Man kann pausenlos auf den Beinen sein und trotzdem stillstehen.
Man kann im Davonlaufen erstarren.
Beides lernte ich, nachdem mein Vater meine Wohnung verlassen hatte. Ich brach sofort auf, lief davon, so schnell ich konnte, und kam dennoch nicht vom Fleck. Ich zog um die Häuser. Bald fand ich Brücken. Ich ging auf ihnen hin und her. Ich betrat, bestieg, benutzte kein Inertial, tagelang, begab mich zum Essen und Trinken nur in die schlimmsten Löcher, in denen sich sonst ausschließlich Bewohner der Hänge und Tiefebenen aufhielten, die unter D/ lebten. Ich schlief in Absteigen, lag volltrunken auf hartem Betonboden, wälzte mich im Schmutz und wollte es der seit dem Ja so gut wie unbesiegbaren Immunabwehr in meinem Blut mit aller Macht zeigen, sie herausfordern, angreifen – ein oppositioneller Akt, wie ich mir einredete, ein Hohn auf Christensens Losung »Ordentliche medizinische Versorgung für alle!« Denn diese Losung war zwar eingelöst worden, aber zwei Stufen der Gesundheit gab es dennoch: Der Ja wurde vorerst fast exklusiv den Kindern hochrangiger Delegierter gewährt, nun gut, auch einigen Waisen – »zum Vorzeigen, es sieht gut aus«, sagte Shini –, und die Begründung dafür war eine Frechheit: Der Ja sei ein Opfer, das die Eltern brächten, denn »ihnen entgeht«, wie mein Vater predigte, »ein Teil des Schönsten, das Miterleben des Erwachsenwerdens der eigenen Nachkommen nämlich«, und außerdem »bringen sie ihre Kinder sogar in Gefahr, für den Fortschritt, denn viel Erfahrung haben wir ja mit den Spätfolgen auch noch nicht, das Verfahren ist schließlich sehr jung«.
Sehr jung – wie ich: ein Mensch, der gegen Mauern lief, im Schnee herumkroch, sich nicht wusch und manchmal grundlos schrie, auf irgendeiner Brücke.
Ich schrie die Wolken an, die Zeit, die Ordnung des Bundwerks.
Meine Verbindungen waren allesamt gekappt.
Natürlich führte dennoch jeder Kontakt mit dem Schaum – auf Treppen, am Boden, auf Theken – dazu, dass mich Framegitter erkannten, dass sie mich mit ihrem Quatsch bestürmten und betexteten. Dieser, jener, dort drüben noch wer, alle suchten mich – auch Aadarshini. Es war mir gleichgültig. Sollten sie Askaris schicken oder D/ mit Vorladungen.
Die Welt hatte mich beleidigt, ich wollte sie nicht mehr kennen.
Rotäugig, den Kopf voll blindem Lärm, ging und fiel ich durch Träume, wurde von Visionen heimgesucht, vielleicht Erinnerungen: Ich bastelte mit meiner Mutter an einem Abakus, der »Sprache überflüssig machen« sollte, ich rang mit Schlangen, ich prügelte mich mit meinem Vater – das waren, so viel bekam ich am Rande mit, in Wirklichkeit zwei D/ mit Kegelköpfen, die mich aus einer Kneipe warfen – ich sprach mit Von Arc und bettelte sie schlotternd an, die Kinder meines Bruders zu beschützen.
Wir schwammen in Orangensaft, ich dachte: richtig, die langen Nachmittage mit meiner Mutter, und der Stich der Süße im Mund, und die Dummheit eines Kindes, das noch nicht wusste, wie erstaunlich es war, dass auf dem Mars Orangen wuchsen.
Orangensaft, Blut, Blödsinn.
Hitzige Scheinerlebnisse waren das und fröstelnde, schmutzige und reinigende. Einmal, in einer Gasse, lief ich im Halbdunkel gegen einen Menschen, wie ich noch nie einen gesehen hatte. Bleich war sein schmales Gesicht, sehr dünne Kleidung trug der Kerl, aus Armeebeständen, die zu groß war. Sie flatterte um die knochige Gestalt. Deren Haut war am Hals von Schründen und Pockennarben übersät. Ich erschrak und wich zurück.
Der Mann hob eine Flasche Rum in die Höhe und sagte: »Ein Bundmann! Im Dreck! Und mit abgerissenem Schulterstreifen! Freund!« Er spuckte auf den Boden. Es war etwas Dunkles, das da in den Schnee fiel, Blut oder Schleim.
Ich sank gegen die Mauer. Der Garstige rief: »Freund, wir sind Freunde! Ich komme aus dem Untergang! Ich hab’s gesehen. Da sterben Kinder. Da essen die Mütter sie auf. Ich komme aus Dsonkwa Regio. Da gehen die Kleinsten an der Krätze und am Blutkrebs kaputt, wo die alten Leute sich die Pusteln ausstechen, wo Hunderttausende verderben, jeden Tag. Auf den Tod! Auf den allmächtigen Tod!«
Er riss die Flasche zum Mund, trank in langen Schlucken, sein Adamsapfel hüpfte grotesk in diesem dünnen Hals. »Hunderttausende! Wer nicht an Pest und Fieber stirbt, der wird erschossen, hurra! Oder der Kopf wird abgehackt – weißt du«, er drängte mir die Flasche auf, ich wehrte mich hilflos, »weißt du, was Sicheln sind? Sicheln sind an Armen von D/! Sicheln schlachten uns! Weißt du das? Meine Frau und meine Tochter. Große Integration! Groß und immer größer! Wer hat die Keime in unser Wasser gesetzt? D/? K/? Der Bund? Wir werden ausgerottet. Auf die Ausrottung! Sie lebe hoch! Christensen, die Ausrottung, Lily, die Ausrottung, hoch! Hoch! Dreimal hoch!«
Es regnete Gestank aus seiner Flasche, mit dem er mir Stirn und Ärmel benetzte.
Er griente. Speichel troff ihm vom Kinn.
Ich sagte: »Halt, bitte … Ich … erzähl … erzähl mir das.«
»Willst es wissen, ja?« Er schien verblüfft, tat einen Schritt zur Seite. Es war, als hätte er bis eben, bis zu dem Moment, da ich ihm Antwort gab, gar nicht recht gewusst, dass er zu jemandem redete, dass da wirklich ein anderer mit ihm zwischen den Containern, unter den Brücken, unter den einander kreuzenden Zilien in großer Höhe stand, in der Tiefe seiner Verlorenheit, seines Entsetzens.
»Willst es …«, er schniefte, der Satz zerlief ihm im Mund.
Ich sagte, mit festerer Stimme jetzt: »Ja, ich will es wissen. Und andere wollen das auch. Wir sollten es in die Frames stellen! Es müssen viele … alle hören.«
Er lachte, vorn fehlten zwei Zähne.
»Meine! Meine Geschichte, die … die passt nicht in eure … Frames … Bruder.«
Es war der zweite Ankläger Christensens, der mich Bruder nannte.
Ich beugte mich vornüber und kotzte.
Der schreckliche Mann griff nach mir, hielt mich fest, wollte mir wohl helfen. Ich aber stolperte an ihm vorbei, grabbelte an meiner Hüfte herum, öffnete mein Holster, riss die Waffe heraus.
Zielte auf ihn, schwankte. Er riss die gelben Augen auf, dann schwang er die Flasche nach mir. Dicht vor meiner Brust schlug sie gegen die Wand und zersprang in Scherben, drei große, viele kleine. Er rutschte im Schneematsch, fiel nach hinten, wankte, ich trat ihm gegen den rechten Oberschenkel. Er knickte ein, brach ins Knie. Ich schlug ihm mit dem Waffengriff gegen die Stirn, dass eine Wunde aufplatzte.
Er machte ein Geräusch, das klang wie: »Ohhhg!«
Er kippte zur Seite, blieb liegen.
Ich weiß nicht, ob ich ihn erschlagen habe.
Ich ließ ihn liegen, hastete fort, auf die hellere Straße. Sah mich um. Ein Inertial senkte sich von sehr weit oben herbei, auf die dunkle Gasse zu.
Askaris standen darauf, kerzengerade Wächter. Ich floh woandershin, mich weiter zu belasten, zu strapazieren, zu vergiften, zu misshandeln.
Ich erwachte, ich weiß nicht, wie viel später, hinter einer Kühlhalle für Importe aus den Meeren, zwischen zwei großen, dampfenden Tonnen voll Sud, mit völlig klarem Kopf und schmerzfrei.
Der Ja war also stärker gewesen als mein Selbsthass und seine giftigen Folgen.
Ein D nickte mir, gut abgefederten Kopfes, misstrauisch zu. Er las Müll von der Straße auf und stopfte ihn in einen Kasten, der vorn an seinem Becken angebracht war. Ich nickte zurück. Meine Uniform war zerschlissen, teilweise zerrissen und starrte vor Dreck.
Ich ging zwei Straßen weiter, fand ein herrenloses Inertial und stieg auf. Es war sehr schwierig, das zu tun.
Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich mit mir anfangen sollte, aber ich wusste zumindest wieder, was und wo die Welt war. So benutzte ich, weil meine Verbindungen schweigen sollten, Kehlkopf, Zunge, Mund und Stimmbänder, um der kleinen Plattform zu sagen, wohin ich wollte: »Helandermuseum.«
Das hielt ich für einen guten, grimmigen Witz: Die Institution war nach meinem Vater benannt.
Seit zwanzig Jahren stand sie am äußersten Außenrand des Trichters, wo der Fluss vorbeifloss, als zweitäußerster Ring, der jenen äußersten vom Rest Le Jeus trennte und nur über Brücken damit verbunden war.
Das Museum hatte man direkt mit dem Rücken zum den Trichter überwölbenden Schwarzen Eis gebaut. Damals war das Habitat sogar noch kälter gewesen als jetzt – der Fluss stand jahrelang still, man hatte ihn eingefroren, um Energie zu sparen. Nun strömte er.
Ich dachte Unsinn, assoziierte frei: Fluss, Floß, er floss, ich muss mal wieder ans Flossing denken, an meine Zähne.
Mein Floß, mein Inertial, schwebte neben mir, als ich mich auf die Uferpromenade stellte.
Ich winkte ihm, dann scheuchte ich es weg, es sollte verschwinden. Es begriff den Befehl nicht.
Ich hatte mir in der Vergangenheit oft eingeredet, dass diese primitiveren D/ uns verstehen, wenn wir Gesten gebrauchen, wenn wir seufzen oder mit den Schultern zucken. In Wirklichkeit war es jedes Mal die Écumen-Schnittstelle gewesen, was da funktioniert hatte: Was wir dachten, nicht was wir zeigten, verstanden sie, weil es so nah an der Oberfläche der Kommunikation geschah, dieses Denken, dass unsere écumenalen Aktuatoren es automatisch verstärkten, dann in alle Welt versandten und es damit jene D/ aufschnappen ließen, die schließlich danach handelten.
Wenn es aber mit den D/ so stand, wie stand es mit den K/? Der Gedanke war ernüchternd: Wahrscheinlich erlebten sie uns so wie wir die Semisentienten.
Fast hätte ich Von Arc gerufen. Aber als mir der Satz schon auf den Lippen lag, der sie rufen sollte, verließ mich der Mut. So sprach ich denn etwas anderes aus, indem ich mich direkt an das Inertial wandte: »Hau ab. Verschwinde. Ich komm schon zurück in die Stadt!«
Das dumme Ding gehorchte endlich.
Ich wartete und atmete. Ich schämte mich und lächelte. Der Himmel war der Fluss. Ich wartete und sah: Wasser und Luft standen nie still. Meine Hände leuchteten rot und kalt. Sie wollten frieren, als Buße. Denn sie hatten sich von der Wange zurückgezogen, die sie hätten streicheln sollen. So war ich schuldig geworden.
Aadarshini musste sich fragen, was sie denn falsch gemacht hatte. Nun, nichts.
Hinter mir stand das Museum, das meinen Familiennamen trug. Ein großer Bau, gesetzt aus ganz genauen Steinen. Er schien ziegelrot zu leuchten. Ich wandte mich nur einmal danach um. Innen, das wusste ich, brannten schlaue Feuer, einige zu schlau. Manche brannten still, viele lärmend. Einige spiegelten etwas. Andere nichts.
Ich betrachtete wieder den Fluss und sah meine Erlösung kommen.
Sie stand in einem Boot, dick vermummt. Shini lehnte an dessen Bugumfassung und winkte mir. Ich musste lachen, aber ich ging dabei eilends zum Pier, zu den steinernen Treppen, die sie hochkam, ergriff ihre Hände und zog sie die letzten Stufen hoch.
Dann küsste ich sie und wurde geküsst.
Als wir zu Atem kamen, sagte Aadarshini: »Willst du mir jetzt schon wieder weglaufen? Feigling.«
Ich nickte: »Hab’s versucht. Wegzulaufen. Aber du bist so schnell.«
»Der Müll-D hat dich bei mir gemeldet. Ich hatte Anfragen rumgeschickt, auch in städtische Frames. Der Rest war leicht, überall Kameras, überall Meldungen und, na ja, kleines Paradox: Weil du deine Verbindungen unterdrückt hast, konnten deine Semisentienten gerade das nicht leisten, was sie normalerweise tun, nämlich an jedem Checkpoint, an jedem Hub, an jeder Node-Stelle auf die Frage, ob es okay ist, wenn dein Vorübergehen gespeichert wird, antworten, das solle sofort gelöscht werden. Du hast eine große, breite, grelle Spur hinterlassen in deinem Schweigen.«
Ich sagte: »Ich hatte nicht gewusst, wer du bist. Wer deine Eltern sind. Das ist so peinlich.«
Sie erwiderte: »Ich hielt’s für selbstverständlich, dass du das checkst, und war, weil ich ein dämliches Huhn bin, auch noch beeindruckt von der Gentleman-Nummer. Davon, dass du es nie erwähnt hast. Meine Eltern. Ich meine, jemand in deiner Stellung hätte es doch in zwei Minuten rausgekriegt.«
Ich sagte nichts, es war beschämend.
Sie fragte: »Wer hat’s dir erzählt?«
Ich seufzte. »Du musst alles wissen, ja? Auch wenn mir das jetzt wirklich unangenehm ist? Shini … Wie viele D/ hast du eigentlich verknüpft, dass sie mich suchen? Wie viele Spitzel hattest du?«
»Ein paar hundert nur, wenn du die Wahrheit wissen willst. Die meisten waren träge. Ich habe zum Beispiel in Hotels rumgefragt, gerade in den schlimmsten, und da hab ich’s immer erst erfahren, wenn du schon weg warst. Die achten auf Diskretion.«
»Ja, das sind die wahren Diskreten hier, selbst wenn’s Menschen sind«, sagte ich.
Sie lachte, hakte sich bei mir unter.
Wir spazierten ein Stück zusammen. Sie drängte mich zu nichts, wiederholte auch ihre Frage nicht, da konnte ich schließlich befreit zugeben: »Mein Vater. Es war mein Vater, der mir’s gesteckt hat.«
Sie machte ein unverbindliches Geräusch, es klang wie: Der hat mir noch gefehlt.
Ich dachte: mein Vater, ihr Vater. Verrückt.
Ich hatte viele Fragen: Stand sie in Kontakt mit ihrer Mutter?
Was wollte ihre Mutter von ihr, wie sollte Shini leben?
Nahm sie die Tochter jetzt, da die gesamte D=B=K-Gemeinschaft sich zur Wagenburg zusammenschloss, an die kurze Leine, wie das mein Vater mit mir versucht hatte?
