Der Priester saß auf einem hellgrauen Stein und kaute weichen Wasserpfeffer.
Er kannte diese Gewürzspezies, die man für hiesige Anforderungen genetisch modifiziert hatte, von der Erde her gut: Auch in seinem Wald war Persicaria Hydropiper gewachsen, bevor die Lilaws diesen Wald verbrannt hatten.
Der Einarmige neben ihm rauchte eine Kräuterzigarette, sanfter, aromatischer Qualm kräuselte sich von seinen Lippen her in der milden Morgenluft.
Kief sah in Richtung Fluss, wo Kuanon und Von Arc einander im Schneidersitz an einem Go-Brett gegenübersaßen und eine Partie spielten, die schon Tage andauerte. Kief wusste, dass das nicht wirklich stattfand, dass das nur ein Symbolbild war dafür, dass die beiden Wesen in seinem Kopf viel zu besprechen hatten und dies sozusagen weit weg von der Schnittstelle taten, die sein Wachbewusstsein war – je nachdem, wo er sich aufhielt, sah er sie immer ungefähr in derselben Entfernung wie jetzt, und stets waren sie mit irgendetwas befasst, das sie aneinander maß, aufeinander bezog, miteinander beschäftigte.
Kief blinzelte und spielte mit den Zehen des linken Fußes im tiefblauen Gras.
Der rechte Fuß war noch nicht sonderlich empfindungsfähig, die Nerven darin wuchsen erst zusammen, es war ein Vorgang, der viel Geduld verlangte: »Die Sohle lernt noch«, hatte Björk neulich gesagt, »so wie mein Mund und meine Ohren und Augen, nachdem die neuen Programme draufgespielt wurden. Gib der Sache Zeit.«
So war sie, dachte der Priester: Geduldiger als er, geduldiger als Kuanon, unendlich geduldiger als Von Arc, die es kaum erwarten konnte, »endlich aus deinem Kopf rauszudürfen« – auch daran wurde gearbeitet: Die blauen Nesseln lagen eng an Kiefs Rückgrat an, sie würden sofort ins Becken finden, wenn Björk und Fabien, der wieder einen vollständigen Körper hatte, mit Hilfe der Extrarechenkapazität, die aus Zsa Zsas Prozessor in Fabiens Leib resultierte und von Björk unter KTs Anleitung entsprechend programmiert wurde, die letzten der physikalischen Probleme erst einmal gelöst haben würden, die bei dem Versuch aufgetreten waren, das nicht länger geheime Wissen der Lilaws über die Dreiecke aus Licht, unterlichtschnellen und überlichtschnellen Teilchen bei der Erschaffung einer neuen, dem freien Toposcoding adäquaten flüssigen Form des Schwarzen Eises umzusetzen.
Die Sonne stand niedrig am Himmel, der Morgen war eben erst angebrochen.
Der Tag würde länger dauern als ein Jahr auf der Erde – der ehemalige Missionar fand’s kurios: Ich bin von einer Welt, auf der die Sonne im Osten aufgeht und im Westen versinkt, auf einem großen Umweg zu einer Welt gereist, wo das genau umgekehrt ist.
Ich war in einem Wald zu Hause, jetzt lebe ich in einem Flussdelta.
Der Bruch in der Venuskruste, in dem die letzten Nachfahren der Bundwerks-Neukörper lebten, war ein beschauliches Tal rechts und links eines Flusses, eine Gegend der Wiesen, kleinen Hütten und Brunnen, eine Gemeinschaft, die, beschützt von einer sozial, ökonomisch und kulturell florierenden venusischen Roboterrepublik, die sie jetzt nach beiden Seiten hin umgab, seit Jahrzehnten Vorbereitungen für die Zeit getroffen hatte, in der die Herrschaft der Lilaws ins Wanken geraten würde.
»Wird die Zeit reichen?«, fragte sich Kief laut – sich und den andern.
KT verstand nicht gleich: »Die Zeit? Wofür?«
»Für die neue Ordnung. Dafür, dass eine aus der alten wächst, die jetzt stockt und stürzt.«
»Wir arbeiten alle dran. Sehr viele. Wir … wir sind alle dran interessiert, nicht wahr? Das ganze Gemeinwesen, das da gerade zu sich kommt, nach dem langen Schlaf. Dem Schlaf, in dem wir einen Albtraum hatten, der Lilaws hieß.«
Kief brummte nachdenklich »Es muss doch noch viele geben, die … wie dieser Doc Urtheil, den ihr rausgelockt habt, weil ihr wusstet, dass die menschlichen Helfer der Lilaws diese Strategie hatten, diesen Radikalindividualismus, wonach das Zeitalter der Einzelnen … Na ja. Aber es wird noch andere geben wie ihn, oder?«
KT stimmte zu: »Die gibt’s. Aber sie werden sich überlegen müssen, ob sie sich gegen das Gemeinwesen stellen wollen, von dem ich geredet habe, oder sich lieber … einmischen wollen, mit ihren … Talenten, die sie zweifellos haben. Venus lebt.«
»Das habe ich mich auch gefragt, warum ihr so bescheiden geworden seid, in eurem Bund. Venus lebt, statt wie früher dieses kriegerische: Venus siegt.«
»Ach, siegen … siegen kann man auch als Zerstörer. Leben, das ist eine ganz andere Arbeit. Sie steht höher. Siege und Niederlagen, das waren die Kinderkrankheiten des Bundwerks. So wie das Bundwerk eine Kinderkrankheit des Freiwerks war.«
»Die alten Begriffe. Ihr seid … wir alle sind jetzt Markov, nicht? Schade nur, dass wir das lebende Symbol nicht haben, um es zu befragen … und um ihm zu erlauben, Buße zu tun für seine Zeit als Zwangsmonster. Wir mussten es opfern. Es war eine Zielscheibe, die von uns abgelenkt hat, nicht?«
»Du meinst Lily Christensen.«
»Ja.«
»Aber das eben«, sagte der Einarmige, »ist der Unterschied zwischen uns und den alten politischen Bewegungen und Parteien. Die haben ihren Ideen und Symbolen gehorcht. Bei uns ist es umgekehrt: Die Symbole und Ideen müssen uns gehorchen. Und wenn wir sie als Requisiten einer Kriegslist brauchen, dann gehorchen sie.«
»Ohne Klagen«, sagte der Priester lächelnd.
Von Arc, am Fluss, warf beide Arme in die Höhe, stand auf und vollführte einen kleinen Siegestanz. Kuanon streckte ihr die Zunge raus.
»Was siehst du? Was passiert da, was so lustig ist? Ich seh’s dir an, du amüsierst dich – was ist es?«, fragte KT.
Der Priester sagte: »Ein Zwischenergebnis.«