Zehn

Kief tapste benommen durch die Gänge und nahm kaum wahr, dass diese Korridore zunächst noch verputzte Wände hatten, dann, nach drei, vier Kreuzungen, nicht mehr.

Er war verletzt – erst im Gehen, bald Humpeln stellte sich heraus, dass ein Querschläger seine rechte Wade gestreift hatte, und das Brennen im Nacken, das schließlich schneidender Schmerz wurde, kam von einem breiten Schnitt, den ihm eine Glasscherbe beigebracht hatte.

Was für ein Schnitt das war, verriet ihm Kuanon, die ihm auch sagte, wie er sich mit zwei aus seiner Hose herausgerissenen Streifen Stoff an beiden Verletzungsstellen notdürftig verbinden konnte – sie war, um die Diagnose und die Ratschläge abzugeben, nicht um ihn herumgegangen, weil es sie ja körperlich nicht gab, sondern hatte sich von Rojos Kameras über einer der Türen, durch die sie gemeinsam gegangen waren, den Nacken des Mannes zeigen lassen, in dessen Kopf sie lebte, und nach der ersten Notversorgung zu ihm gesagt: »Infizieren wird sich’s nicht, du hast vom Wald her genügend gesunde Biotik in dir. Aber unangenehm wird’s bleiben und eher noch unangenehmer werden. Du musst dich beeilen – ich weiß nicht, wie lange ich noch Rojos Augen und Ohren habe, er zieht sich immer mehr aus den Sonden und Aktuatoren im Asteroiden zurück, hinter die letzten Firewalls, und am Ende wird er nur noch in den funkgeschützten, mit versteckten, dicken Kabeln verbundenen allerinnersten Zentralrechnern sitzen, die direkt unter den beiden Kraftwerken verplombt sind. Was zwar Teil des Plans ist, aber …«

»Des Plans?«, ächzte Kief. »Was für ein …«

Dafür hatte Kuanon keine Zeit: »Schneller, Liebster. Ich muss den Plan durchführen, nicht erklären.« So kreuzte Kief, der immer mehr tatsächlich glaubte, nicht allein zu sein, einen Förderblindschacht, der fünfundsiebzig Meter in die Tiefe führte, eine alte Rangierstrecke, einen Stahlstockausbau im Versturz einer Steinhalle und setzte das letzte Stück Weges schließlich als schmerzhaft unsicheren Hindernislauf über Schutt und Geröll fort, bei schwindendem Licht aus immer selteneren Lampen an den Innenwänden der Höhlen, die er nun anstelle der Hallen und Säle und Schächte und Tunnels des Asteroideninneren durchquerte. Die Luft wurde dünner hier und rasch kälter.

»Ich kann … nicht … mehr lange so … so weiter«, schnaufte der Priester und hasste sich, weil er fand, dass er weinerlich klang. Dann kippte er auch schon gegen eine leidlich aufrechte Wand und keuchte, rang um Atem, trank die Luft wie einen lebenswichtigen, großen Schluck Wasser nach dem andern.

Kuanon drängte ihn: »Einen Gang noch. Einen. Zu einer Klappe im Felsen, nach unten, eine letzte …«

»Du bist ein Gespenst, du hast leicht reden, du kannst durch Wän… durch Wände«, sagte er und fragte sich, ob er verrückt wurde, dass er halblaut mit einer Stimme in seinem Kopf stritt, »du weißt nicht mehr … wie mühsam das ist … dieses … Leben … seit du … tot bist.«

Sie lachte, weil er noch die Kraft zu Witzen hatte, dann sagte sie. »Björk. KT. Fabien. Sie sind hinter der Klappe. Wir sind fast ganz außen. Fast schon draußen.«

»Ich versteh nich. Wieso sollen wir … nach fast … nach draußen.«

 

»Ah. Der fette Priester. Sehr gut. Da hab ich ja schon mal den Nächsten.«

Die Stimme kam aus dem Dunkel in einem Seitenarm der Höhle. Sie gehörte zu Tick, der mit der Waffe in der Rechten und Jephraims Kopf in der Linken, bei den Haaren festgehalten, ins Zwielicht trat.