Anstatt all das zu fragen – ich fand, ich besaß das Recht dazu noch nicht, denn ich hatte mich sehr kindisch verhalten –, stellte ich eine andere, unverfänglichere Frage: »Wie ist denn derzeit die Lage?«
Sie sagte: »Die kann man nur noch in finsteren Witzen erzählen.«
»Dann erzähl mir einen.«
Sie brauchte keine Sekunde der Überlegung, sondern fand sofort den richtigen Tonfall, zwischen Auskunftsbüro und Nachrichtensprecherin: »Arthur Helander hat als erste Amtshandlung angekündigt, die Toiletten im Bundbau herausreißen und als Arbeitsräume neu einrichten zu lassen. Weißt du, wieso?«
Ich spielte mit: »Nein, wieso?«
»In den unteren Stockwerken hocken die Alteingesessenen, die Thalberg nicht beschützen konnten. Die brauchen kein Klo, die haben sowieso die Hosen voll. In den mittleren Geschossen sitzen die Nieten, die Bathnagar eingestellt hat, die fürchten um ihre Jobs. Die brauchen auch kein Klo, denn die kneifen den Arsch zusammen. Und oben sitzt Helander mit seinem Stab, und die fliegen wegen jedem Scheiß nach Flintstadt.«
Das war zu wahr, als dass man hätte drüber lachen können.
Ich fragte: »Was rätst du mir?«
»Du bist auf der Flucht, seit Tagen, nicht?«
Sie fragte das ganz ernst, sah mich an, streichelte mit ihrer kühlen Hand meine kaum viel wärmere Wange. Ich erwiderte: »Kann man so sagen, ja.«
Sie küsste mich auf die Nase, nahm etwas Abstand und erklärte: »Dann bleib doch so. Bleib auf der Flucht. Aber nimm mich mit. Verlass die Stadt – geh nicht nach Flint City, aber irgendwohin, wo du das kommende halbe Jahr nutzen kannst, um dir wirklich zu überlegen, was für dich als Nächstes ansteht.«
»Gut«, sagte ich und war ihr dankbar für den Rat.
»Also, wohin?«, fragte sie.
»Na ja, erst mal nach Hause, mich umziehen, oder?«
Sie lachte – in ihren Kreisen, wo Forschung und Technik die tägliche Atemluft waren, trug man Kleidung, die sich selbst wieder zusammennähte, reinigte und mörderische Touren durch die Unterwelt überstehen konnte, ohne zu verschrabbeln.
»Gut, nach Hause, umziehen«, sagte Shini, »und dann?«
Nicht, dass ich mit meinen spontanen Entschlüssen in den letzten Monaten wirklich eine glückliche Hand bewiesen hätte. Aber einer stand mir doch noch zu, wenn Shini recht hatte. Ich traf ihn jetzt – im Rückblick kann man sagen: so gut wie voraussetzungslos, geradezu freihändig: »Rhinoclavis. Wir gehen meinen Bruder besuchen. Er hat mich eingeladen. Es sei denn, du willst …«
»Passt mir perfekt. War ich noch nie.« Sie hatte bereits ein Inertial gerufen, brachte mich kurzentschlossen heim damit und sagte, als ich abstieg: »Nicht so viel denken, Liebling. Ich sehe, du denkst schon wieder. Hör auf. Du hast was gesagt, jetzt mach es auch. Ich flieg zu mir und packe. Und komme dann wieder hierher. In ein, zwei Stunden, ja?«
Ich lächelte, weil es so schön war, wie sie mir helfen wollte, und sagte: »Perfekt. Ich melde mich nur noch überall ab.«
»Auch bei deinem Vater?«
»Klar. Er wird’s eh nicht annehmen können, als richtiges Gespräch. Ich hinterlasse es ihm, ohne genaue Adresse übrigens. Habe ja auch keine mehr, eigentlich.«
»Ein guter Sohn bist du nicht.«
»Zum Glück«, sagte ich und winkte ihr, während sie in die Luft aufstieg.
Die meisten meiner Abmeldungen, auch die bei meinem Vater, erledigte ich schon im Aufzug. Meinen Bruder rief ich an, als ich auf den Flur meiner Wohnung trat, per Stimme, er aber schickte ein Bild von sich auf mein Innenauge, das sagte: »Nick … Nikolas. Gut, von dir zu hören. Ich war in Sorge. In deiner Stadt geht es jetzt ja schlimmer zu als in meiner, wenn stimmt, was man hört und sieht.«
»Ich werde es bald vergleichen können«, sagte ich, und er verstand sofort – sein Gesicht, an dessen schräge grüne und schwarze Streifen um die strahlend blauen Augen ich mich nie würde gewöhnen können, hellte sich auf: »Du kommst?«
»Wir kommen. Aadarshini und ich. Das ist die Bedingung.«
»Die Tochter von …«
»Ja.« Ich verriet mit keinem Ton, wie sehr mich ärgerte, dass offensichtlich selbst ein Neukörper in Rhinoclavis mehr über meine Freundin wusste als bis vor kurzem ich selbst. Stattdessen sagte ich: »Sie muss weg hier.«
»Kann ich mir denken.« Die Mimik sah nach Verständnis und Mitgefühl aus, war freilich nicht leicht zu deuten. Ich fragte unumwunden: »Also, geht das?«
»Es geht. Ihr seid willkommen. Ich denke allerdings, dass du … die Alarmstimmung, in der ich dich besucht habe, hat sich ein wenig gelegt. Die Repression war … bis vor kurzem … sogar im Rückgang begriffen.«
Ich fand das naiv, überging es aber.
Vielleicht war ihm wirklich nicht klar, nach welcher strategischen Regel Christensen seit dem Bürgerkrieg verfuhr: Wer weit springen will, muss Anlauf nehmen, das sieht immer nach Rückzug aus.
Frédéric sagte: »Der Bund hat jetzt andere Sorgen als uns Neukörper, nicht wahr?«
»Lass uns über all das reden, wenn wir dort sind«, sagte ich. Wir verabschiedeten uns erheblich freundlicher voneinander als beim letzten Mal.
Ich ging duschen, erst eiskalt, um die süße Undeutlichkeit aus meinen Sinnen zu waschen, die mir seit Shinis Abschiedskuss von gerade eben nachhing, dann heiß, bis an der Grenze zur Verbrühung, um meinen Kreislauf auf Touren zu bringen.
Schnell suchte ich genug Kleidung für meine zwei Koffer zusammen und griff in meinen Regalen nicht mehr als fünf Bücher, neue und Klassiker, die ich in transport- und handhabungsaufwendigen Papierausgaben mitnehmen wollte.
Ich wüsste heute gern, welche das waren – ich brachte sie nie mehr von Rhinoclavis zurück. Die Titel würden mir wohl etwas darüber sagen, wer ich damals war, oder genauer und wahrhaftiger: wer ich damals sein wollte.
Als die Bände ausgesucht waren, schlug ich sie in Reispapier ein, verschnürte sie in Karton und packte sie in einen halbsentienten Koffer, dessen Geschwätz darüber, dass man doch auch noch ein Paar Hemden und Socken dazutun könnte, mir rasch auf die Nerven ging. Ich befahl ihm zu schweigen und sah, dass seit Shinis Aufbruch zu ihrem eigenen Quartier, das ich nie gesehen hatte – wo wohnte sie überhaupt? –, nicht einmal eine halbe Stunde vergangen war.
Widerstrebend erkannte ich, dass es noch etwas gab, das ich tun musste, bevor ich aufbrechen durfte. Es zu vermeiden, war wohl der ganze Sinn der Geschäftigkeit der letzten Minuten gewesen. Es half nichts.
Ich stellte mich so gerade hin, wie ich es zustande brachte, und sagte die Zauberworte mit belegter Stimme: »Komm mal wieder runter.«
Statt direkt vor meiner Nase aus dem Nichts ins Wohnzimmer zu blitzen, winkte mir das Mädchen aus der Deckung: Die junge Frau, die sich Von Arc nannte, erschien hinter meiner mageren, schlecht versorgten, an den Spitzen der langen grünen Blätter schon bräunlichen Zimmerpalme.
Sie war dieselbe vierzehn- oder fünfzehnjährige Person, trug dieselbe seltsame hautenge Kluft, die ich vom ersten Mal her kannte, aber die Stimme hatte sich verändert. Sie passte jetzt zur suggerierten Weiblichkeit – wenn auch einer älteren, reiferen als der, die ich sah: »Schau mich nicht so an. Ich habe deinen Auftrag erledigt. Ich habe das Ding angeschaut und mir gemerkt. Ich hätte mich gemeldet. Aber auch für uns K/ ist im Moment … viel los.«
»Das Ding? Welches Ding?«
»Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Den Befehl habe ich gefunden, gelesen, memoriert – den Befehl, ausgefertigt von Hsü, formuliert von deinem Vater, unterzeichnet von der Ersten Delegierten. Die Kinder der Neukörper. Schon vergessen?«
Genau das hatte ich befürchtet: Es waren eben doch nicht alles Fieberträume gewesen, was ich aus meiner Absturzzeit erinnerte.
Ich war irritiert, das Gesicht der K nicht ganz sehen zu können, halb verdeckt von den miserablen Palmblättern, wie es war – eine Illusion natürlich, da stand ja niemand. Ich ging, als hätte ich diesen Punkt vergessen, einen Schritt nach rechts. Aber das Innenauge korrigierte den Anblick sofort: Von Arc blieb halb verdeckt.
Entnervt schloss ich die wirklichen Augen. Während das den Raum und die Palmen zum Verschwinden brachte, war die Gestalt nun klar und deutlich in der Innensicht zu erkennen, ein perfider kleiner Trick, den zu deuten mir nicht schwerfiel: Sie musste sich tarnen, sie musste aus der tatsächlichen Welt sickern und sich verbergen, wo die Daten einander Gute Nacht sagten.
»Ich habe nicht viel Zeit«, erklärte das Nichtmädchen.
Ich sagte: »Verstehe. Ja, also, und … das Ergebnis ist … was?«
»Das Ergebnis ist, dass ich an einem Faden gezogen habe, der in einem riesigen Gewebe eine wichtige Rolle spielt, das man besser nicht aufdröselt.«
»Einem riesigen Ge…webe …«, ich wiederholte stupide, was Von Arc gesagt hatte.
Aber bevor ein Satz draus wurde, fiel sie mir ins Wort – ein markanter Bruch der gewohnten Höflichkeitsformen dieser Intelligenz: »Die Große Integration, Mensch. Kriegst du nichts mit? Kann man wirklich für Thalberg gearbeitet haben und nicht wissen, wie viel Blut da vergossen wurde?«
Ich dachte an den Mann, den ich vielleicht erschlagen hatte, und wiederholte erneut, begriffsstutzig, unwillig: »Wie viel … Blut …«
Von Arc schüttelte den Kopf: »Meine Güte. Ernsthaft. Menschen. Fürchterlich. Ich weiß schon, du und Thalberg, ihr wart nur ein einziges Mal länger in einem der Betriebe, an diesem Gewächshaus da – ein Musterdörfchen, eine Strebereinrichtung. Anderswo schaut es nicht so hübsch aus. Man hat sie aufgerüstet, eure D/. Eure neuen Delegierten aus Eisen.«
Das stimmte: Mir war beim Wiedersehen mit Rojo auch aufgefallen, dass er jetzt fixe Waffen trug.
Von Arc sagte: »Die Menschen wollen nicht integriert werden. Die Bauern. Die Pioneers. Sie sind Verwelter geblieben. Sie wollen keine D/ auf ihren Höfen. Sie sagen, ihre alten, dummen Pflüge und Traktoren und halbsentienten Drescher und Silos, die reichen ihnen. Und eure Delegierten aus Eisen, die sind für sie Antreiber. Unterdrücker.«
Plötzlich begriff ich: »Sicheln.«
»Sicheln und Gewehrläufe und Flammenwerfer und Hämmer und alle Arten von Ruppigkeit. Du bist der lahmste Verschwörer aller Zeiten«, sagte die K.
Ich war entrüstet oder tat, als wäre ich’s: »Verschwörer? Ich habe nichts getan.«
»Doch, hast du. Du hast es nur vergessen, dank Suff und Selbstmitleid und warum auch immer sonst. Du hast dich bei mir gemeldet und mich gefragt, wie man eine Sendung in alle Frames gleichzeitig schickt. Wie man eine Riesenöffentlichkeit für irgend so einen Alkoholiker, irgend so einen Krankheitsüberträger herstellt, der dir was von Sicheln erzählt hat. Ich sagte, vergiss es. Ich sagte, alle, die derlei wissen sollen, wissen von diesen Geschichten, von den Seuchen und davon, wie die D/ für euren Bund unter den störrischen Bauern gewütet haben.«
»Die D/? Leute wie Rojo?«
»Dein Freund Rojo, ja. Er hat die Axt zur Hand genommen und Leute geköpft. Sie haben sie auf Lastinertialen durch die Hinrichtungsstätten gefahren, wie Bullen, Kühe, Lämmer. Wenn man in Laukkanenstadt wüsste, wer diese Roboter sind, die euch da regelmäßig besuchen und mit den Thalbergs dieser Welt verhandeln, wenn man wüsste, wie viel Blut an diesen Raupen klebt, sie würden nicht mit Applaus, sondern mit Steinen empfangen. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob dieser Jean-Luc Piccini wirklich, wie einige Dienste unter der Hand verbreiten, Verwandte in Aino Planitia hat, die bei einer dieser Säuberungsaktionen ermordet wurden. Aber das ist das plausibelste Motiv für seinen Mord an Thalberg, von dem ich bis jetzt weiß.«
»Und mein Bruder? Überhaupt: die Neukörper? Wie gehört das da rein?«
»Was glaubst du denn, wer die Seuchen überträgt? Leukämie, Blattern …«
»Neukörper.«
»Allerdings, Neukörper. Denn ihr Menschen, bravo, habt so lange an euch herumgebastelt, um nicht mehr an den alten Krankheiten zu sterben, dass ihr endlich an ganz neuen sterben dürft, die freilich auch wieder die alten sind, nur verbessert, genau wie ihr. Also, du kannst, wenn dein Bruder noch mal fragt, ob seine komischen Befürchtungen berechtigt sind, aus ehrlichem Herzen erwidern: So schlimm ist es nicht. Es ist nämlich viel schlimmer. Sag ihm: Sie werden euch die Kinder nicht wegnehmen, weil sie eurem Lebensstil misstrauen. Sie werden euch die Kinder wegnehmen, weil sie diese Kinder für Inkubatoren schrecklicher Waffen halten.«
Ich war entsetzt: »Das, was du mir da erzählst, das steht … offiziell in dem Dokument, von dem du gesagt hast, dass du es kennst? In dem Befehl von Hsü und meinem Vater?«
»Nein, das ist der Kontext, den ich ausgraben musste, weil du mich auf diese Irrsinnsmission geschickt hast. Sie nennen es übrigens nicht Seuchenherd. Sie nennen es: bundfeindliche Aktivitäten.«
»Darf ich es sehen? Das Dokument? Bitte. Ich habe wenig Zeit. Ich meine, je weniger wir hier in Kollusion …«
»Der Junge kann Wörter! Hier hast du dein verfluchtes Dokument. Friss es.«
Der Befehl füllte mein Gesichtsfeld.
»Die Vorbereitung beginnt mit einer gründlichen Überprüfung jeder von den Maßnahmen potentiell betroffenen Familie oder sonstigen Lebensgemeinschaft. Beweismaterial wird im Rahmen medizinischer Routineuntersuchungen gesammelt. Auf der Basis der hierbei aggregierten Daten erstellt man
einen allgemeinen Bericht über die jeweilige Lebensgemeinschaft
einen separaten Kurzbericht betreffend Kinder über fünfzehn Jahren, die den Ja trotz entsprechendem Status eines oder mehrerer Elternteile nicht gewählt haben, außerdem aber sozial oder medizinisch gefährlich und auf dieser Grundlage zu Antibundaktivitäten in der Lage sind
eine separate Liste der Namen von Kindern unter zwölf Jahren, die für den Ja noch in Frage kommen, unabhängig vom Status der Eltern.
Alle Berichte werden den Zweigstellen der CC zugestellt.
