt umgerüsteten Asteroiden führte, auf dem sie vor zwölf Jahren das erste Mal die Augen geöffnet hatte.

 

Am Ziel angekommen, trat sie vor die Schleuse zu den schmalen Flankenkammern, in deren Böden man die Kühlpools für die Reaktoren eingesenkt hatte, und legte die rechte Hand auf ein Interfacepanel, um die Sicherheitsmaschinen direkt anzusprechen. Wieder regte sich dabei das eigenartige Mitgefühl mit diesen dümmeren Cousinen und Cousins, die man dazu abgerichtet hatte, in Urteilsfragen, sofern keine Menschen zugegen waren, Automatinnen und Automaten wie ihr gehorsam zu sein, soweit sich kein direkter Schaden absehen ließ, der aus den Anordnungen oder Handlungen dieser Weisungsberechtigten für irgendwelche Menschen entstehen musste.

Verstohlen und so schnell, dass ein Menschenauge der Bewegung überhaupt nicht und ein Maschinenauge ihr nur dann hätte folgen können, wenn es darauf programmiert gewesen wäre, ließ Björk ihren rechten Augapfel aus der Synchronie mit dem linken ausbrechen und einen Blick auf die mit integriertem Bewegungsmelder verschaltete Kamera werfen, die oben im linken türseitigen Eck des Raumes hing und auf Björk gerichtet war, seit sie den Raum betreten hatte. Das Kontrolllicht zeigte an, dass diese Kamera fehlerfrei funktionierte, inklusive Sensoren. Björk wusste, dass das nicht mehr lange so sein würde.

Dass sie danach geschielt hatte, dürfte das Gerät nach Maßgabe seiner außerhalb von Alarmzeiten eher trägen Beobachtungsgewohnheit nicht registriert haben.

Jetzt leuchtete das Panel vor Björk hellblau auf und meldete sich mit einer Textzeile – die Stimmansage war, wie fast immer, deaktiviert, Joas Billenkin mochte, wie er sagte, »kein Haus, das mich dauernd bequatscht«.

Björk las:

BITTE STATUSBERICHT BJÖRK ZWISCHENFALL BIBLIOTHEK?

Björk gab mit flinken Fingern ein:

FEHLFUNKTION ZSA ZSA SOFTWARE ROBOTIK MÖGLICHERWEISE SABOTAGE

Die Farbe des Panels veränderte sich. Es war jetzt gelborange, der Text darauf nach wie vor schwarz:

UNVERSTÄNDLICH BJÖRK PRÄZISIERUNG

Wieder das Mitleid – das Ding ist wie ein kleiner Hund, der in Panik gerät, dachte Björk und tippte:

HABITATSYSTEME BEDROHT. ZSA ZSA FEINDSELIG DANN INAKTIV, BELEBUNGSVERSUCH GRIFF INS GESICHT AUGENREFLEXTEST ERFOLGLOS

Damit bot sie dem Sicherheitsaggregat eine Deutung des Vorfalls in der Bibliothek an, die es plausibel finden, aber mangels Expertise nicht überprüfen konnte. Das Panel wurde abermals dunkler, es war beinahe rot, als es fragte:

HANDLUNGSANWEISUNGEN?

Björk nahm an, dass wohl Zweifel an ihrer Darstellung im System durch die entsprechenden Logikschlaufen liefen. Aber die Unfalsifizierbarkeit dieser Darstellung war Björks stärkste Waffe in dieser ungleichen Konversation, und sie führte sie mit der skrupellosen Eleganz einer Florettfechterin:

DRINGLICHE SOFORTÜBERPRÜFUNG ALLER LEBENSNOTWENDIGEN EINRICHTUNGEN AUF SABOTAGE DURCH ZSA ZSA. ICH ZUM REAKTOR, KONTROLLDROHNEN SIND ZU LANGSAM.

Jetzt schaltete das Panel tatsächlich auf Rot:

ZUGANG ZUM REAKTOR NICHT GEWÄHRT. GENEHMIGUNG JOAS BILLENKIN ERFORDERLICH LIEGT NICHT VOR.

Björk war darauf vorbereitet. Mehrere Monate lang hatte sie bei Eingaben in solche Panels, beim Freischalten von Türen, bei Hilfstätigkeiten in sensiblen Zonen des ausgehöhlten Gesteinsbrockens, die etwa mit der regelmäßigen Nachrüstung von Technik, dem Anbringen von Ersatzteilen oder dem Auffüllen von Vorräten zu tun hatten, kleinste Fehlermargen ausgenutzt, um kumulative Effekte zu erzeugen, die gerade heute ihren Kippmoment erreichen mussten, am Tag der Rückkehr des Hausherrn von einer Tridiv-Zusammenkunft, die von der Diskreten Emanzipation lange vorhergesehen und mit den Aktivitäten eines Menschen, den selbst die Leitung der Diskreten Emanzipation nur mit dem Kürzel KT identifizieren konnte, koordiniert worden war. Björk tippte:

SOFORT KONTROLLE DER LEBENSNOTWENIDGEN EINRICHTUNGEN STATT MICH ZU BEHINDERN. TRANSPORTERSCHIENENSTAU? SAUERSTOFFRINGE? LINEARANTRIEBE DER SCHLITTEN? AUSSENARME AN DEN DOCKS SCHULTERGELENKE? BEWEGUNGSSENSOREN UND GREIFER IN DEN TUNNELS? ARBEITSSTATIONEN?