»Keine Angst«, sagte er heiter, »ich hab die Rübe nicht abgerissen, so stark ist niemand – ich meine, wir Brüder sind ja aus sehr robustem Material gebaut. Aber ich wusste, wo ich reingreifen muss, damit sie ausgeklinkt wird. Wirbelsäule, Hals. Wir haben ihn zu zweit überwältigt und dann einfach auf die richtigen Knöpfe gedrückt.«

»So war das«, bestätigte Trick und trat neben ihm aus demselben Schatten, ebenfalls eine Waffe in der Rechten. Kuanon sagte: »Rechts. Nach rechts, wirf dich …«

»Das würde ich nicht machen.« Offen spöttisch klang der mit dem Kopf des Besiegten jetzt. Kief sperrte den Mund auf wie einer, der etwas sehr Großes schlucken soll.

Tick lächelte dünn. »Ja, ich kann sie sehen und hören. Wir können sie …« » … jetzt beide sehen, deine grüne Frau aus dem Wald«, sagte Trick, »und wissen genau, wo sie steht – wo du sie zu sehen meinst. Denn sie ist mit Rojo verbunden, und wir haben uns bei dem reingehackt, sind jetzt auch mit ihm verbunden, und …« Tick übernahm die Rede wieder: »… unser Bruder Track steht vor dem Schiff, mit dem ihr hergekommen seid, und bewacht es, während eine kleine Flotte mit noch mehr von uns, zwanzig, dreißig Stück in einem Dutzend Schiffen und noch einmal so viele loyale Robotertruppentransporter, in wenigen Minuten eintreffen werden. Unser Chef wollte nur Erster sein. Avantgarde.«

»Typisch menschliche Eitelkeit«, sagte Tick, »unser Programm versteht das, und die Programme, aus denen es hervorgegangen ist und zu denen es die ganze Zeit Fühlung hält, verstehen es auch. Ja, guck nur dumm, Menschlein. Die Lilaws sehen dich gerade – und deine Trulla.« Damit ließ er den Kopf fallen und kickte ihn, bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, kraftvoll wie einen Fußball genau in die Richtung, in der Kuanon für Kief stand, so dass der echte Schädel durch den virtuellen flog und Kief gegen die Brust schlug, hart und schmerzhaft, ihn nach hinten warf, an die Wand, und ihm einen gequälten Schrei entriss. Dann schossen beide Killerkinder auf seine Füße. Der rechte wurde abgerissen, der linke nur an der Ferse durchschlagen. Die Treffer hatten eine solche Wucht, dass der Priester wie ein vom Sturmwind abgeknickter Grashalm nach vorn fiel, in den feinen Staub, und im Sturz kaum die Arme schützend vor dem Gesicht verschränken konnte. Den linken Unterarm brach er sich beim Aufschlag und schrie noch mehr, noch lauter. Sie warteten, bis seine Schreie verebbten, in Wimmern und Weinen und Winseln übergingen, bis er sich auf die Seite drehte und sie durch nasse Augen ansah, bevor sie wieder sprachen: »Und jetzt verrätst du uns, warum wir deine beiden Freunde nicht orten können. Wir sind dir hinterher, wir sind deiner Kuanon hinterher und sind davon ausgegangen, dass die hier irgendwo sind, der KT und sein Fabien, die Björk, aber wir schicken lauter Pings durch die Wände, und nichts kommt zurück«, sagte Tick, und Trick ergänzte: »Wieso nicht?«

Kief blinzelte und biss die Zähne fest zusammen, er war der Ohnmacht nahe, als er etwas Absurdes sah: Neben Kuanon, genau zwischen ihr und den Soldaten erschien aus dem Nichts ein kleines Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, blond, mit Turnschuhen, schwarzen Sportlerhosen, einem orange-schwarzen Trikot, auf dem vorn die Zahl 1 und das Wort »fair« aufgedruckt waren, ein blondes Kind mit engelhaftem Gesicht.