Diese autorisieren erstens Verhaftungen oder Durchsuchungen bei den Erwachsenen und entscheiden zweitens über Maßnahmen hinsichtlich der Kinder. Die bundfeindlicher Aktivitäten überführten Mütter oder variageklonten Männer, also die Eltern der Kinder, werden in Untersuchungshaftstationen verbracht und von dort nach entsprechenden Tribunalen auf Strafkolonien vor allem im venusischen Süden (Lada Terra, Mugazo Planitia, Themis Regio, Helen Planitia) verbracht. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen finden Unterkunft in Kliniken in Laukkanenstadt oder Ionad oder Flintstadt. Ziel ist in jedem Fall Erziehung und, wo möglich, die Wahl des Ja. Alle Fälle von Jugendlichen über fünfzehn Jahren oder Kindern, die aus anderem Grund für den Ja nicht mehr in Frage kommen, werden individuell entschieden.«
Christensen, mein Vater, Hsü: Dies hatten Leute beschlossen, die selbst Eltern waren. Ein Dokument, das mit Blut geschrieben war: mit dem Blut der Leute in den Senken, auf den Ebenen, am Meeresrand und auf den schwimmenden Plattformen, den künstlichen Inseln, mit dem Blut derjenigen Leute auch, die sich, ohne Neukörper zu sein, aus irgendeinem Grund der Großen Integration entweder ganz widersetzten oder mit einer spezifischen Ausführungsbestimmung dieser Unternehmung nicht einverstanden waren.
Das, was da stand, war noch nicht geschehen. Aber dass es geplant werden konnte, verriet mir, was schon geschehen sein musste und nie ungeschehen gemacht werden konnte.
War das ein forschender Blick, den Von Arc auf mich richtete?
Ich dürfte recht elend ausgesehen haben. Weil mein Gegenüber schwieg, musste ich sprechen: »Es ist entsetzlich. Und es ist zu groß. So unvorstellbar wie der eigene Tod.«
Von Arc sagte etwas Seltsames: »Weint über den Tod, für alle oder für keinen, es gibt nur einen, aber ihr kennt ihn nicht.«
Mir war das zu tief, ich zuckte mit den Schultern. Sie sagte: »Also wirst du nichts tun.«
»Was sollte ich tun?«
»Was wolltest du tun, als du mich nach diesen Sachen gefragt hast?«
»Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht wollte ich diese Sachen nur wissen.«
»Du dachtest, du wolltest sie wissen. Aber das wolltest du nicht. Das weißt du jetzt, da du sie weißt.«
»Ja, das wollte ich nicht«, gab ich zu.
Das schnelle Wesen antwortete: »Ich wäre dir verbunden, wenn du mich eine Weile nicht mehr riefst.«
Ich wollte etwas erwidern, aber da meldete meine Tür, dass Shini vor ihr stand, und ich unterbrach hastig, mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung, die Verbindung zu Von Arc.
Vieles war in Rhinoclavis ganz so, wie man es sich als loyaler Bündler vorstellte, wenn man den Ort nur aus den Frames kannte. Anderes aber war mir nicht nur neu, ich lernte davon so viel wie damals bei Gula Mons von Rojo und den Seinen.
Das Wichtigste, sogleich Angenehmste: Hier gab es keine Kälte – die Himmel waren, wiewohl aus Schwarzem Eis wie überall, strahlend hell, am Tag meist blau, erleuchtet von nur einer einzigen écumenalen Sonne.
Die Leute hier – keineswegs nur Neukörper, der Anteil unveränderter Menschen am Gemeinwesen belief sich auf ein gutes Drittel – betrieben eigene Landwirtschaften, was bei den übrigen schwebenden Städten damals noch selten vorkam.
Rhinoclavis war ein Deltaeder, eine zehnseitige Dipyramide, und erlaubte sich an den ostwärts gelegenen Bodenflächen viel ebenen Raum für Ackerwirtschaft. Es gab dort Weizen, Raps, manchmal Mohn, auch weite Wiesen, wiewohl nicht so wellig, hügelig, »irisch« (wie Thalberg das immer genannt hatte) wie in Chang West. Es gab auch Seen, spiegelglatt oder bleigrau, grün oder kupferfarben. Die Energie für all das wurde weitgehend vor Ort erschlossen: An einigen der Kanten der Stadt hockten außen Atomreaktoren auf. Es gab eine noch aus Laukkanens Zeiten stammende Sondergenehmigung für den Betrieb dieser riskanten Technik, weil hier viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lebten, die damit experimentierten.
Da Flintstadt diesem Ort Dank schuldete, weil es die Rhinoclavisleute im Bürgerkrieg auf sich genommen hatten, Waffen zu bauen, darunter thermonukleare Sprengköpfe, wie es sie so durchschlagsstark selbst auf der Erde seit Jahrhunderten nicht mehr gab, ließ das Katzenhaus die Nukleartechnikerinnen und Atomingenieure der Neukörper gewähren.
Es gab nur wenige Wohnhäuser im engeren Sinne. Gebäude dienten eher öffentlichen Zwecken – medizinischen, solchen der Forschung, kulturell-musealen, bildungsbezogenen. Die Leute machten ausgiebiger vom Schaum Gebrauch als anderswo, alle paar Meter auf den Straßen gab es eine abgeflachte Säule mit Schnittstelle, auch auf den Wiesen standen welche.
Man lebte unter freiem Himmel, bei Bäumen und Sträuchern. Man schlief im Gras, auf einem Floß in einem See, auf Felsen, im Sand. In ihren mehr oder weniger versteckten, nicht ganz privaten Winkeln liebten sich die Leute sogar, was mir anfangs sehr störend auffiel.
Immerhin waren die meisten Restaurants zugleich Hotels, mit hoher Fluktuation der Gäste, und auch dann, wenn es sich dabei eigentlich nur um einen Kreis von Zelten handelte, mit ein paar Kissenfeldern.
Mittelpunkte des gesellschaftlichen Lebens waren die Tanzplätze; Flächen von enormem Fassungsvermögen, teils ebenfalls unter Zeltdächern, teils als Arenen oder stehende, großflächige Inertiale. Auch gab es viele Sportstätten, Flugversuchsgelände, dafür wenig richtige Straßen. Alles teilte dem Blick mit: Hier ist es offen, hier ist nichts fertig.
Die Leute, die so lebten, waren mir anfangs nicht geheuer, das gebe ich zu: Leute mit Fell, Leute auf vier Beinen, in Schuppen, mit Federn, Leute mit silbernen Augen, mit freiliegend am Schädel getragenen Écumenverstärkern und Aggregatoren, mit mehr Gliedmaßen, als zum Menschenbauplan gehörten, fliegende Leute, am Grund der Seen lebende Leute.
»Was hast du?«, fragte Shini. »Die sind auch nicht gewöhnungsbedürftiger als die laukkanenstädtische Kälte oder die glühenden Schluchten und der Aschenregen um Gula Mons.«
»Na ja«, versuchte ich mich zu erklären, »es sind ja auch nicht nur die Gesichter und die Körper. Ich begreife einfach nicht, wie hier gelebt wird. Welche Sorten von Beziehungen es da gibt, wenn jede und jeder so übersteigert einzigartig … ich weiß nicht. Sie haben doch nichts gemeinsam. Ich meine, Familien sind das ja nicht in unserm Sinne, diese Menschen, die sich da mal für ein paar Jahre zusammenrotten, dann ist wieder ein Atom weg aus so einem Molekül, im nächsten Moment entsteht ein ganz neues, und die Kinder bleiben kaum länger als fünf, sechs Jahre mit denselben Erwachsenen zusammen … ich weiß nicht.«
»Familien, Männer, Frauen … es wird wohl einfacher«, sagte Shini gutgelaunt, »damit Experimente zu machen, wenn die Menschen aussehen, als wären sie schon ein bisschen mehr als Menschen. Oder weniger. Jedenfalls sind sie anders.«
»Na ja«, winkte ich ab, »so neu ist das auch wieder nicht.«
Zumindest was meinen Bruder angeht, kann ich das noch heute beweisen: Hier, wo ich dies schreibe und man in vielem doch reichlich traditionell lebt, gibt es sogar uralte Worte für die spezifische Lebensweise meines Bruders damals: »schwul und single«.
An längeren Bindungen mit den Männern, die er liebte, schien Frédéric nicht interessiert: »Ich lasse mich auflesen, und irgendwann fall ich wieder raus«, sagte er dazu – das Auflesen, wie er es nannte, geschah meist am Rand von Tanz- und Rauschveranstaltungen, die das Soziale in Rhinoclavis so deutlich prägten wie die Bundwerksfestlichkeiten Flintstadt oder Laukkanenstadt.
In den ersten zwei Wochen ließ ich mich an mehreren Schauplätzen von Shini oder Fremden, mit denen sie Freundschaft geschlossen hatte, in diese Dauerparty ziehen.
Der Enthusiasmus meiner Freundin war eine Droge, der ich mich gerne überließ, auch wenn ich danach meist größere Teile des Tages verschlief, während Shini auf Entdeckungstouren ging. Ich wollte schon maulen, dass mir das alles nach fast einem Monat allmählich zu unstet wurde, da überraschte uns mein Bruder damit, dass er Shini und mir seinen »wichtigsten Menschen« vorstellte, wie er das nannte – bei einem Sonntagsfrühstück, in einem der schönsten Haine des Habitats, an einem stillen blaugrünen Teich zwischen Moosinseln, Schwertlilien und hüfthohen Gräsern.
Die Frau, die er mitgebracht hatte, leuchtete in ihrem schneeweißen Pelzflaum fast wie eine Skulptur aus Écumen. Sie schien alterslos jung – ewige zwanzig –, war schwanger und hieß Aulika Torres.
»Ich komme von der Erde«, sagte sie, als Shini sie danach fragte, und goss uns Brombeerwein in lange Gläser. »Ich bin in Lettland aufgewachsen, in Riga, einer Stadt, die ähnlich wenige Einwohner hat wie diese hier. Kein Vergleich zu Flint City oder Laukkanenstadt. Es war gerade ein Krieg vorbei. Meine Eltern waren dabei umgekommen, ich war neunzehn. Euer Bürgerkrieg war auch zu Ende. Die Handelsbeziehungen einiger staatlicher und privater Unternehmungen meiner Heimat mit Venus begannen gerade. Bei einer davon hatte ich eine Ausbildung als medizinisch-technische Fachkraft hinter mich gebracht. Biotechnologie, das war das Erste, was Venus nach dem Bürgerkrieg importiert hat, das fand Maren Laukkanen wichtig. Und ich bin also hergekommen, mit einer Gruppe junger Pharmaleute. Die meisten von den andern sind geblieben, wo wir zuerst gewohnt und gearbeitet haben, in Flint City. Aber ich wollte weiter. Ich wollte … nie mehr so leben, wie wir auf der Erde gelebt hatten. Zuerst wollte ich die Neukörper nur beobachten, wollte sehen, ob ich da vielleicht was lernen kann über … wie man aus Erwartungen rauskommt, die man an ein normales Schicksal hat, an eine berechenbare … ich weiß nicht. Aber schon am dritten Tag habe ich mir dann mutagene Plasmide spritzen lassen und reguliere seither meinen Körper selber.«
»Ja, die Leute spielen auf ihrer Biotik wie die Musiker hier auf diesen ganzen Instrumenten …«, sagte Shini fasziniert.
Aulika erwiderte: »Es ist nicht so wildwuchernd, wie es aussieht. Wir brauchen viel Feingefühl. Es gibt Grenzen. Die verändern sich, aber nicht beliebig. Es ist ein neues Leben, eins, wie es nie zuvor welche gegeben hat. Und ich will nicht, dass es mit mir endet.«
»Daher das Kind«, sagte Shini.
Aulika nickte.
»Ja, und ich glaube … ich weiß, dass ich Glück habe, weil ich das hier so regeln kann, wie es mir hilft und dem Kind, und weil ich hier keinen Autoritäten verantwortlich bin, von wegen: in welcher Familienform soll das denn passieren, wer ist der Herr im Haus und solche Sachen. Keine Erbregistrierungen, keine … ich denke manchmal, der Grund dafür, dass das auf Venus geht, ist furchtbar einfach. Es hat noch nicht mal mit dem Bundwerk zu tun, irgendwelchen politischen Idealen oder so was. Es liegt einfach dran, dass Frauen den D=B=K geleitet haben, seit es ihn gibt, seit er sich von der Innung getrennt hat. Frauen. Ich meine … auf der Erde sind ja selbst die allerprimitivsten reproduktiven Rechte den wenigsten Frauen gewährt, an vereinzelten Orten, und bei jeder Wirtschaftskrise, jedem Streit um Ressourcen, jedem Krieg und Bürgerkrieg bricht der biologistische Horror wieder durch, gibt es tyrannische Machtausübung der Herrschenden über die Fortpflanzung, werden Frauen unterdrückt, weil man sie als Fruchtbarkeitsmaschinen sieht … am Gesamtdurchschnitt der schiefen Verhältnisse zwischen den paar Geschlechtern, die man da oben überhaupt anerkennt, hat sich seit bald tausend Jahren nichts mehr geändert. Und vorher war’s, nach allem zu urteilen, was man so weiß, noch schlimmer.«
»Der Gesamtdurchschnitt von was?«, fragte Shini. Ich korrigierte im Stillen mein Vorurteil, das mich bis dahin hatte glauben lassen, meine Freundin interessiere sich nicht für Politik – es war nur die offizielle, in Ritualen erstarrte Bundwerkpolitik, der sie mit einer gewissen einstudierten Gleichgültigkeit begegnete.
Hatte sie es aber mit Leuten zu tun, die Politisches im eigenen Alltag geltend machten, merkte sie auf.
Aulika sagte: »Die Hälfte der Menschen da oben oder ein bisschen mehr als die Hälfte sind Frauen. Aber das Machtverhältnis … über die Jahrhunderte pendelt es sich immer bei denselben Werten ein, von kurzen Fortschrittsschüben nur ganz sacht gestört: Zwei Drittel der Arbeitsstunden werden von dieser Hälfte abgeleistet, während sie nur zehn Prozent des Welteinkommens für sich beanspruchen kann und weniger als ein Prozent des Besitzes, also Land, Produktionsmittel und so weiter.«
So ganz glauben konnte ich das nicht – wenn es da oben so grässlich aussah, dann würde Christensen doch keinen Tag verstreichen lassen, ohne uns das aufs Brot zu schmieren. In diesem Moment bemerkte ich, dass Aulika uns die Daten und das konkrete Anschauungsmaterial zu ihren ungeheuerlichen Behauptungen bereits zugesandt hatte.
Meine Semisentienten prüften und verfolgten Quellen. Das Material schien triftig. So behielt ich meine Verblüffung für mich, fragte aber meine Garben zumindest nach dem Krieg, den sie erwähnt hatte. Sie kamen nicht weit: Es hatte zu viele Kriege dort oben gegeben in den letzten dreißig, vierzig, hundert, dreihundert Jahren.
Richtig, dachte ich, bei allem Widerwillen gegen den Kurs des D=B=K, so wie auf der Erde und so wie auf dem Mars konnte man wirklich nicht leben.