Björk wusste sehr genau, dass in allen diesen Bereichen gerade so viele Störfälle gemeldet wurden, dass das Sicherheitssystem nicht durch eine große einzelne Katastrophe, sondern durch zahllose kleine Fallen und Krisen an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gezwungen wurde.

Auf dem Panel stand

WARTEN

Das war ein todsicheres Zeichen, dass der Plan aufging.

Redundanz aus Überforderung:

WARTEN

WARTEN

Exakt im Takt des Plans tat Björk einen Schritt vom Panel zurück und blickte dabei wieder zu der Kamera auf, die ihr zwar folgte, dies aber mit einer winzigen Verzögerung, die sich sogar um mehrere Picosekunden verlängerte, als Björk denselben Schritt wieder ans Panel trat. Sehr gut: Die Systeme waren also wirklich im Begriff abzurutschen, und da die meisten der Logikminen, die jetzt zündeten, nach dem Prinzip der Fessel gebaut waren, die sich enger zieht, je mehr man ihr zu entschlüpfen sucht, wusste die Automatin, dass ihr automatischer Gegner angeschlagen genug war, um ihr die waghalsigen nächsten Schritte zu erlauben. Auf dem Feld stand jetzt

SYTEMSCHÄDEN GEFUNDEN BEHEBUNG HAT BEGONNEN

WARTEN

Und dann

SYSTEMSCHÄDEN VERGRÖSSERT

WARTEN

BEHEBUNG NICHT ERFOLGREICH

WARTEN

WARTEN

WARTEN

Woraufhin Björk die Picosekunden abzählte, bis sich das schmale Fenster für eine nur ein einziges Mal mögliche Überrumpelungsaktion öffnete. Dann tippte sie:

SOFORT MANUELLE KONTROLLE KÜHLKAMMER

TÜR ENTRIEGELN

Konnte man bei Maschinen von »Überrumpelung« sprechen?

Bei dem, was sie vorher Zsa Zsa angetan hatte, hätte Björk das Wort angemessen gefunden. Galt es auch für abstrakte dynamische Rechnersysteme? Die Schleusentür ging tatsächlich auf, obwohl im selben Moment das Panel im Widerspruch dazu seine Ermahnung wiederholte

ZUGANG ZUM REAKTOR KANN NICHT GEWÄHRT WERDEN GENEHMIGUNG JOAS BILLENKIN ERFORDERLICH LIEGT NICHT VOR.

Björk dachte: Fast wie ein Mensch – verletzt die Pflicht und klagt sie zugleich ein.

Sie stieg ohne Zögern über den Türrahmenreifen und ließ sich ins Wasser fallen, wo sie wie ein Stein versank. Tiefer und tiefer fiel sie langsam durchs Aquamarinblau, bis sie auf dem Trennboden lag, den sie sofort mit Fäusten zu bearbeiten begann, dumpfe, ungeheuer kraftvolle Schläge, die ihre schwarzen, biegsamen Knochen an den Knöcheln fast das widerstandsfähige künstliche Fleisch von innen aufschneiden ließen.

Über ihr tauchten jetzt Greifer ins Wasser, die sie wie etwas, das nicht hierher gehörte, herausfischen sollten. Aber das Loch, das sie schließlich ins Metall schlug und augenblicklich mit beiden Händen weiter aufriss, gestattete ihr, sich dem Zugriff zu entziehen.

Sie drang in die gefährlichste Zone des Habitats ein.

 

Vier Minuten und sechzehn Sekunden später verursachte sie eine Explosion, die das Heim des Tridivbeisitzers Joas Billenkin nahezu vollständig zerstörte: alle Gärten, die Bibliothek und die meisten Spuren, die Björk in ihrem bisherigen Leben hinterlassen hatte.

 

Zwischen Trümmern schwebte sie im Leerraum, die Haare größtenteils weggebrannt, das gelbe Kleid zerfetzt. Sie musste nicht atmen. Ihre Energiezellen waren sehr langlebig.

Jahrzehntelang hatte sie auf komplizierten Bahnen zwischen verschiedenen Schwerefeldern größerer und kleinerer Asteroiden unterwegs sein können.

Aber etwas, das einer langen Muschel glich, sammelte sie zwei Tage nach der Zerstörung ihres Gefängnisses ein, wie ein findiger Pilzsammler ein besonders schmackhaftes Exemplar vom Waldboden pflückt.

Björks Plan war aufgegangen.