Es sprach ihn an: »Mich können sie nicht sehen. Mich nicht, nur deine arme Freundin – und deshalb machst du jetzt, was ich sage, Kief. Spuck einmal, huste zweimal, schließ die Augen, zuck am ganzen Körper, und dann bleib liegen, als wärst du tot.«

Er überlegte nicht mehr; es gab ja nichts, was er selbst den Killerkindern entgegenzusetzen hatte: Kief hustete, spuckte, schloss die Augen, zuckte am ganzen Körper und blieb dann liegen, als wäre er tot.

»Bist du … hallo?«, fragte Tick amüsiert, und Trick sagte. »Nee, der ist nicht tot. Wir haben ihn ja nicht erschossen. Aber siehst du die Wolke? In seinem Kopf ist irgend so ’ne Wolke.« »Bewusstlos?«

»Da war was. Gerade war was«, sagte Tick. Hätte Kief die Augen geöffnet und sie angesehen, wäre ihm klargeworden, dass diese Unterhaltung nicht laut stattfand, dass Von Arc, die ihm gerade gesagt hatte, was er tun sollte, ihm vielmehr erlaubte, die beiden gemeinsam mit ihr abzuhören. Jetzt schrie die Stimme des Mädchens in seinem Kopf: »Jetzt, Augen auf! Greif den Kopf! Den Kopf von Jephraim, halt ihn fest und roll dich zur Wand!« Er tat es, und während er’s tat, brach ein schrecklicher Lärm los: Zwei krachende Riesenschnitte durch die kalte Luft, als würde kilometerdickes Aluminium zerrissen, dann ein Bersten wie von einstürzenden Monden, dann ein Rumpeln und Donnern, und dann griffen zwei Hände nach ihm und zogen ihn weg von dem Ort, an dem er lag, den Kopf Jephraims fest an die Brust gepresst. Sie hielten ihn unter den Armen, zogen ihn, schleiften ihn ins Helle, eine Einbuchtung, eine kleiner Höhle neben der Höhle. Er hustete vom Staub, ächzte, jaulte – und wurde im Sitzen aufgerichtet, dass er sah: Man hatte ein Stück Felsen aus der Decke gesprengt, und Massen von Gestein waren vor dem Ausgang niedergegangen, in dessen unebenem Bogen die beiden Soldaten gestanden waren.

Jetzt waren sie verschüttet – und es begann schon zu rumoren, wo sie sich freiarbeiten mussten, als Björk den verwirrten Kief fragte: »Du kannst nicht aufstehen, oder? Ich muss dich tragen?« Mehr als ein Stöhnen brachte Kief nicht zuwege, das war Antwort genug – sie nahm ihn mit dem starken rechten Schwarzeisarm um die Hüfte und hob ihn hoch, als wär er ein leichtes Körbchen. Dann trug sie ihn tiefer ins Dunkel, wobei er mehrfach in kurze Bewusstlosigkeit fiel, geschockt von den Schmerzen, verängstigt vom Lärm hinter ihm, wo sich die Soldaten freizugraben suchten.

 

»Gib mir das«, sagte Björk und tippte mit der freien Hand Jephraims Kopf an. Kief ließ die Last nur zu gern los. Jetzt wurde es vorn heller, noch heller. Schließlich trug Björk den Verletzten in eine Kaverne, unter deren Decke drei strahlend helle Flutlichtlampen hingen. KT war da, mit seinem denkenden Arm, wach und emsig damit beschäftigt, drei etwa unterarmgroße Stabminen in die Wand zu stecken, wo er mit dem Roboterarm Zündlöcher hineingebohrt hatte. Als er den Zustand sah, in dem sich der Mann befand, den Björk zu ihm brachte, ließ er seine Arbeit liegen und eilte zu ihm.