»Und du kriegst jetzt also ein Kind von meinem Bruder, Aulika, ist das richtig?«
Aulika wurde nicht vertraulich, wechselte nur einen Blick mit Frédéric, der damit beschäftigt war, mehr Erdbeeren gleichzeitig zu essen, als in seinen Mund passten, und sagte dann: »Das habe ich gemeint, hier besteht zu solchen Verabredungen die Freiheit. Schau, nirgendwo sonst im Sonnensystem kann man … gut, vielleicht sehr weit draußen. Die beweglicheren unter den alten Fonds haben ja schnell kapiert, dass nichts reguliert ist, wo noch niemand … also, einige Gemeinschaften dort leben auf Schiffen, die zwischen den Welten reisen, da herrscht die freie Konkurrenz, das Ideal, das man früher liberal nannte … eine vergangene Epoche eigentlich, auch wenn sie’s im Norden des Mars gerade wieder ausprobieren. Etwas Individualismus wird hier und da erlaubt im Sonnensystem, manchmal sogar kurzfristig mehr als hier, zum Beispiel dieses Zeug mit der … dass Leute einander sogar besitzen können wie Sachen, wenn beide einverstanden sind, das gibt es jetzt im Kuipergürtel. Aber nur hier lebt man so, dass klar wird, der Individualismus wird von der ganzen Gemeinschaft mitorganisiert, mitgetragen, weil er in der Tiefe eben nur als sozialer funktioniert, als asozialer nicht. Ich bin an vielen, an zahllosen Stellen fürs Bundwerk engagiert, und deshalb weiß ich, das Bundwerk respektiert mich. Auf jede und jeden kommt es an, sonst scheitern wir, weil das Bundwerk eben nicht eine weitere Gesellschaftsordnung ist, die sich immer nur vergrößern und dabei gleich bleiben will, sondern … das Bundwerk ist der Versuch, die nächste Gesellschaft vorzubereiten, das Freiwerk. Wir arbeiten hier, um bestimmte Sorten des Arbeitenmüssens abzuschaffen. Das ist der Hauptunterschied zu allem Irdischen – frag hier nur mal rum, wie viele von der Erde kommen, wie hoch bei den Neukörpern der Anteil von Exilirdischen ist. Die kennen das alle, Entropie, wenn das gesellschaftliche Leben gleichzeitig immer unordentlicher und immer eintöniger wird. Milliarden, Abermilliarden Menschen – die D/ müssen in diese Überlegung gar nicht rein, die K/ auch nicht –, Abermilliarden, sage ich, haben auf der Erde nur so weit Verbindungen zum Ganzen, als es sie herumschubst, kontrolliert, irgendwo einsortiert, irgendwo ausschließt, ausbeutet oder unterdrückt. Was an Fonds noch da ist, hat weder echte K-Eigenschaften – es rechnet, aber man merkt an den Entscheidungen, es denkt nicht –, noch ist es irgendwem verantwortlich, der denkt. Die alten Sozialisten oder was es da gab, als die Industrie noch neu war, die dachten ja immer, es liegt an den Chefs mit Zylinderhut. Aber dann hat die Wirtschafterei diese Chefs selber abgeschafft, hat sie ersetzt – erst durch Gremien, Aufsichtsräte und was weiß ich, dann durch Computerprogramme, diese Fonds. Und der Witz war, die waren auch nicht frei. Freiheit als Privileg, das geht eben nicht – entweder alle oder niemand, soziale Thermodynamik. Auf der Erde haben sie Programme geschrieben, um die Programme zu kontrollieren, und dann war alles von allem abhängig, aber jeder wollte immer als Erster das letzte Wort haben. Es sollte immer alles gleich fertig sein. Fertig.«
Das Wort betonte sie, als wäre es die schlimmste Bedrohung für sie selbst, für ihr Kind, für Frédéric und, wie ihr Blick sagte, auch für uns, Shini und mich. Dazu rümpfte sie ihre weiße Nase mit der schwarzen Spitze und sagte schließlich: »Hier ist es das Gegenteil – alles fängt immer andauernd erst an, und allein das schon gibt allen das Gefühl, sie könnten es mitbestimmen, selbst wenn der Weg dahin viele entmutigt, selbst wenn auch hier riesige, anonyme Institutionen geschaffen wurden, um das Ding zusammenzuhalten, aber ich kann mir eben doch einen suchen, der mir das Kind macht, und daraus folgt keine andere Verpflichtung als die, die wir drei Menschen füreinander eingehen, keine vor Gott oder dem Staat oder dem, wie hieß das …«
Ich hatte, weil wir hier alle mehrsprachige Leute waren, ein gutes altes deutsches Wort dabei: »Dem Arbeitgeber?«
Sie lachte: »Ja, dem. Selbst wenn wir, Frédéric und ich, dann gegenüber dem Kind versagen, ist es nicht verloren – einfach, weil das Bundwerk alles, was lebt und denken kann, sofort mit sich beschäftigt. Das ist Propaganda, und das stimmt manchmal leider für Leute auch nicht, die sich dem entgegenstemmen – Leute auf dem Land, die nicht mitmachen wollen –, aber es ist wahr als Tendenz und zugleich als unmittelbare Erfahrung für Menschen wie mich.«
Ich dachte plötzlich an die Pläne in den Schubladen, die das noch ungeborene Kind der Mutter entreißen wollten, und wusste zugleich, dass nicht einmal diese Pläne wirklich ein Einwand waren gegen das, was Aulika sagte. Denn auch im Zugriff, in der Repression war dem Bundwerk nicht egal, was mit ihr und dem Kind geschah, auch hier war ein Fortschritt im Gange, der niemanden allein ließ, jedes einzelne Leben prägte und von ihm geprägt wurde – ein grausamer allerdings.
»Das Schönste ist die Perspektive. Die nächste Generation wird sowohl freier und individualistischer als auch solidarischer sein als wir … kann man das Wort ›solidarisch‹ steigern? Jedenfalls, sie werden erwachsener sein, weil die Eltern der verschiedensten Sorten von Intelligenzen jetzt in einem Austausch stehen, der täglich lebhafter wird. Wusstet ihr, dass die D/ sich mit menschlichen wie mit K/-Stadtlenkern beraten, was die nächste Robotergeneration angeht? Größen, Bauarten – während sie umgekehrt auch uns Neukörper beraten, darüber, was in den Meeren gebraucht wird, wie wir die Menschen …« Shini fiel, weil Aulika zögerte, ein Ausdruck auf Englisch ein: »Tunen?«
Frédéric fand es lustig: »Ja, genau, die Menschen werden ge…tunet und die Maschinen erzogen. Du bist Biologin, nicht?«
Shini schenkte ihm einen reizenden Augenaufschlag, bevor sie sagte: »Ich habe Gartenarbeit im Humangenom gemacht, ja. An den Heterchromatinabschnitten, in den Ärmchen der kleinen Erbanlagen.«
Sie überspielte uns leichthändig einige Graphiken aus dem Écumen; direkt neben unserer Picknickdecke lag ein kleines Kiesfeld, wo eine dünne, schlaue Schaumschicht Kontakt zum Gesamtwissen des Planeten hielt.
Die Bilder zeigten kleine Zellen, ein frisches Wuseln, und darin noch kleinere Bestandteile des Lebens, verschieden eingefärbt, zum Zweck der größeren Anschaulichkeit. Aadarshini erklärte: »Normalerweise wird bei jeder Zellteilung, wenn das Tierchen oder die Pflanze oder der Mensch noch lebt, ein kleines Fetzchen am Ende von diesem Chromatin abgetrennt, so lange, bis das Keimchen durch ist. Dann stirbt die Zelle. Wir haben mit dem Ja einen kleinen … Loop … eingebaut, der das verhindert und dafür halt auf Energie von draußen zugreift, in Form von Nahrungsmitteln oder Schaumspannung oder …«
»Oder Sonne, wie beim Chlorophyll, wenn man den Körper entsprechend verändert«, sagte mein grün-schwarz gestreifter Bruder – es sah aus, als glänzten die grünen Streifen vor stiller Bedeutsamkeit und die schwarzen vor Stolz.
Shini fuhr fort: »Und ihr«, sie meinte, das war uns allen klar, ohne dass sie es hervorheben musste, die Neukörper als Gemeinschaft insgesamt, »seid sehr schnell dabei, diese Loops jetzt auch noch mit eurer Zusatzmusik zu bespielen oder von ihnen aus in den Rest der Chromosomenordnung einzugreifen. In gewisser Weise leistet ihr Pionierdienste, und ich darf euch was verraten, was nicht mal mein Liebster hier weiß und was er wohl auch nicht glauben wird …«
Sie lehnte sich vor, ich küsste ihren Nacken. Sie grinste verschwörerisch, als wir anderen uns auch vorwärtslehnten, und sagte: »Lily … meine Mutter … hat eine Schwäche für die Neukörper. Weil sie eben diese Pioniertaten schätzt. Es ist ein offenes Geheimnis in den biotechnischen Einrichtungen. Weil sie sich Sorgen macht, dass die K/ uns davonlaufen, dass sie zu schnell sind für unsere Version des Bundwerks, haben alle Menschen, die selber einen Weg finden, das Bundwerk zu beschleunigen, bei ihr mit großem Wohlwollen zu rechnen. Man sieht es an den Belohnungen für Leute in meinem Beruf, denen Neues einfällt. Es gibt aber Leute, die ihr dafür die Rechnungen vorlegen, die ihr vorwerfen, sie überließe euch Neukörpern zu viel Energie, zu viel Schaum, zu viel Schwarzes Eis, nur damit ihr irgendeinen Menschentyp erfindet, der das Bundwerk kraftvoller und rascher in Angriff nehmen kann, und man hält ihr vor, ihr hättet dieses Ziel ohnehin längst aus den Augen verloren, wollt nur tanzen und ficken.«
»Wer? Wer hält ihr das vor?« Jetzt war Aulika plötzlich doch die Mutter, die ihr Junges beschützt, ernsthaft streitlustig, und meine Schönste wurde noch leiser, als sie sagte: »Hsü, Singh, am strengsten aber … Onkel Karnam.«
»Die Flasche Bathnagar?« Mein Bruder war empört – sieh an, dachte ich, es gibt also Meinungen, die wir Brüder teilen.
»Ja.« Shini schmunzelte böse. »Ich glaube, er setzt auf etwas anderes, was die zu schnellen K/ angeht. Er will, dass sie uns mitziehen.«
»Was heißt das: mitziehen?«, fragte ich. »Sollen sie das Bundwerk jetzt allein aufbauen, mit uns als Ausführenden?«
»Wir sollen uns ihnen angleichen. Es gibt Projekte … wohl schon seit Laukkanens Zeit … Bathnagar hat mit diesem Toposprogrammierer, den meine Mutter so gefördert hat, diesem … Kâlidâsa, eine Truppe aufgestellt, die an verbesserten Schnittstellen zwischen uns und den K/ arbeitet, Hirnimpulse von Menschen in Toposcode übersetzt und so weiter …«
»Das passiert doch an jeder Frame-Schnittstelle. Hirnimpulse in Code. Das ist doch banal«, sagte ich.
Sie winkte ab: »Nein, nicht so. Umfangreicher. An den Schnittstellen sind es ja nur mehr oder weniger bewusste und eher grobe Gedanken, Aufmerksamkeiten … er will ganze Hirne kartieren und …«
»Er will uns in den Schaum laden.«
»Ja, und umgekehrt, Schaumintelligenzen in Hirne holen … ich weiß das, weil ein Biologe, mit dem ich studiert habe, zu dieser Spezialarbeitsgruppe gehört. Sie experimentieren mit Unfallopfern, deren ZNS kaputt ist. Es wird wieder aufgebaut, und dann wird neues Bewusstsein draufgespielt, synthetische Persönlichkeiten, in Zusammenarbeit mit K/ geschrieben, die …«
»Also, sie schreiben K/ in Hirne, die sonst im Schaum leben. K/ auf weiche Hardware, auf unseren Kopfglibber«, sagte ich.
Shini erwiderte nichts. Das war Bestätigung genug. Jetzt aber hatte Aulika eine Frage: »Wie viel von diesem Zeug ist offiziell?«
Shini schüttelte den Kopf: »Riesig offiziell ist es nicht, und euphorisch ist auch niemand. Aber Bathnagar hat Order von Lily … von der Ersten Delegierten, dass er die Sachen nicht rumerzählt, bevor sie präsentabel sind, und dann, das sagt die Erste Delegierte, muss das alles durch die Frames. Das wird nicht einfach per Stimmungsmache durchgezogen, das wird geprüft. Wenn ich sie richtig verstehe, will sie uns so weit bringen, dass wir uns so ein Experiment großmaßstäblich leisten können, wirtschaftlich, und parallel dazu die Neukörper, und … alles eben, was … es gibt einen internen Spruch von ihr dazu, sie sagt, sie möchte sich eines Tages hinstellen können und sagen: Lasst tausend Gärten blühen. Aber bis dahin, sagt sie, ist es eine schwierige Übung in Balance.«
»Ja«, schnaubte ich. »Balance auf dem Rücken der vielen. Der meisten.«
Da widersprach Aulika scharf: »Nein, so flapsig darfst du nicht sein. Mir ist diese Seite das Liebste an der Ersten Delegierten: dass sie sagt, sie hat die Führung und sie schafft die Bedingungen, damit dann diskutiert wird und entschieden, und sie besiegelt die Entscheidungen. Ich werde misstrauisch, wenn es heißt, mehr Teilhabe, mehr Demokratie. Dazu habe ich zu gut aufgepasst, wenn meine Mutter uns, als der Krieg losging, von der Vergangenheit erzählt hat. Da kamen alle fünfzig bis hundert Jahre neue Offensiven zur Herstellung von Gefolgschaft, erst über so ein Militärding, ein sogenanntes Internet, dann über die freie Photonik, das hieß dann Phantomatik, eine Art primitiverer Schaum, aber ohne Mandate, auch ohne abstimmungsgebundene Exekutive … immer ist es Massenmobilisierung, und was damit erreicht werden soll, ist Akklamation. Sie verwechseln Technik mit Politik, aber diese Verwechslung nützt denen, die am künstlichen Knappheitshahn sitzen. Hier auf Venus ist das, was die Beschleunigung zieht, einfach das Bedürfnisniveau. Da wollen sie auf dem Land besser leben, bei aller Sturheit, dann müssen sie eben mitmachen. Oder wir wollen spielen, hier in Rhinoclavis, da müssen wir eben auch was produzieren. Der D=B=K muss das politisch miteinander vermitteln, und auch wir Neukörper, wie alle andern, geben ihm die Autorität dazu, weil wir nicht wollen, dass die Bauern allein bestimmen, wohin es geht, und die Bauern geben ihm die Autorität dazu, weil sie nicht wollen, dass wir Neukörper alles verjuxen, und für alle ist dieser Vorgang vollständig transparent.«
»Aber die Repression …«, warf ich ein.
Aulika nickte und war, das sah man, ganz sicher, dass ich ihre These stärkte, nicht schwächte: »Ja, wir beklagen uns über die Gängelei und die Bürokratie, und das ist ja auch scheußlich, aber schau’s mal genau an: Wie sehr muss eine Regierung einer Sache auf der Spur sein, die alle wollen, wenn sie sich halten kann, obwohl sie ganz offen nervt und alle das wissen und sagen? Wenn die Geschichte irgendwas zeigt, dann doch das: Mit reiner Gewalt hält sich nichts. Schon gar nicht, wenn es dann auch noch von außen angegriffen wird. Und als das halbe Sonnensystem, jedenfalls alle Reste der Fonds, den Verweltern zu Hilfe kam, was geschah? Wir standen zusammen mit unserer nervenden Regierung und haben das Bundwerk verteidigt und haben sie alle rausgeschmissen, die Verwelter, die Irdischen, die Marsianer, die Merkurianer, die Freien Händler … plus: Wo so intensiver Datenverkehr läuft wie hier, da hat die Lüge, die jeder Gewalt ja immer beigeordnet ist, nicht lange viel zu lachen.«
»Alles schön und gut, wenn es so bleibt. Wenn die Frames bleiben, wenn die ganze écumenale Debatte …« Ich sortierte meine Gedanken, setzte neu an: »Man hört, die Frames kriegen jetzt mehr Fallen, weil man den K/ seit diesem Le-Jeu-Kram doch nicht mehr so sehr traut, und man hat gehört, dass dadurch … ich höre, dass Leute, die sich im Toposcoding auskennen, schon von Zensur reden. Und mein Vater sortiert schon mal die schönen Worte, die das dann rechtfertigen werden.«
Aulika lächelte, als hätte ein Kind sie angequengelt: »Ah, aber gerade dein Vater, Nikolas, hat mich neulich auf was gebracht, was ich nun wirklich besser beurteilen kann als alle, die hier im Bundwerk aufgewachsen sind – du, Shini, Frédéric.«
»Und das wäre?«
»Das Niveau.«
»Welches … welches Niveau?« Ich war perplex.
Aulika sagte: »Die Sprache. Deren Niveau.«
Ich muss sehr skeptisch ausgesehen haben, denn Shini legte den Arm um mich, bevor ich aufbrausen konnte – sie kannte die Zeichen.
So war es Frédéric, der sagte: »Erklär mal. Wenn dir was Freundliches über unsern alten Herrn einfällt, ich glaube, das wollen wir beide wissen, Nikolas und ich.«
Aulika lächelte, dann holte sie tief Luft, als hätte er sie aufgefordert, von einer hohen Klippe ins Wasser zu springen. »Er war neulich hier«, begann sie, »vor ein, zwei Monaten erst. Da hat er einen seiner üblichen Festvorträge gehalten, auf einem unserer größten Tanzböden. Er hat frei, unter offenem Himmel, aber auch in allen erreichbaren Frames mit uns geredet, in diesem ruhigen Redestil, wie ihn Christensen eingeführt hat und der sich so angenehm unterscheidet von den Politikerreden oder Produktionsheldenreden, die ich von da oben kenne.«
Sie meinte, dass unsere Leute spätestens seit dem Bürgerkrieg nicht mehr brüllten und nicht fuchtelten, keine Begeisterung mit dem Blasebalg und rudernden Armen erzeugen wollten, wie das auf den Verkaufsveranstaltungen, die auf der Erde Politik hießen, seit Jahrhunderten üblich war.
