Neun

Doc Urtheil fühlte sich lebendiger denn je, als sein schnelles Schiff in eine Röhre stürzte, die zum zentralen Längstunnel durch Rojos Leibesmitte führte. Mit kribbelnder Kopfhaut, die Hände in die Lehnen seines Cockpitsessels gekrallt, obwohl er im inertialgedämpften Herzraum seines Fahrzeugs keine Beschleunigungs-, Brems- oder auch nur Kollisionsschocks zu fürchten hatte, sah er auf das Röhrensystem, das vor ihm als Hologramm um einen Punkt, der für seine eigene Position stand, gedreht, gestreckt oder gestaucht wurde, je nach den Manövern seines Schiffes, auf der Basis zahlreicher Daten von Kamerasonden, die dem Schiff voransausten wie Pilotfische.

Urtheil verlagerte sein Gewicht immer wieder unbewusst nach rechts oder links, beugte seinen Oberkörper vor oder ließ ihn ins Rückenpolster sinken, je nachdem, wie sich das Schiff bewegte: Links- oder Rechtskurve, Vorstoß oder Abbremsen. Letzteres tat die halbsentiente Steuerung nur dann, wenn sich dem Fahrzeug Minen- und Sicherheitsroboter in den Weg warfen, die der Soldat Track von seiner Feuerstellung im Geschützturm des wendigen Bootes rechts über Urtheils Position dann lachend mit unerschöpflichen Salven panzerbrechender Munition aus drei Bordgeschützen gleichzeitig aufrieb, als wische er Staub. Dass ihm der Widerstand, den Rojos Maschinen Urtheils Vordringen ins Innere des Asteroiden entgegenzusetzen versuchten, nichts anhaben würde, wusste Urtheil; die Kämpfe hatten hier im Herzraum nicht einmal vernehmliche Geräuscheffekte. Körperlich mitzugehen war einfach ein Spaß für den Mann, der seit einem unerfreulichen Zwischenfall in der Oortwolke für mehr als dreißig Jahre nicht mehr im Felde gestanden war, ein zu starkes Erlebnis, eine zu große Versuchung, auch weil er sich auf diese Weise vorbereiten konnte auf das, was er hier vorhatte, die Krönung seiner Laufbahn, den schwersten Schlag gegen die neobündlerische Subversion, der ihm oder seinen Vorgängern seit dem Zusammenbruch des ursprünglichen Bundwerks und der Konstitution der Diversitas je gelungen war.

Wenn Urtheil bei seinen Verrenkungen, die einem nüchternen Beobachter unfreiwillig komisch erschienen wären, ins holographische Bild hineingriff, es näher heranholte und gegen den Weg drehte, den das Schiff sich entlangkämpfte, konnte er die Ansammlungen feindlicher halbautonomer Maschinen als eine Art Wandbelag erkennen, der von den Geschossen, mit denen Track ihn angriff, zersetzt wurde wie Farbflecken von einem Hochdruckwasserstrahl.

 

Schließlich, etwa ein Dutzend Kreuzungen, Bifurkationen und Links- oder Rechtswenden nach Eintritt ins Asteroideninnere, wurden die wenigen neuen derartigen Flecken, die sich überhaupt noch zeigten, erst kleiner, dann zerfahrener – ein Fleck bestand fortan aus mehreren kleinen, deren Elemente nicht mehr schwarmartig koordiniert zusammenwirkten, sondern schon vor Tracks jeweiligen Vernichtungsattacken wie durchschossen und zerstreut wirkten.

»Dass muss Trick sein«, rief Track von oben aus der gedrungenen Gefechtskuppel, »er hat wohl ’ne Schnittstelle gefunden und hackt sich jetzt in die bewaffnete Selbstverteidigung von …«

»Rojo! Er zerfrisst das alte Bundhirn!«, freute sich Urtheil. »Das heißt aber auch, der Soldat, den sie rekrutiert haben, dieser … wie hieß er?«

»Jephraim«, sagte Track – er und seine Brüder hatten das Gesicht des Verräters, als Tick ihn das erste Mal erblickte, sofort mit den Armeearchiven abgeglichen und dort einen von nur vier derzeit Abgängigen aus der zehntausendköpfigen Armee der Killerkinder erkannt. Urtheil schnaubte fröhlich: »Jahaa, Jephraim … der ist wohl so mit Tick beschäftigt, dass er Trick nicht dran hindern kann, den alten Bundkasten von innen zu verwirren.«

Es klang fast ein wenig enttäuscht: Seinen größten Triumph hatte sich der Sicherheitschef des Tridiv schwieriger vorgestellt – aber das Beste kam ja auch erst noch: die alte Hexe persönlich, der rote Drache, den er selbst, niemand sonst, in die gedächtnislose Gruft würde zurückstoßen dürfen. Urtheil war ungeduldig: »Ist es noch weit bis zu diesem kindischen Versteck? Was sagt Trick?«