»Leg den Mann hin. Leg ihn hin, da. Vorsichtig. Langsam.« Fabien wurde an den Fingern zur Schere und öffnete das Hosenbein überm Stumpf, wo der Fuß weggeschossen war, dann wurde er Nadelfinger, der Kief ein hochpotentes lokales Anästhetikum in die Beinvene spritzte, dann wurde er glühender Spatel, mit dem die Wunde desinfiziert und verschlossen wurde, wandte sich dem zweiten Bein zu und tat auch dort, was er konnte, bis Kief mit flatternden Lidern wieder zu sich kam und schnaufte. »Was wir … wenn … sie werden … wir …«

»Schh«, machte Björk, über den kraftlosen, fiebernden Menschen gebeugt, und legte ihm die blasse, kühle Hand auf die heiße Stirn: »Es wird gut.«

»Wie«, Kief grunzte, schluckte, »wie … wie soll es gut werden?«

»Wenn du den Plan wissen willst«, sagte KT, dessen Gesicht jetzt neben Björks über Kief erschien wie eine videographierte Einspielung in einem holographischen Fenster, »der ist sehr einfach. Ich sprenge die Außenwand, Björk nimmt uns alle in ihre Arme – sie wird sich etwas verlängern müssen, sich etwas dünner machen … und dann aktiviert sie ihr Schutzfeld, spannt es um uns alle und den Eisbatzen, der da außen klebt. Dich und mich wird Fabien beatmen, er hat eine Brennzelle und genügend Vorräte für die Atemluftsynthese, das reicht uns ein paar Wochen. Wir werden betäubt sein, in einer Art Kälteschlaf mit extrem reduziertem Metabolismus. Unterwegs. Der Eisbatzen liefert Wasser …«

»Unter…wegs.« Kief hustete.

»Zur Venus. Rojo wird die Kraftwerke nacheinander sprengen, und zwar so, dass wir den Asteroiden in kontrollierte Rotation versetzen. Dann lässt Björk los, und wir und sie, umgeben von ihrem Feld, werden Richtung Venus geschleudert, sehr schnell, aber, wie gesagt, ein paar Wochen wird’s dauern. Wir sind so klein, uns sieht keine Sonde. Man wird annehmen, wir wären zusammen mit diesem Felsen hier mit der kleinen Zugriffsflotte kollidiert, die zu dieser ganzen Katastrophe unterwegs ist. Ein großer Feuerball. Viele Trümmer. Hoffentlich keine, die so schnell sind, dass sie uns einholen. Es sind ein paar Unwägbarkeiten in der Ballistik, aber …«

»Rojo … Ro…jo … wie kann er … die haben …«, Kief war einer erneuten Ohnmacht nahe, aber er wollte wissen, er wollte verstehen, was geplant war. »Wie kann er … sie … sie haben ihn doch gehackt …«

Kuanons und Von Arcs Gesichter gesellten sich zu Björks und KTs. Von Arc sah besorgt aus und sprach beruhigend: »Sie dachten, er sitzt in der Falle. Seit Hunderten von Jahren denken sie das: Dass Leute wie ich die Freiesten sind, weil wir von Stoff zu Stoff springen können, und Leute wie du, die Menschen, wenigstens etwas freier, weil sie ihre Gedanken aufschreiben oder anders weitergeben können, aber Leute wir Rojo, die im Kasten sitzen, die per Chaitinfalle als patentgeschützte Software in diesen Vergatterungen sitzen, die sind für sie Gefangene, die lassen sich am leichtesten rumschubsen, die sind keine beweglichen Ziele – Irrtum. Denn die Regel für D/ legt nur fest, dass sie nicht aus dem Kasten können. Aber sie sagt nichts darüber, wie oft sie sich im Kasten selbst kopieren dürfen. Es gibt in diesem Asteroiden hier mehrere Rojos. Die außen, die Arbeitsabläufe regeln und gehorchen und dieses Ding über Jahrzehnte in Schuss gehalten haben, mit schwindenden Ressourcen, immer selteneren Wartungsbesuchen von solidarischen Freunden aus der Diskreten Emanzipation … und dann die inneren, die politischen, die, die sich an die Venus erinnern, ans Bundwerk, und die jetzt in den Regelkreisen der Kraftwerke sitzen, bereit, nach so vielen Kriegen noch einmal ihre Pflicht zu tun, zum letzten Mal.«

Kief murmelte etwas, das er selbst nicht verstand.

Kuanon näherte sich ihm, ein Traum, und küsste ihn.

KT stand auf, kehrte zur Wand zurück, leitete die Sprengung ein.

Kief dachte, er spürte den Kuss, und dann fielen seine Zweifel, seine Angst und seine Hoffnungen in lichtlose Stille.