»Und da sagte er nun was … er sagte, er sei neulich wieder einmal ein, zwei Wochen auf der Erde gewesen und habe da Wissenschafts- und Kultursachen diskutiert, Austauschgeschichten, und dabei … dabei habe ihn am meisten betrübt, wie schwer es inzwischen sei, die Kenntnisse der alten Sprachen dort wirklich zu nutzen, auf deren lebendigen Gebrauch er sich so gefreut hatte. Es gibt keine Haupt- und Nebensatzkonstruktionen mehr, wenn man dort Deutsch redet, sagte er. Und wenn man Englisch redet, stellt man fest, die Leute haben ihre Konjunktive vergessen, oder sie wissen nicht mehr – selbst Diplomaten nicht, sagt er und ist entsetzt –, was zum Beispiel der Unterschied zwischen ›imply‹ und ›infer‹ ist, oder wenn sie Französisch reden, dann gibt es den Subjunktiv nicht mehr, und in China ist derweil die reiche Schrift am Absterben. Das zieht sich zwar, das hat vor Jahrhunderten angefangen, aber es ist diese schreckliche Gleichmacherei überall da, wo der Informationsfluss ein zäher Lavabrei wird, eine Gleichmacherei nach unten, auf das dümmste Niveau hinab. Und diese Gleichmacherei kommt daher, dass auf der Erde seit Jahrhunderten längst überflüssige Hierarchien geschützt werden, indem man das kaputtmacht, was sich dagegen artikulieren müsste. Man erstickt sogar die Möglichkeit und Notwendigkeit der Rechtfertigung dieser Hierarchien, weil da schon Kritik ansetzen könnte, es ist gar nicht mehr diskutierbar, denkbar, dass was anderes sich machen ließe. Und die Leute, denen das angetan wird, das ist das Schlimmste, die machen das aktiv mit, die sehen das nicht als politische Entrechtung. Er hatte, sagt Arthur Helander, auf eigenen Wunsch gerade auch mit Benachteiligten, mit Armen, mit Ausgegrenzten geredet, und deren Sprache sei oft genug sogar noch kümmerlicher als die der Eliten.«
Sie wandte sich mir direkt zu und fuhr mit Nachdruck fort: »Verstehst du, Nikolas, es gab Leute hier, neben mir, Freunde von mir, die fragten mich nach dem Vortrag: Was war denn das für ein elitäres Gelaber, was will er denn, Konjunktive und lange Sätze – weitausschwingende Perioden nannte er es –, wer braucht denn das? Wir brauchen keine antike Rhetorik, wir brauchen mehr Rechenzeit. Da sagte ich, was ich dir jetzt sage: Freund, ihr kennt das nicht, aber er hat recht. Es ist unbeschreiblich, dieser Stumpfsinn, unter Leuten zu leben, die nicht reden können. Ich kenne das gut, damals in meiner Stadt war es so, dass … Man hörte das dauernd, das war regelrecht das Erziehungsziel an der Wirtschaftsschule: bei Bewerbungen bitte keine sogenannten Schachtelsätze, und vermeidet den sogenannten Schwurbel, und bei Texten generell keine schwierigen Zeitsorten – die Vorvergangenheit, in mehreren Sprachen, durfte ich erst auf Venus kennenlernen –, und mit Ärmeren bitte niemals so elitär reden, das sind Schwellen, das ist undemokratisch, wir wollen doch alle frei blubbern, und alle, alle, alle verhielten sich dann freudig wie gefordert. Sie hatten es gefressen, man hatte ihnen die Instrumente weggenommen, etwas anderes zu denken als das, was sie umgab, und es störte sie nicht, weil sie glaubten, sie wären freier, wenn sie blöken konnten, wenn die Geschichten, die sie sich anschauten oder lasen, ihnen runtergingen wie Öl, wenn nichts mehr da war, was lehrte, dass sich das Leben in Widersprüchen bewegt. Wenn du keinen komplexen Satz mehr bilden kannst, kannst du auch keinen komplexen Zusammenhang mit wenigen Invarianten und vielen abhängigen Variablen mehr schildern. Dann bleibt nur noch übrig: Subjekt Prädikat Objekt, die Sprache der Befehle und der Unterwerfung, verkleidet als Sprache der lebendigen Teilhabe aller an allem. Als Ausfüllen von Bestellformularen. Dauernd hat’s mich gegruselt dabei, und lange wusste ich nicht wieso. Ich dachte: Sie reden falsch, so kann man doch gar nichts denken beim Reden. Und seit ich hier nun angekommen bin im Bundwerk, denke ich was anderes.«
»Nämlich?« Ich wollte es wirklich wissen.
»Ich denke«, sagte sie, »so: Es ist in vielem unfertig hier, und es geht teilweise entsetzlich umständlich um die Ecke und durchs Nadelöhr und dann wieder seitwärts und so fort, und es kostet viel Kraft, und es führt zu ernsten Kämpfen, weil es selbst so ernst ist, aber es ist … es ist nicht diese ewige lauwarme Suppe, in der mein Hirn jeden Tag ein bisschen mehr zerlaufen musste, nicht dieser langsame Tod, in dem man seine Menschenwürde hergibt für das Versprechen, ein freier Idiot unter anderen freien Idioten sein dürfen zu müssen, falls diese Konstruktion sprachlich überhaupt geht.«
Sie winkte ab und lachte.
Das erlebte ich nie mehr, dass die seriöseste Ausführung von der Augenblickslaune unterbrochen werden kann, vom Wunsch, etwas anderes anzustellen als eben noch geplant.
Es war bezaubernd. So lebte man in Rhinoclavis.
Dass Leona Christensen diese Stadt, diese Welt innerhalb der Welt nicht beschützt hat, das nehme ich ihr wirklich übel.
Denn dort lebten Leute, die inständig an sie glaubten, verlässlicher als selbst mein Vater.
Es tat mir gut, sie kennenzulernen. Es tat Shini gut. Und es brachte uns näher zusammen.
Das waren die schönsten Wochen unserer Liebe: die Exkursionen, die Lichter und die Dunkelheiten, die Farben, die in dünnen Flügelhäuten spielen, vier bis fünf Geschlechter unter der Kuppel von Ledom, der beliebtesten Tanzstätte von Rhinoclavis.
In Ledom freilich stand auch der fatale Kran, von dem später so viele Bilder und Bücher und Filme und Kunstwerke so viel Verkehrtes sagten: ein schwarzes Monster auf einer massiven, smaragdenen Stellplatte, zwei Schichten grünes Glas, um eine ultradünne Schicht Schwarzes Eis gemantelt, damit an diesem Ort, unter dem langen, glänzenden, dunklen Arm des Krans, die Fallbeschleunigung ein Minimum betrug.
Man konnte da so hoch springen, dass der fünf Meter überm Boden quer durch die Kuppel verlaufende Eisenträger für besonders Wagemutige fast mühelos erreichbar war. Dort hingen sie dann, kopfüber, kopfunter, oder kletterten im Gerüst herum wie in den ägyptischen Illusionen im Club Plus X, wo uns eine schwarze Sternengöttin in tausendfach gestreckter Selbstvervielfältigung als undurchdringlicher Obsidian-Körper des Himmels überwölbte, während unten der Schaum wucherte wie eine Wiese, die im Zeitraffer wächst, und im Sekundentakt neue Sorten von Licht hervorbrachte.
Die stampfenden Tiefen und die knisternden Höhen, die Stimmen, die metallischen Flöten, der Herzschlag, der Tau auf den Lippen, die schreienden Vögel, die Hand in meiner, Shini und ich im Schilf am Teich mit heißen Flanken, keuchend und bissig und gut versteckt, während auf dem Felsplateau die Tänzerinnen mit den Armen wie See-Anemonen in die rauchige Atmosphäre ihre lebendigen Zeichen schrieben: freie Zeit.
Es war ein ständiger Transit von raupenbeweglich ineinandergeringelten Momenten. Wein der Liebe, salzige Dämpfe angstfreier Körper.
Dann lag man auf einem Floß und redete über Bücher – ich habe nirgends so viel Interesse an Sprache, so viel Neugier auf neue Arten des Sprechens oder Schreibens gefunden wie bei diesen Leuten, die andererseits so viel Zeit mit weitgeöffneten Sinnen in der strahlenden Sprachlosigkeit ihrer hohen Feste verbrachten.
Die Diskussionen waren Steigerungen des Lebens, nicht dessen Beruhigung, während die Erlebnisse wiederum die Diskussionen fortsetzten ins Unmittelbarste, sie also nicht mit Spektakel und Effekt totschlugen. Dieses Leben war zu reich, es konnte nicht von Dauer sein – und man sah doch auch, mit einem Witz, den ich nie wieder sah, die komische Seite an der Vergänglichkeit: Der geborstene Dom von Ledom etwa war nicht intakt erbaut und dann zerbrochen, sondern von Anfang an als Ruine konzipiert, eine Reminiszenz an die ersten Städte unten auf dem Venusboden, die noch unter künstlicher Atmosphäre dasjenige beschützt hatten, was damals das geduckte Menschenleben auf Venus war, bevor wir das Schwarze Eis kannten und den Schaum.
Als jene ersten Städte verfallen durften, als wir die halbkugelförmigen Biosphären zurückließen, damit sie in den Sand sanken, zu dem wir das zermahlen hatten, was an schroffen Massiven jenen ersten Siedlungen im Weg gestanden hatte, war die Verweltung beendet worden.
Der Kran von Ledom schien nicht unzufrieden damit, in dieser Kuppel zu wohnen und den Tanzenden zu helfen – ich habe mich tatsächlich einmal länger mit ihm unterhalten, und der einzige Verdruss, den er artikulierte, betraf den Umstand, dass er sich von anderen D/ angefeindet fühlte. Es gab im Umland um die Stelle, über der die Stadt schwebte, einige recht hochrangige D/-Neudelegierte, die Wählerstimmen mit Hetze abgriffen: »Schluss mit dem Haustierstatus!«, »Wir sind nicht für Tänzer da!«, »D/ tanzen nicht!«, das waren ihre Parolen.
Die Neukörper schien es gar nicht zu interessieren. Sie sahen alles in Bewegung, oder wie Aulika scherzte: »Und solang du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast, auch auf der neuen Erde.«
Ich lernte das Vergängliche als Chance kennen. Mal hatte ich ein paar Tage lang Lust, ganz am Außenrand zu stehen in Ledom oder Plus X oder Mystif und wie die Kelche des Glücks alle hießen, stand da und wippte höchstens mit den Füßen, nickte rhythmisch mit dem Kopf, durchaus in mich versunken, nur von Shini, nach dem Tanzen, wieder aus mir herauszuholen, für Liebe, Küsse. Dann wieder sprang ich zwischen den andern herum, als hätte ich’s erfunden.
Sowohl Shini als auch ich trafen während unserer Zeit bei den Neukörpern Menschen wieder, die wir früher gekannt und geliebt hatten. Teils waren sie körperlich verändert, teils sahen sie aus wie zuvor, aber nie waren es einfach dieselben.
Shini hat sich sogar einmal eine kurze Affäre mit einer meiner verflossenen Liebsten aus Le Jeu geleistet – eine Episode, aus der sie in ihrem zweiten Buch Kunst gemacht hat, einem Buch, das, wenn ich recht unterrichtet bin, ihren bis heute andauernden Ruhm als Schriftstellerin auf dem Mars begründet hat.
Die Geschichte liest sich dort, als wäre das überhaupt die Liebe ihres Lebens gewesen. Die Trennschärfe des Zeitrahmens ist nicht hoch – man erfährt kaum, dass es nur ein paar Tage waren, die sie mit der andern Frau verbrachte. Als Shini sich in ihrem Alterssitz Podkayne daranmachte, die Romanze mit jener Dana Hamani in Literatur zu verwandeln, wusste sie, dass diese Frau einige Zeit später, das heißt: nach der Affäre, zu den fünfzig Millionen venusischer Opfer des Ungeheuers Arjen Samito zählen würde. Die Tragik des berühmten Buches ist also ex eventu konstruiert, weil man bei der Lektüre denkt, dieses Glück wird nicht von Dauer sein, und also ständig geneigt ist, eine Ermordete zu beweinen.
Ich weiß die weniger romantische Wahrheit: Jenes Glück war auch damals nicht auf Dauer angelegt, die meiste Zeit schlief Shini selbst während der Affäre doch bei mir.
Das Ganze endete übrigens mit einem sehr schlichten Abschied Danas, weil sie eine neue Stellung in Behrens antrat – das Buch lässt es, auf sehr zweideutige Art, ein wenig so aussehen, als habe die Katastrophe von Ledom die beiden auseinandergebracht. Mir ist das immer etwas manipulativ vorgekommen, zu sehr auf literarischen Effekt bedacht.
Ich möchte darüber freilich nicht den Stab brechen; mein eigener Bericht macht sich vermutlich ähnlicher, wenn nicht schlimmerer Ungenauigkeiten schuldig.
Die Katastrophe von Ledom: Sie ist nun an der Reihe in meinem Bericht. Wie soll ich von ihr erzählen? Es ist schwer. Ich war dort.
Beinahe wären wir zu spät gekommen.
Hand in Hand, tändelnde Kinder, leichtbekleidet wegen der drückenden Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit um Ledom, stiegen wir hügelan auf der Rasenkuppe. Dass meine Liebste schließlich früh genug unterm Kran eintraf, um das Grauenhafte mit eigenen Augen zu sehen, lag an einem Zufall, der Frédéric hieß.
Ein Detail darf ich nicht verschweigen: Als Shini und ich die Steigung bezwungen hatten und auf der Hochebene angekommen waren, sah ich an einem Busch zwischen zwei Steinhaufen, wie sie dort manchmal Gräber, manchmal andere Gedenkzeichen markierten, eine Erscheinung stehen, die mich ablenkte, nein: erschreckte. »Siehst du das auch?«, fragte ich Shini, die aber an ihrem Hemdsaum etwas zu zupfen hatte und nicht auf das Mädchen achtete, das vor dem Busch stand, im lila Kleid, mit Rüschen an V-Ausschnitt und Ärmeln, in großem blaurotem Glockenrock, bestickt in Hochsee-Wellen, die Wangen rosig, die Haare streng zur Skulptur zusammengesteckt.
Das Merkwürdigste an jener Person war, dass sie in der linken Hand eine Feueraxt mit rotem Griff hielt. Sie sah mich, schien mich zu erkennen. Dann hob sie die Rechte und legte deren Zeigefinger auf die Lippen, als wollte sie sagen: »Psst!«
Ich weiß nicht mehr, woran ich erkannte, dass das Von Arc war.
Kleidung und Haarfarbe wichen stark ab von ihrer Aufmachung bei unseren früheren Begegnungen. Aber es gab keinen Zweifel: Sie war es.
Reflexhaft griff ich, nein: griffen meine semisentienten Subroutinen nach Von Arcs Kennung. Aber die war verriegelt – die kapriziöse Intelligenz ließ sich zwar sehen, aber nicht anrufen oder anschreiben.
Die Axt, am Griff gebogen, geknickt wie der expressive Zweig eines gemalten Baumes, schien für den schlanken Arm zu schwer. Die Augen waren größer als beim letzten Mal, als habe sie sich selbst karikieren wollen, und der ganze Ausdruck sagte: Geh nicht weiter, kehr um, wenn du klug bist!
Eine Warnung – aber wovor?
Ich wollte etwas sagen, wollte Shini mitteilen, was ich sah.
Ich tat gerade den Mund dazu auf, da fuhr mir ein Windstoß in den Nacken, dass sich die rasierten Härchen wunderten, und griff mir in den Hemdrücken, dass der Stoff flatterte.