Er gestand es sich nur ungern ein, aber in diesem Moment empfand er etwas wie Reue, weil er mit dem Hochmut des Mannes der Praxis das Angebot seines Bruders ausgeschlagen hatte, sich über das Lilawverbot von Sende- und Empfangsvorrichtungen in biologischen Zentralnervensystemen hinwegzusetzen. Die Verträge selbst, hatte ihm der Tridiv-Lenker versichert, wären einverstanden gewesen, aber das hätte eben auch bedeutet, sich ihrer unmittelbaren Kontrolle auszuliefern, nicht mehr nur der Beobachtung durch die Soldaten, die ihm keineswegs nur zu Diensten stehen, sondern ihn wohl auch überwachen sollten. Aber direkt mit sich herumtragen wie der arme tote Joas Billenkin, die anstrengende Frau Massignon oder sein mächtiger Bruder Floris wollte er die Lilaws eben doch nicht – mit ihnen ins Bett gehen, auf die Toilette, unter die Dusche, sie beim Liebesakt in sich wissen oder beim Wutanfall, nein, das nicht.

Urtheils Skalp kribbelte, die Backenzähne begannen zu pochen – er kannte die Zeichen, sie waren willkommen. Er geriet in Wut, in Zornvorfreude.

»Wir sind da«, gab Track bekannt.

Das Hologramm erlosch. Ein leicht gewölbtes Bild vom Raum, in dem Urtheils Schiff sanft zu Boden schwebte, nahm seine Stelle vor dem prüfenden Blick des obersten Polizisten im System ein.

Er runzelte die Stirn und machte leise: »Pfffh. Tatsächlich. Die geklaute alte Kiste von der Venus. Lächerlich.«

Er hätte seine Gegnerin lieber in ihrem alten Amtssitz gestellt, im Katzenhaus, in ihrer Hauptstadt, sie dort verhaftet oder an Ort und Stelle im Zweikampf erschossen.

Track war aus seinem Schießstand geklettert, stellte sich neben seinen Chef und sagte. »Es wird nicht mal richtig bewacht. Nur die paar Blechdinger. Siebzehn Stück, und sie wanken und torkeln schon.« Er meinte die Roboter, die den alten Keilblattsegler umgaben und sich in der Tat eher bewegten wie angezählte Boxer als wie entschlossene Leibwächter.

Jetzt stießen gar zwei gegeneinander. Track lachte. Urtheil seufzte angewidert: »Geh raus, mach sie weg.« Der Soldat gehorchte, und während Urtheil im sicheren Schiffsbauch zusah, wie Track die schwache Verteidigung zusammenschoss, stand er auf und nahm seine Schusswaffe aus dem Hüftholster. Urtheil wog sie lange in Händen, betrachtete sie nachdenklich: Gefangennehmen werde ich Christensen nicht.

Zwischen die Augen, in die Stirn, ein Raubtier, gejagt und zur Strecke gebracht. Die verhetzt mir keine Rasenmäher mehr, die macht keinen Lastentransport mehr rebellisch, die verwirrt keine Konten auf Banken, stachelt keine Landwirtschaften beim Neptun mehr zum Einbehalt von Ernten auf, weil wir für die Ernährung unserer Oort-Vorposten angeblich zu schlecht bezahlen, die schickt keine Studenten im inneren System mehr auf die Straße, die lässt auf der Erde keine geheimen Wälder mehr pflanzen. Kraft in der Saat? Schluss mit der Saat.

 

Tracks Arbeit war getan, er stellte sich mitten ins Aufnahmefeld der zentralen Außenkamera von Urtheils Schiff und gefiel sich breit grinsend in der alten menschlichen Geste: Daumen hoch!, umgeben von den Trümmern der letzten Beschützer des Muschelschiffs.

Urtheil räusperte sich – es war ihm nicht bewusst, dass er dabei seinen Bruder imitierte, der das stets tat, wenn er im Begriff war, eine offizielle Erklärung abzugeben oder eine Rede zu halten. Urtheil verließ seine Brücke, stieg die stählerne Kippleiter hinunter in den schwach erleuchteten Saal, der Christensens Leib als Versteck hatte dienen sollen, ging mit dem merkwürdigen Gefühl, er schritte auf einem roten Teppich zu einem jener offiziellen Empfänge, auf denen er sich in Wahrheit stets im Hintergrund gehalten hatte, zum Muschelschiff und scheuchte Track mit unwilliger Gebärde zur Seite, als jener ihm die bereits aufgesprengte Verriegelung und die schon beiseitegeschobene Türklappe präsentierte: »Soll ich vorgehen, oder …«

Urtheil zögerte. Er wäre gern hineingegangen als einer, der das Eigentum des Feindes durch Betreten in Besitz nimmt – Eroberer, Bevollmächtigter, Sieger. Dann aber besann er sich: Mit einer Falle musste er rechnen, und damit, dass er sich erschießen ließ, war ja nun niemandem gedient – so raunzte er unwirsch: »Geh schon, los.« Lächelte der Soldat spöttisch? Es sah, hoffte Urtheil gereizt, wohl nur so aus in diesem schummrigen Licht.