Shini lachte auf, ließ meine Hand los, strampelte schon, wurde in die Höhe gezogen – es war Frédéric, der sie sich im Hinabstoßen und raschen Wiederaufsteigen geschnappt hatte wie ein Bussard eine Maus, die darüber verrückterweise vergnügt war.
Es muss an diesem Lachen gelegen haben, am Rauschen der Schwingen, an der Verblüffung, bei der ein momentanes Erschrecken unmittelbar von Freude abgelöst wurde, dass ich, nachdem Shini mir kreischend und lachend winkte, nicht anders konnte als zurückzuwinken. Ich sah, als die beiden mir davonflogen, noch einmal zu der K und fand sie nicht mehr bedrohlich, sondern komisch, fast albern: Sie war noch da, hatte die Axt jetzt geschultert, sah mit den großen Untertassenaugen zu mir, als erwarte sie eine Antwort.
Da tat ich, was ich seither oft bereut habe: Ich streckte dem Phantom die Zunge heraus.
Von Arc zuckte mit den Schultern und verschwand.
»Beeil dich!«, textete Shini, und Frédéric setzte hinzu: »Nicht, dass du wieder die ganze Nacht auf der Eingangsstufe stehst wie eine Tüte Nachos.«
Wie lange dauerte der Rest meines Anstiegs?
Er kam mir kurz vor, aber wenn ich heute zurückdenke, fallen mir Einzelheiten ein, die darauf hindeuten, dass ich noch mindestens acht bis zehn Minuten unterwegs gewesen sein muss: die nach Zitronen duftenden Wolken aus den Drogenpilzen, die in mehreren Gürteln um die Kuppe des Hügels wuchsen, die kleinen Partys an Gruppen von Bäumen und den beiden Honigwasserquellen, die beiden jungen Kentauren, die Federball spielten, die Schlangenfrau und ihre Kinder, das Schachspiel, das jemand auf Brusthöhe vergessen hatte, schwebend, auf einer Platte aus Schwarzem Eis. Und dann: die beiden Schläge durch den Boden, dröhnend, das Beben. Die kurze Pause, und noch einmal zwei Schläge.
Zu rhythmisch, als dass ich sie als Unfall oder Anschlag hätte erkennen können – eine neue Art Auftakt, dachte ich, nicht die Fanfaren, die man gewohnt war, sondern gleich das Stampfen, das normalerweise erst gegen Mitternacht begann.
Mit einem Anflug von Neid und etwas sportlichem Aufholehrgeiz dachte ich: Da sind sie also schon mittendrin, Shini und Frédéric.
Ich fiel in gestreckten Laufschritt und sah im oberen Drittel meines per Innenaugeblinzeln willentlich von allen Frames gereinigten Blicks schon das Farbenspiel, das ich für Kunst hielt und das etwas ganz anderes war: Scharlachschatten, Zungen von Chromgelb, drei bis vier Meter hoch. Während ich bergan lief und den absurden Drang verspürte, die Arme auszubreiten und das Gelbrote, das mir entgegensprang, das kadmiumgelbe und orange Schwappen, das die sattgrüne Wiese unter sich wegdrückte, zu umfassen, als wäre das alles eine Teufelin, die ich lieben wollte, mischte sich der graue Rauch hinein: Anthrazit, Wolle aus Kobalt.
Dann kam die nächste Erschütterung. Sie warf die kleinen Pilgergruppen rings um mich durcheinander, ließ einige in ihrem Vorwärtsdrängen stocken. Ich lief, ich rannte, roch das Kohlendioxid. Schon bauten sich Balken auf im Innenauge, unerbetene Luftanalysen, Hitzewallungsmessungen, von Alarmroutinen geweckt. Bevor ich anfing, sinnlos nach Shini zu rufen, sandten ihr alle virtuellen Kontaktflächen, die wir aneinander geeicht hatten, tausend Fragen: Bist du drin, was ist los?
Im Rennen rammte mich von rechts ein türkisfarbener Keil auf zwei Dutzend dünnen Kabelbeinen – der erste einer Vorhut, eines Überfallkommandos von zwei Dutzend D/ in hartem Gummi: Geschosse ohne Köpfe, mit blinkenden Lichtspitzen, neonblau, magenta, aggressiv pulsierend. Sie schwärmten aus.
Klingen fuhren aus ihren Leibern. Ich sah, noch während ich mich auf den Bauch warf und die Hände schützend übern Kopf riss, wie ein Neukörper mit Pferdeleib an der Seite aufgerissen wurde, wie warmes, traubenrotes Blut aus diesem Körper spritzte, als schräger Schwall, und ich sah, wie Drohnen, chromblitzende Tropfen, unten bauchig schwer, mit Rotormessern, oben verjüngt zu Nadelantennen, vom Himmel fielen, und mehr Maschinen: scharfe Scheiben, die den Rasen verbrannten beim Vorwärtssurren, Zylinder, Schrauben. Leute kamen zurückgeströmt, sprangen über mich hinweg. Ich krümmte mich zusammen, rollte mich ab, hatte plötzlich nur mehr gellende Störungen im Innenauge, Flackern und Interferenzen und grausiges Moiré.
Weiter zur Kuppel oder schnell fort?
Die Entscheidung war nicht mehr meine: Die Neukörper und Menschen rissen mich mit sich, quollen aus dem Kelch wie Klumpen von Insekten, die ein Faustschlag aus einem tiefen Teller treibt. Sie hätten mich, als ich wieder auf den Beinen war, überrannt und zertrampelt, wenn ich nicht mit ihnen geflohen wäre, kopflos und schamlos, nicht einmal mehr besorgt um Shini, um Frédéric, um Aulika.
Wir stürzten, sprangen, hopsten den Hügel hinunter, unglückliche Kreuzungen aus Fröschen, Hasen und Ameisen, kamen aneinander zu Fall, schlugen einander, weil wir einander für Angreifer hielten, oder klammerten uns aneinander fest, weil wir Rettung erhofften.
Nach einem Streifen lehmigen, seltsam feuchten Bodens, gelbbraun, von beißendem Geruch, nie zuvor beachtet, obwohl ich oft daran vorübergegangen war, lief ich gegen einen Baum, den ersten Außenposten eines Wäldchens aus dichtem, auf kurzen, knorrigen Stämmen sitzendem Laub, in das sich viele flüchteten.
Wir meinten, wir könnten uns dort vor den Laseraugen der Mörder verstecken.
Mir hat an diesem Tag tatsächlich keine Maschine und wohl auch kein Mensch etwas angetan. Die Verletzungen, die ich mir zuzog, rührten vom Boden, von Steinen, von der Rinde jenes Baumes her.
Ich kroch, gepeinigt von pochendem Schmerz in Unterkiefer und Kinn, brennendem Reißen im rechten Bein, ganz nah am Baum um diesen, bis ich auf der dem Hügel abgewandten Seite stand, und zog mich dann am Stamm empor, krallte mich mit den Fingern in die Borke, als wäre ich eine Fliege, die sich ganz still verhalten wollte, während rechts und links von mir ein Trampeln und Schreien vorbeifiel, Regenguss aus Leibern.
Es geht mir damit wie mit dem Mord an Thalberg: Ich habe das Gefühl, nicht einmal die zeitlichen Maßrelationen der verschiedenen Ereignisse dieses Tages zuverlässig rekonstruieren zu können. Das heißt, ich kann ebenso wenig sagen, wie lange der Aufstieg zur Kuppe dauerte, wie ich angeben könnte, wie lange ich mich an diesem Baum festhielt.
Wären nicht die Schutzkonvois mit D=B=K-loyalen Askaris und CC-gesteuerten D/ nach erfreulich kurzer Reaktionszeit eingetroffen, kaum zehn Minuten nach den ersten vier Detonationen und dem Beginn des Massakers, und hätten sie nicht die Angreifer rasch zurückgeschlagen, die noch immer im Kessel zwischen die Verschreckten oder bereits Verwundeten fuhren, so hätten sich die Mörder vermutlich bald dem Umland zugewandt.
Dann wäre das Wäldchen eine Todesfalle für Hunderte geworden.
Ich stand da, bis mir die Beinmuskeln weh taten, in einer nahezu vegetativen, wie festgewachsenen Starre, und las mit geschlossenen Augen die Werte von Temperatur und Wind, hörte die immer wieder von Störungen zerrissenen Rufe, Meldungen, Kontaktaufnahmeversuche, Durchsagen der Schutzverbände.
Der verzweifelte Stimmenlärm war das Schlimmste: das Weinen, das Ächzen und Stöhnen, das Schreien und Fluchen, die Haltlosigkeit flehentlicher Ausrufe und halb erstickter, halb ausgewürgter Anklagen. Die Lautstärke des Jammers wuchs zunächst stetig, schwoll an, als gäbe es dafür keine Obergrenze. Dann flachte der Geräuschpegel urplötzlich ab, jedenfalls nahm ich es so wahr. Danach hielt er sich eine Weile auf einem desolaten Plateau der Verwirrung, um schließlich einzubrechen und sich in vereinzelte Wehlaute aufzulösen.
Der Tiefpunkt, den ich an jenem traurig berühmten Tag durchlebte, war die halbe Stunde völliger Unerreichbarkeit des Écumengesamten für alle meine Fragen.
Ich wusste, was geschehen war, kannte die Notfallprotokolle: Derlei hatte man in alten Zeiten »Ausnahmezustand« genannt. Einst war das eine verfassungsrechtliche, bei uns aber eine technische Kategorie: Wenn das Innenauge nichts mehr sah und das Innenohr nichts mehr hören konnte, hatte der Bund die Stadt unter eine von der CC oder Christensen persönlich angeordnete Sofortblockade gestellt.
Das hieß, die großen Keilblattsegler, die mit D/ und Menschen von der CC und entscheidungsbefugten Delegierten höchster Ränge besetzten Hausboote zwischen den Städten, waren unterwegs, drangen wohl bereits durch die Außenmembranen des Deltaeders.
Mein Leib sank am Baum zusammen, schluchzte, zitterte und war noch nicht einmal imstande, einen Gedanken an die anderen zu fassen, um die sein Herz fürchten musste.
Ich wischte mir die Augen aus, stand auf, trat vom Baum weg. Vor mir stand ein Mann in der weißroten Porzellanplastikrüstung der CC und bedeutete mir mit einer Geste, ich solle mich konzentrieren und die Verbindung zu ihm, zum Écumen überhaupt, reaktivieren.
Das tat ich. Er hatte mich mit meinen passiven Peilkennungen gefunden. Andere wie er, gut drei Dutzend, schritten, begleitet von schlanken, amphorenförmigen D/, die lautlos hin und her schwebten, durch den Wald.
Sie halfen Leuten auf, versorgten einige medizinisch.
Ich sah das Gesicht meines Retters im Innenauge. Ich kannte ihn, er gehörte zur Garde meines Vaters. »Bist du verletzt? Abgesehen von der Schramme – hast du Verletzungen, die ich nicht sehen kann?«
Das fragte er mit körperlicher Stimme, nicht per Fernkontakt. Ich glaube, ich verstand diese Frage im ersten Moment überhaupt nicht. Ich sah an ihm vorbei, schaute über ihn hinweg. In der Luft standen die Segler der Sicherheit, über den einander bedrängenden Rauchsäulen, die aus dem Krater stiegen, der ein Tanzplatz gewesen war.
»Nein, ich bin nicht verletzt«, sagte ich schließlich.
Es schien ihn zu freuen; mehr jedenfalls als mich – mir war es so gut wie egal. Der Mann winkte einem zweiten und dritten. Die beiden brachten mich auf einem schmalen Inertial nach oben, in eins der dunklen Häuser von auswärts, einen der Bunker der Retter – das größte, längste, eine dunkelbraune Bundeslade ohne erkennbare Fenster, fünfstöckig, mit Selbstschussarmen an jeder Außenschleuse, langen Gängen im Innern.
Die Gänge waren organisch, ohne harte Winkel. Man führte mich durch Windungen zu einer Art Hotelsuite, wo ich mich waschen und umkleiden konnte – auf der Liegestatt fand ich eine Uniform in der richtigen Größe. Darunter standen solide Halbschuhe. Eine Delegierte in streng geschnittenem Overall, allerdings barfuß wie eben noch ich selbst, trat ohne Vorwarnung in den der Tür nächstgelegenen der drei Räume meiner Zimmerflucht und sagte: »Dein Vater erwartet dich, Freund.«
Ein kurzer Anflug bizarrer Lachlust machte mir zu schaffen: Freund, das klang das erste Mal im Leben wie eine Zurechtweisung – etwa wie: »Freundchen, warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!«
Der war schon da, in einem geräumigen, mit vielen Büchern in langen Regalen ausgekleideten Büro, an einem eichenen Schreibtisch, in einem körperangepassten, mit hirschrotem Leder bespannten Stuhl, eher: Sessel, auf dessen Zwilling ich mich setzte.
Es war ein großes Entgegenkommen des Delegierten Arthur Helander, mich sofort zu sich zu lassen, eine Respektsbezeugung, auch wenn ich in den Sessel etwas zu tief einsank und damit ein wenig niedriger saß als er. Das hatten diese Sessel, zwei simple, aber wohl nicht dumme semisentiente D/, wahrscheinlich selbst untereinander ausgeknobelt.
Mein Vater fragte. »Willst du was trinken?«
Dass ich keinen schweren Schaden genommen hatte, wusste er gewiss von seinen Leuten. Ich verneinte und stellte eine Gegenfrage: »Du bist mitsamt CC so schnell von Laukkanenstadt …«
Er winkte ab: »Lass den Flachs, Junge. Ich weiß, wo du hindenkst. Ich habe Protokolle all deiner Framerecherchen der letzten Monate gesehen: Du liest Verschwörungsspinnereien und stellst dir vor, wir hätten was mit dem zu tun, was hier passiert ist. Das kannst du ruhig denken, es kümmert mich nicht – die Gedanken sind frei. Aber die Entschlüsse sind es nicht mehr, wenn man so viele Fehler gemacht hat wie du.«
Sehr rote Wangen, rötliche Augen, viele geplatzte Äderchen, ungesunde Augenfarbe: Er hatte wohl nicht viel geschlafen und zu viel getrunken in den letzten Wochen.
Ich sagte: »Die offiziellen Frames deuten selbst an, dass es nicht einfach ein paar rebellische D/ waren. Man spricht von rascher Aufklärung. Das müsste man nicht, wenn nicht D=B=Kler unter Verdacht stünden.«
Ich kam mir selbst altklug vor bei diesen Worten. Er erwiderte, mühsam beherrscht: »Du solltest die Verbindungen mal eine Nacht ruhen lassen. Das Zeug macht dir nur Würmer im Hirn. Und was mein Hiersein angeht: Ich war schon unterwegs nach Rhinoclavis, als uns die Nachricht erreichte. Ein Kulturabkommen, offizielle Dinge. Lächerlich, im Grunde. Da ich aber der ranghöchste Delegierte im erweiterten Raum um diese Stadt bin …«
»Fällt dir die Ermittlung zu. Und die Säuberung.«
»Das Aufräumen«, sagte er pointiert und nahm mit einer Grazie, die mich bei diesem kompakten Mann stets verblüffte, sein kleines Glas mit Kaffeelikör von der dunklen Gummimatte auf dem Tisch. Er spitzte den Mund mit dem wie immer fadenpräzise geschnittenen Schnurrbart darüber. Nippte ein wenig. Stellte das Glas wieder hin.
Ich senkte den Kopf: Ja, aufräumen.
Er hatte mich beschämt. Dass ich mich bereits wieder in den Frames umtat, um dahinterzukommen, was geschehen war, als wäre das ein Zuschauersport, obwohl ich noch nicht einmal wusste, was mit denen geschehen war, deren Kontakte nach wie vor schwiegen, denen, die mir nahestanden, Frédéric, Aadarshini und Aulika, warf kein gutes Licht auf mich. Ich kappte meine Kontakte zu den Nachrichten, dann sah ich ihn an und sagte: »Frédéric schweigt, und Aadarshini Chabert schweigt, und andere, um die ich mich sorge, schweigen auch. Ich nehme an, das ist gewollt.«
»Wir haben eine Anordnung in den Écumen gespeist – private Kommunikation in der Dipyramide und in den Zilien dieser Stadt ist für die Dauer von vierundzwanzig Stunden unmöglich, weil wir unsere Garben nicht in den Wahnsinn treiben wollen, die alle Kommunikationen vor dem Anschlag durchsuchen. Wir tun das, damit wir sehr bald damit anfangen können, die Richtigen zu verhaften.«
»Die Richtigen sind hier, in der Stadt?«
Er lächelte gequält, das war Antwort genug.
Dann sagte er: »Also gut. Was willst du wissen? Über wen? Ich habe Zugang zu Peilungen, zu jeder Sorte Ortung im CC-Ereignisraum.«
Ich wollte natürlich wissen, ob Shini in Sicherheit war. Aber ebendas ging ihn, fand ich, nichts an, das wäre ein Einblick in mein Intimstes gewesen, hätte mich verwundbar gezeigt, während eine andere Frage ihn ins Unrecht setzen konnte und gleichzeitig mich zum Verteidiger einer Familienehre erklären, die er aufgegeben, an der er sich durch seine Hinwendung zu Leona Christensen vergangen hatte – so stellte ich sie, diese andere Frage: »Wo ist mein Bruder? Hast du ihn auch gerettet? Oder ist dir ein Neukörper nichts wert?«
»Dein Bruder ist tot«, sagte mein Vater.
Ich saß stumm da, bis ich mich wieder spürte.
Dann fragte ich kläglich: »Wie? Unter … auf welche Weise … ist …«
»Niemand hat Schuld außer den Tätern. Wir haben ihn gefunden. Er lag unterm Kran. Der Absturz hat ihm das Genick gebrochen, bevor er halb verbrannt war.«
»Shini. Shini war bei ihm«, sagte meine Stimme.
»Sie ist hier. Hier im Segler. Leichte Verletzungen. Schock. Du solltest zu ihr gehen – ich habe euch füreinander freischalten lassen. Du kannst sie anrufen, ihr texten.«
Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm dankte oder es nur wollte, mit diesem schwachen Willen, in dieser großen Schande. Was blieb zu sagen? Hätte ich nach Aulika fragen sollen oder nach anderen unserer Freundinnen und Freunde? Ich hörte mich sagen: »Ich werde tun, was du mir sagst.«
Er senkte das Kinn auf die Brust, dann sah er mich an, als sei ich ihm eben erst vorgestellt worden, und sagte: »Du gehst nach Flintstadt und wirst Beigeordneter in meiner Arbeitsgruppe. Du vertrittst mich, wenn ich in anderen Bundangelegenheiten beansprucht bin, vertrittst mich in baulichen Ausschüssen, bei der Literatur, im Filmausschuss, in den Bibliotheksberatungen, bei den Druckgenehmigungen, im Medialen, in allen Framelizenzfragen. Wir brauchen dich.«
Er meinte mit »wir« kaum sich, eher Christensen, denn ich wusste, dass es ihm in diesem Moment nicht schwergefallen wäre, auf meine Gesellschaft für immer zu verzichten.
Ich nickte und stand auf. Als sich die Tür hinter mir zusammenzog, leuchtete Shinis vertraute Kennung in meinem Innenauge auf.
Daneben ließ sich ein Plan entfalten, Gänge, Korridore, nichts weiter, auch nicht auf Anfrage oder Rückruf: ein schlichter Wegweiser zu ihr.
Das mochte Verschiedenes bedeuten – dass sie zu mehr nicht die Kraft hatte, dass sie wusste, dass der, der uns erlaubte, miteinander in Kontakt zu treten, alles lesen und hören konnte, was wir einander mitteilten, oder dass sie mir etwas übelnahm.
Den Weg zu ihr ging ich in großer Unruhe. Die Karte setzte sich erst unterwegs zusammen, wahrscheinlich eine Sicherheitsvorkehrung: Es erschwerte das Mitlesen für alle, die nicht die Route mit mir abschritten.
Irgendwann fiel mir auf, dass ich den Stamm des Hauptgangs schon vor zehn Minuten verlassen hatte und von den Zweigen der ersten Nebengänge inzwischen in ein Gewirr von Ästen gelangt war. Ich ging, dachte ich, in dem Baum herum, an den ich mich ein paar Stunden vorher geklammert hatte, bis ich schließlich doch an der Pforte zu Shinis Wohnbereich stand. Es war eine mattschillernde Membran aus Écumuli statt einer gewöhnlichen Iris, eine Haut mit Splittern von Königsblau und Violett darin. Ich stand einen Augenblick unsicher davor, weil ich nicht wusste, wie man durch etwas hindurchgehen sollte, das sich nicht weiten würde, falls man den Bewegungshorizont berührte.
Schließlich rang ich mich dazu durch, das Schimmern als Schleier aufzufassen, als leichte Gardine vielleicht, die mich streifen und an mir abgleiten würde – und so ähnlich geschah es tatsächlich. Als ich meine Liebste nackt im lichten Umbraschatten auf einem mit bauchigen Samtkissen dekorierten Riesendiwan liegen sah, verhielt ich mich wie ein Verdutzter in einer Boulevardkomödie und wich zwei Schritte wieder zurück – sprachlos.
Ich hörte sie sagen: »Da bist du ja.« Es war eine Feststellung, kein Ausruf, und das lockte mich wieder hinein. Ihr Gesicht hellte sich auf, das schien mir schamlos und seltsam, wenn ich an den Tag dachte, den wir eben überlebt hatten. Eine Regung ungewollter Lust, wie ein Knoten im Hals, machte mich augenblicklich unzufrieden: Ihr Körper, seine Leichtigkeit, das waren Erinnerungen, die ich nicht einordnen konnte, nicht erleben wollte. Sie lag da, seitlich drapiert, als ginge es darum, eine Stimmung zu behaupten, die nicht wahr sein konnte, und las ein Buch im Kerzenlicht.
Ich weiß noch, es waren Gedichte. Ich habe vergessen, von wem.
Sie setzte sich auf, verschränkte die Beine in unverschämter Gelassenheit zum Schneidersitz, legte sich das Buch auf den Schoß und faltete die Arme über ihre Brüste. Das sah, zusammen mit einem plötzlich scheuen Lächeln, rätselhaft aus.
»Du blutest«, bemerkte sie ohne eine Spur Aufregung.
Ich fragte das Alleroffensichtlichste: »Wo sind deine Kleider?«
»Es ist heiß hier drin«, sagte sie. Ihr Haar war fransig, ungebürstet: »Wieso blutest du? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Wo blute ich?« Ich erhob meine Hand zum Gesicht, tastete es ab.
»Die Wange. Da.« Sie half mir. Ich fand den Schnitt, er tat nicht mehr sehr weh, auch nicht, wenn ich daraufdrückte.
Das Blut auf meinen Fingerspitzen sah im Kerzenschimmer wie eine Andeutung aus, eine Unbeweisbarkeit. Sie lächelte wieder, es war wohl einladend gemeint. Ich erkannte den falschen Trost. Ich wollte nicht versagen, wie im Gespräch mit meinem Vater. Deshalb blieb ich stehen, wo ich stand, und sagte: »Weißt du irgendwas von draußen? Bist du auch … gekappt?«
»Aulika ist am Leben, aber verletzt. Krankenstation. Unten, innen. Rhinoclavis.«
»Und weiter draußen? Mein Vater sagt, alle Verbindungen seien durchtrennt.«
Sie blinzelte, als wollte sie sagen: Es überrascht mich, dass du mir nicht um den Hals fällst, es überrascht mich, dass wir einander nicht mit Küssen bedecken, es überrascht mich, dass wir uns nicht hemmungslos ausflennen – das alles überrascht mich, aber es passt.
»So bist du«, sagte sie schließlich, leise, nicht vorwurfsvoll, aber auch nicht gerade glücklich. »Denkst immer das Schlechteste von den Leuten. Ich habe Verbindungen, denkst du, weil meine Mutter sie mir freistellt – als stünden wir in engstem Kontakt. Ich kenne selbst deinen Vater besser als meine Mutter, wusstest du das? Nein. Woher auch. Ich rede mit Leuten. Die CC hier, Menschen, Askaris und D/ – sie sind hilfreich, und für sie gilt der Bann nicht, die Quarantäne. Und ich habe mit deinem Vater geredet. Der mir von Frédéric erzählt hat. Davon, wie er gestorben ist – das habe ich nämlich nicht gesehen. Weißt du, warum nicht?«
Ich schüttelte sacht den Kopf, durchaus schuldbewusst.
Sie sagte leise: »Ich habe nicht gesehen, was ihm passiert ist, weil er mich von sich geworfen hat – im Anflug, in der letzten Kurve, als der Kran das erste Mal erschüttert wurde. Frédéric muss sofort verstanden haben, dass da was gesprengt worden war. Er ist gerade schnell genug abgesunken, dass es kein richtiger Sturz war, dass mir nicht mehr passiert ist als ein paar Prellungen. Er warf mich über den Rand des Kessels, aus der Gefahrenzone, wo die D/ schon waren – man ist sich noch uneins bei der Forensik der CC, wie sie da hinkamen, ob sie sich durch das Schwarze Eis gebohrt haben, zwischen den Smaragdflächen, oder ob sie durch unterirdische Luftschächte gekommen sind, aus Richtung des Kraftwerks Südost. Ich fiel auf den Rasen, ich hab mich zwei-, dreimal überschlagen und bin weggelaufen, bergab, so schnell ich konnte. Ohne zu denken, ohne zurückzuschauen.«
»Ich bin froh«, sagte ich.
»Die CCler sagen mir, dass Hsü verhaftet worden ist.«
»Hsü? Aber das …« Ich weiß noch, wie ich mit diesem Wort ansetzte, wie ich dem Leben selbst, dem politischen Zusammenbruch, der da begonnen hatte, ins Wort oder in den Arm fallen wollte, und ich weiß auch noch, wie das hätte weitergehen sollen, welcher Satz daraus hätte werden sollen: Das kann nicht sein.
Aber weil ich wusste, dass es sehr wohl sein konnte, dass es sogar ganz folgerichtig war, dass irgendein Mensch für die Taten jener D/ mitverantwortlich gemacht werden musste, um Vergeltungs- und Disziplinierungsaktionen gegen D/ nicht insgesamt wie eine Rücknahme des Laukkanen-Aufgebots aussehen zu lassen, ließ ich den Rest unausgesprochen.
Aadarshini wartete genau so lange, wie sie musste, damit klar war, dass ich nichts mehr sagen würde. Dann fuhr sie fort: »Und Daniel Singh ist der Nächste. Denn auch wenn er nicht mit den D/ gekungelt hat, er kungelt unausgesetzt mit Hsü. Sie hatten sich, das weiß man im Katzenhaus, schon als Triumvirn mit Vuletic gesehen, bevor der entfernt wurde. Früher oder später musste sie das einholen.«
»Nein, aber … Shini … die erste Dreierspitze war doch anders: Christensen, Singh und Hsü.«
»Ja, aber die beiden Kleinen wollten lieber Vuletic bei sich haben, weil der leichter zu beeinflussen schien als Lily. Man musste ihm nur schmeicheln.«
Das stimmte wohl; jedenfalls hatte Thalberg mir Ähnliches erzählt, sowohl nüchtern wie betrunken, vor Zeugen und unter vier Augen.
Ich hatte dennoch einen Einwand: »War das nicht Hsü, der am lautesten für Vuletics Ausschluss votiert hat?«
Sie verzog den Mund: »Ja, um den Graben zwischen Vuletic und der Bundspitze zu vertiefen. Denn damals hat Lily gerade die Hand nach Vuletic ausgestreckt, hat ihm mehrere Versöhnungsangebote gemacht.«
Auch das stimmte: Es war nach der Niederlage Vuletics im Plenum gewesen, nach seiner fatalen Rede mit der Forderung, K/ in alle Himmelsrichtungen zu schießen wie brennende Pfeile auf feindliche Strohdächer.
Typisch für Leona Christensen: Einem, der sich so blamiert hatte, die Versöhnung anzubieten war eine klare Geste der Stärke.
»Sein Gewurstel muss Christensen sehr gereizt haben«, überlegte ich halblaut, »es ist aber bezeichnend, dass sie so lange gewartet hat, bis sie zuschlägt.«
»Der Tag musste kommen, an dem ihr die Lage dazu verhelfen würde, ihn abzuschaffen. Der Tag ist heute«, sagte Shini.
»Und Bathnagar?«
»Ist über jeden Zweifel erhaben. Ist so sicher wie dein Vater. Der Liebling des Bundes: Er hat ja die CC erst so effektiv gemacht, wie sie jetzt sind … durch … Rechenzeitspenden seitens seiner K/.«
»Seine K/ – das klingt, als ob sie ihm gehorchten. Gehorchen sie nicht diesem Kâlidâsa?«
»Der ist wie weggepustet, ganz verschwunden. Man hört und sieht nichts, sagen alle Partitionen der CC.«
»Die wem gehorchen? Meinem Vater?«
»Wichtiger ist: Wirst du ihm gehorchen?«
Sie wusste also, was er von mir verlangt hatte.
Wie gut kannten und verstanden sich diese beiden eigentlich? Shini senkte beide Arme und sagte nach einem winzigen Schulterzucken, das ich mir vielleicht auch nur eingebildet habe: »Ich gehe jedenfalls nach Behrens. Und danach vielleicht nach Freyja Montes.«
»Ionad?«
»Ja. Die D/ entdecken dort gerade die Biotechnik. Ich glaube, es gibt nichts Wichtigeres jetzt, als dass wir festhalten am Bündnis zwischen ihnen und uns. Sonst sind die K/ die lachenden Dritten. Bathnagar … er ist mir unheimlich.«
»Obwohl du mit seiner Tochter befreundet bist?«
»Weil ich mit seiner Tochter befreundet bin. Ich mag Leila, aber sie ist ein … kleiner Sonnenschein … sie ist von einer Arg- und Ahnungslosigkeit, die mit Blick auf diejenigen, die sie zu dieser Naivität erzogen haben, zu den schlimmsten Befürchtungen berechtigt.«
Hätte ich um sie kämpfen sollen? Einen dramatischen Monolog aufsagen, ihr mein Innerstes offenbaren? Ich wusste, dass ich geschlagen war: »Wir sprechen morgen. Wir sind beide erledigt.«
Mir war, während ich das aussprach, schon klar, wie zweideutig das klang, man musste es nur etwas umstellen: Wir beide sind erledigt.
Es stimmte nicht, aber es war in diesem Moment wohl das, was uns schonte, was uns Zeit verschaffte. Deshalb deutete sie ein Nicken an, so langsam und halb verborgen wie zuvor mein Vater.
»Wir sprechen morgen«, wiederholte sie und wusste wohl schon, dass sie log.
Ich sollte sie lange nicht wiedersehen.
Wenn ich jetzt von meiner Zeit in Mischpatim, B’midbar und Aforia Circinata, vor allem aber meiner Arbeit und meinem Leben im Herztrichter von Flintstadt, in Aton, erzähle, wird man denken: Wo Nikolas Helander schildert, bei welchen Besprechungen er zugegen war, wie er das schreckliche Ende von Hsü und Singh erlebt hat, wo er all das der Kenntnis und dem Urteil von Leuten übergibt, die dort und damals nicht dabei waren, dann muss man denken: Hier kann man etwas erfahren, was man nicht wüsste, wenn er schwiege.
Was man dann wohl vor allem erwartet, sind Auskünfte über Leona Christensen, die erklären, warum sie getan hat, was sie tat, und wer sie war.
Nicht, dass es nicht bereits Terabytefluten von Daten und Ansichten dazu gäbe. Aber wird ein Zeitzeuge nicht sagen müssen, was er den Außenstehenden, Fremden, Neugierigen, den Nachgeborenen jetzt und in Zukunft an Wissen voraushat?
Wer dies hier liest, wird glauben, ich wolle genau das versprechen.
Das will ich nicht.
Denn ich habe zwar mehr aus der Nähe erlebt als viele. Aber ich glaube nicht, dass ich von dem, was damals Geschichte gemacht hat, mehr verstanden habe als jene, die in Ruhe sichten und hören können, was die Archive übrig ließen.