Lange ließ Track ihn wenigstens nicht auf dem Schrottplatz warten, den er hergestellt hatte und auf dem sich sein Herr mit finsterer Miene umsah.

Ein Beingelenk regte sich noch, bei einem der gefallenen Verteidiger, klägliches Kratzen von Metall gegen Metall, so dass Urtheil sich fragte, ob er darauf schießen sollte. Dann rief Track aus dem Innern: »Keiner drin. Außer … na ja, außer ihr.«

Der Schlauchgang, durch den Urtheil in das Schiff eindrang, das KT gestohlen hatte, war enger, als er erwartet hatte. Er musste seine Waffe noch einmal wegstecken, um sich am Geländer der Treppenleiter festhalten zu können, was ihm auf die ohnehin schon entzündete Stimmung schlug. Dann aber war das alles vergessen; selbst seinen Tötungsknecht beachtete er nicht mehr, als er den großen Raum betrat, in dem KTs Lager gestanden hatte und jetzt eine nackte, aufrechte Gestalt auf ihn wartete.

Gerade, würdevoll, mit ruhigem Blick und entspannten Zügen sah sie ihn eintreten. Urtheil sagte zu Track: »Verschwinde. Geh das Boot sichern oder was dir sonst einfällt.«

Track trollte sich.

Die Auferstandene sprach zunächst kein Wort.

Doc Urtheil versuchte, seinen Empfindungen Namen zu geben – Triumphgefühle waren das nicht, eher ganz erstaunliche Unsicherheiten und ein Neben-sich-selbst-Stehen, als wäre er Milliarden von Augen, die den Wesen gehörten, deren Schicksal sich im Kampf der Lilaws gegen die Rückkehr der utopischen Spinnereien des Bundwerks entscheiden sollte.

Urtheil widerstand dem Drang, sich erneut zu räuspern, und sagte: »Du bist wirklich Christensen?« Er richtete die Waffe auf die Frau. Die schwieg noch immer.

Er sagte. »Solche wie dich wird’s immer geben, die nicht akzeptieren können, dass Ordnung auch Unterordnung heißt und dass das Leben ein Spiel ist, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt. Gleichheit, Gleichberechtigung, das sind so mathematische Abstraktionen. Man muss gehorchen und befehlen, wenn was erledigt werden soll. Das hast du lernen müssen, nicht? Und trotzdem an deinem Quatsch festgehalten. Die Lilaws dienen uns in manchem, und wir dienen ihnen in manchem, und irgendwann … wird es einen Sieger geben, aber bis dahin tun wir nicht so, als wären sie nicht klüger als wir und als wären wir nicht immer noch so viele, dass wir sie in einem Kampf auf Leben und Tod besiegen könnten, mit unseren noch nicht computerisierten Restwaffen, unseren dem Zugriff der KIs mit Chaitinfallen und Turingfallen entzogenen … Sicherheiten. Sprengköpfe, Raketen, auf jeder der größeren Welten, selbst auf der Erde. Waffen, die als Schwerter über den Servern hängen. Mutually assured destruction. Abschreckung. Hin und her, geben und nehmen, Ordnung und Unterordnung – die Wirklichkeit, nicht euer Märchenland. So war es immer, und so wird es immer sein, und wer Geschöpfe, die so viel intelligenter sind als wir wie eure Kontinuierlichen oder unsere Lilaws, an den Verhandlungstisch einlädt, um mit ihnen Kooperation zu spielen, den werden sie vernichten. Die überlegenen Intelligenzen, Frau Christensen, die haben für uns nur Verwendungen, bei denen wir als Haus- und Nutztiere dienen. Freunde werden wir niemals sein, und nach unten gilt das auch für uns und die Roboter. Sklaven und Herren, Reiche und Arme, Starke und Schwache, und wer den Leuten einreden wollte, das müsste nicht so sein, hat immer alles nur schlimmer gemacht, zu allen Zeiten. Alles, was von euch kommt, ist unfertig und dabei arrogant, pubertär und größenwahnsinnig.«

Lily Christensen sah den Mann, der soeben die ernsthafteste Erklärung seines Lebens abgegeben hatte, unverwandt an und begann zu sprechen: »Sie verstehen die Situation falsch, Herr Urtheil.«

»Ach? Wieso? Inwiefern?«

»Wir sind nicht hier, um eine politische Diskussion zu führen.«

Urtheil zog ein teils säuerliches, teils spöttisches Gesicht, als er entgegnete: »So, so. Na, dann sagen Sie mir doch, warum wir hier sind, Frau Christensen.«

»Wir sind hier«, sagte die Auferstandene, »um zu sterben.«