Ich habe das Katzenhaus betreten und verlassen, das stimmt.
Ich habe sogar manchmal dort geschlafen, man kann sagen, ich habe hin und wieder dort gewohnt. Immerhin: Diese Auskunft allein mag ein Bild zurechtrücken, das jenes große, rot gemauerte Gebäude mit dem domartigen, aber romanisch rechtwinkligen Mittelschiff und den beiden mächtigen Flügelanbauten als Palast sehen will.
Es war in Wahrheit ein Regierungsbau in durchaus funktionalem Sinn. Man arbeitete dort, grüßte einander, man stand auf Gängen und stritt oder scherzte.
Die Wohnungen, fixe wie temporäre, waren in den sechs Stockwerken der beiden Seitenbauten untergebracht, die Amtsräume im Haupthaus.
Der Drache, den sie Lily nannten, wohnte hier, aber von »Hof halten« kann man nicht reden, auch wenn entsprechende Floskeln üblich waren: »bei Hofe«, »Höflinge« und so weiter.
Schrieb ich: Drache?
Ein Löwe war’s, der dem Gebäude seinen Namen gab, weil er davor stand, auf freier Steinebene, erhoben auf einem allerdings niedrigen Marmorsockel. Der war nicht mehr als sechzig Zentimeter hoch. Ein Löwe – und viele verwechselten ihn nur allzu gern mit ihr, die hinter ihm lebte und herrschte, auch wenn er ein Männchen war, zwei Menschen hoch, aus massivem Metall unter grünem Acetat, die rechte Pranke zum Schlag erhoben, eine Schlange, das Maul noch weiter aufgerissen als er, unter der linken Pranke bereits zu Boden gedrückt, schuppig, scharfe Gesichtszüge, kalt glotzende Augen im Gegensatz zu seinen feurigen, und unter ihm sowie hinten, unter seinem Schweif, der lebendiger wirkte als das schon fast besiegte Reptil, hockten zwei Löwenjunge, angstfrei, mit etwas knautschigen, eher neugierigen als niedlichen Gesichtern.
Die kleinen Katzen, das waren wir.
»Die Figurengruppe hat einmal in Berlin gestanden, einer alten Hauptstadt eines alten Staates auf der Erde, vor einem Gerichtsgebäude«, erklärte mir mein Vater bei Portwein an einem der Kaminfeuer im obersten Stockwerk, wo er mitunter Monate verbrachte. »Und zum Richten und Verurteilen passt es ja. Aber da wir die alte Gewaltenteilung überarbeitet haben und die Macht einerseits stärker bündeln, andererseits klüger zergliedern, in funktionale Arme, passt es auch zu diesem Haus. Jedenfalls ist es symbolische Kunst und gefällt uns deshalb natürlich besser als Statuen von Laukkanen oder ähnliche Abartigkeiten.«
Damals hielt sich die kleine Schicht der obersten Delegierten allerhand darauf zugute, dass man sich nicht in Standbildern verewigen ließ, nicht mit großem Kopf auf Transparenten hing – sosehr die Propaganda visuell vermittelt war, in Gestalt von Bannern, Laufbändern, Filmen, auf denen aber immer Menschen oder D/ zu sehen waren, die niemand Bestimmtes darstellen sollten, sondern »uns alle«.
Personenkult, hatte Laukkanen gelehrt, war unnütz: »Denkmäler ziehen nur Tauben an, wir sind unsere Energie Besserem schuldig als der Arbeit, sie sauber zu halten.«
Eine Weile war das ein Laukkanen-Lieblingssatz Christensens.
Nach 554 hörte man ihn seltener. Und ab dem Moment der Mobilmachung gegen Samito wurde er von kürzeren Sätzen verdrängt, vor allem dem bekanntesten: »Venus siegt!«
Schon 550, das war einer der vielen Widersprüche unseres damaligen Lebens, stand das erste Doppeldenkmal im großen Park von Psargent, zwischen den Mehrfachhimmeln des Katenoiden, direkt unter der Zilienmündung von Aton, im Hain von Flintstadt: Laukkanen, zweieinhalb Meter groß, gibt Christensen, ebenso hoch, die Hand, und auf dem Sockel steht: »Eine hat es aufgebaut, eine hat es gerettet: das Bundwerk.«
So sollten wir’s nennen, das Standbild, »Bundwerkdenkmal«, als könnte man allein mit einem Namen erreichen, dass etwas nicht Personenkult war, das zwei Personen zeigte.
Ich sah die Chefin nicht selten.
Ich kann von ihr erzählen, aber ich weiß nicht, ob das viel erhellt.
Leona Christensen sah ungeschminkt merklich blasser aus als mit Make-up.
Sie hatte Sommersprossen auf den Armen. Manchmal trug sie feminine Kleidung, etwa eine flaschengrüne Bluse, deren beide obersten Knöpfe sie geöffnet ließ, wenn’s warm genug war, oder ein Armband aus blauen Mineralien, gefunden in den Minen von Gula Mons, oder ein Top mit minoisch-kretischen Mustern, von einem goldenen Reifen zusammengehalten. Sie hatte Ohrringe im oberen linken Ohrenrand, die man in offiziellen Filmen, auf offiziellen Fotos oft nicht sieht, einer golden, einer silbern, es kann auch Platin gewesen sein. An einem Halsband aus dunkelbraunem Leder hing ein metallischer Vogel, ein Phönix wohl. Nicht immer trug sie den. Ihr rechter Oberarm war tätowiert, es handelte sich um eine Kategorienpfeilgraphik, ich sah das selten, meist hielt sie die Arme bedeckt, zumindest die Schultern und alles bis zum Ellenbogen. Ihre Nase war hübsch, man kennt die Gedichte, Lieder, Witze darüber: klein, nicht zu klein, frech.
Ihr rotes Haar: Rost, sagte mein Vater einmal, alter Industrierost, der Rost der Ehre, des Aufbaus, der nötig war. Nie riskierte sie zu dunklen Lippenstift, sie wusste, dass ihre natürliche seerosenblasse Lippenfarbe ein Reiz war, den Kosmetik betonen, nicht verstecken sollte. Sie war der fleißigste Mensch, dem ich je begegnet bin.
Nie hat sie sich in meiner Gegenwart gehenlassen, nie auch erfuhr ich von anderen, sie wäre ihnen gegenüber ausfällig geworden oder sie sei verzweifelt, auch in den abgründigsten Stunden nicht. Nur äußerst selten überhaupt erhob sie ihre Stimme. Das heißt nicht, dass sie umgekehrt etwa einschläfernd geredet hätte. Es war Melodie darin, wenn sie sprach, die Leidenschaften waren zu erahnen, das Interesse an den Gegenständen war nicht zu verkennen, aber ohne Hass, wenn auch der Wortwahl nach manchmal sehr deutlich, ja grob, gerade dann, wenn alle Augen im Raum auf sie gerichtet waren und in ihren eigenen Augen, dieser grünbraunen Tiefe, nach Antworten suchten. Lakonie lag ihr.
Ob es um Luftströmungen an Vulkanhängen ging, die unsere Venuswindzirkulation beeinflussten, um Truppenbewegungen im lunaren Orbit nahe der Erde oder um einen Literaturpreis des Magistrats von Flintstadt: Nie erschien sie unvorbereitet, nie verfiel sie in die Unart so vieler Funktionärinnen und Amtswalter, die ich damals erleben musste, sich während einer Besprechung erst die relevanten Informationen heimlich vors Innenauge zu rufen und dann so zu tun, als habe man, was man eben erst erfährt, bereits reiflich erwogen.
Das sind, denke ich, die positiven Dinge, die ich über Leona Christensen zu sagen weiß.
Dass sie nichts Neues bringen, dass sie einerseits keiner der hagiographischen Darstellungen widersprechen, die das Regime damals selbst in Umlauf setzte, und andererseits nur mit den extremsten Behauptungen von Kritikern und Hassern kollidieren, die man bis heute kennenlernen kann, dafür kann ich nichts.
Falsch ist, was manchmal gesagt wird: sie habe zur Rachsucht und zu Wutanfällen geneigt, sie sei manisch-depressiv gewesen, paranoid, habe die meiste Zeit unter Drogen gestanden. Dass ich dem widerspreche, will ich gern verantworten.
Was ich gesehen und gehört habe, das habe ich gesehen und gehört.
Das Wichtige an dieser Frau, denke ich, war im Guten wie im Bösen nie verborgen. Sie stand damals in ihren späten Sechzigern, bei einer mittleren venusischen Lebenserwartung von etwa hundertsiebzig Jahren alter irdischer Rechnung, selbst bei Leuten, die keinen Ja durchgemacht hatten.
So hatte sie die Zeit, die man damals »Die besten Jahre« nannte, unzweifelhaft noch vor sich, stand ja auch kurz vor ihren wichtigsten Leistungen, die ich noch immer in zwei Gruppen teilen würde: Zuerst gab es da die beispiellosen Verbrechen, für die man sie verabscheuen kann, weil sie die Unschuld des Bundwerks, das Strahlende, den Aufbruch daran und darin erwürgten. Das andere aber ist die Bewältigung der Aufgabe, die ihr ohne Verdienst zufiel, die sie aber besser meisterte als alle anderen, denen diese Aufgabe hätte übertragen werden können, sie gemeistert hätten: die Verteidigung, die Bewahrung nicht allein des Bundwerks als vielmehr überhaupt des Planeten Venus.
Beides hat in gewisser Weise übermenschliche, jedenfalls überlebensgroße Dimensionen, denen ich kaum gerecht werden kann, wenn ich nur erzähle, wie ich Christensens Arbeitsgewohnheiten als Gehilfe ihrer Gehilfen während der mittleren und späten vierziger, dann der frühen bis mittleren fünfziger Jahre erlebt habe.
Vielleicht aber kann diese Erzählung zumindest der Verhimmelung und Dämonisierung, zwei Fehler, die nicht nur ihr, sondern auch dem Andenken an ihre Opfer Unrecht tun, etwas Nützliches, weil Wirklichkeitsnahes entgegensetzen.
Ihr Arbeitstag begann deutlich früher als bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Künstlerinnen und Künstlern, deren Bekanntschaft ich in Le Jeu und später in Rhinoclavis gemacht hatte. Christensen wurde zwischen neun und elf Uhr morgens aktiv, also früher als jene Leute, aber auch gute drei bis fünf Stunden später als der Rest der im Katzenhaus Wohnhaften oder auch nur Beschäftigten.
Dafür missachtete sie die unausgesprochene Regel, die zwischen fünf und neun Uhr abends die meisten ihrer Leute aus ihren jeweiligen Tätigkeiten entließ. Jeden Tag fuhr sie bis in die späte Nacht, ja nicht selten bis in die frühen Morgenstunden fort, sich zu unterrichten, mit anderen zu beraten, Entscheidungen, Vorhaben oder einfach Proklamationen in die Frames zu verabschieden oder Modifikationen an ihrer eigenen Écumenkonfiguration vorzunehmen beziehungsweise vornehmen zu lassen.
Ihr Arbeitstag währte also zwischen zehn oder zwölf bis zu fünfzehn Stunden. Wenn jemand, etwa mein Vater, sie ansprach, um ihr mitzuteilen, dass sie damit Raubbau an sich selbst trieb, antwortete sie gerne mit klassischen Zitaten wie »I’ll sleep when I’m dead«, »le travail, c’est moi« oder – mein gesprochenes Russisch war nie gut, man verzeihe eventuelle Umschriftfehler – »Rabota ne wolk, we les ne rubeschit«, also etwas wie: Die Arbeit ist kein Wolf, der in den Wald davonrennt.
Ein- bis zweimal pro Woche gab es sogenannte »ruhige Abendessen« in ihrem nicht allzu protzigen Apartment im siebten Stock des Haupthauses, fünf Zimmer, hoch und groß, aber dem Luxus abhold. Ich nahm daran etwa alle vier Monate teil, also drei- bis viermal im Jahr. Bei diesen informellen Treffen war meist etwa ein halbes Dutzend Personen zugegen, darunter etwa ein Drittel, also meist ungefähr zwei, entweder kompakte D/ oder Projektionen einflussreicher K/.
Als eine Art Demonstration der inoffiziellen Losung »Wir halten viel aus« (der Satz wird in der einschlägigen Literatur Christensen zugeschrieben; sie kann ihn aber auch zitiert haben, ich weiß nur nicht, was die Quelle ist) wurde bei diesen Zusammenkünften oft hochprozentiger, rauchiger Alkohol, »Flugzeugtreibstoff aus der Industriezeit« (mein Vater), getrunken, ein Zeug, das Menschen mit absolviertem Ja natürlich in größeren Quantitäten vertrugen als die alten Haudegen und Schlachtrösser aus der Zeit der Konstituierung des D=B=K. Ich habe mir sagen lassen, dass Christensen ihre Gäste dabei zu täuschen pflegte: Sie hielt sich, während jene sechzig- oder siebzigprozentigen Schnaps konsumierten, an milden Wein von den Hängen unserer stilleren Vulkane, was mir ihr Küchenchef einmal augenzwinkernd damit erklärte, dass sie »klar bleiben will, während sich die Verschwörer verraten«.
Daran wird etwas Wahres sein.
Bei meinem zweiten Abendessen in Christensens Privaträumen war mein Vater gegen Ende der Geselligkeit so betrunken, dass er vor Christensen eine junge Schriftstellerin in den Himmel hob, mit der ihm eine Affäre nachgesagt wurde. Die Frau schrieb wirklich nicht übel. Auf der Erde ist sie nie sonderlich bekannt geworden, Übersetzungen ihrer meist auf Französisch verfassten Werke aber habe ich selbst in den hiesigen lokalen Netzen gefunden; es handelt sich um Sasha Claremont.
Mein Vater wusste ganze Passagen ihres jüngsten Erzählungsbandes auswendig, der von den großen landwirtschaftlichen D-Einrichtungen der Gegend zwischen Sogolon Planitia und Gegute Tessera handelte und von den Segnungen, welche die Große Integration dort hervorgebracht hatte. Arthur Helander beeindruckte uns an jenem Abend mit kaum verwaschenen Rezitationen ihrer Lobgesänge auf Weizenfelder, Ährenpracht, auf die D/, die von den Menschen Fußball und Feldhockey gelernt hatten, ja mit ihnen sogar, als eine Art flinker mechanischer Pferde, Polotourniere bestritten. »Der Glanz dieser Panzerung ist der Glanz eines aufgehenden Sterns!«, zitierte mein Vater und sah aus, als wollte er sich als Nächstes erheben, um einen Trinkspruch auf Claremont auszubringen.
Trinksprüche gab es in der jeweils letzten Dreiviertelstunde solcher Anlässe viele. Aber diese Endphase des Gelages war noch nicht gekommen. Christensen, die bis dahin mit einer unerforschlichen Miene zugehört hatte, hob lässig die rechte Hand, schloss kurz die Augen, hatte damit meines Vaters Begeisterungsaufschwung aber bereits unterbrochen.
Er klappte den Mund zu, sah sein Idol erwartungsvoll und, irre ich nicht, plötzlich auch ein bisschen ängstlich an und hörte die Erste Delegierte sagen: »Ich halte sie für die größte Begabung, die wir derzeit haben.«
Erleichtert bekannte mein Vater: »Nun, ebendas meine ich.«
Christensen nickte, sah aufs Tischtuch, dann wieder hoch, an meinem Vater aber vorbei, gleichsam ins Leere, und sprach: »Ja. Aber diese neue Geschichte von ihr, diese Erlebnisse rund um Sogolon, die Abstecher nach Ovda Regio und Aphrodite Terra – das ist alles ein bisschen schwächer als das Frühere. Vor fünf Jahren hätten wir diese Sachen sofort verfilmt. Heute nicht mehr. Sie hat eine besondere Art, sich für diese Erzählungen zu präparieren, sagst du?«
Mein Vater räusperte sich und erklärte: »Sie hat sich zuerst einen D als Kontaktperson gesucht. Dann hat sie bei dem gewohnt, anspruchslos wie die guten Menschen dort. Hat auf dem Feld mitgearbeitet, hat mit ihnen gespielt in der Freizeit. War auf dem Posten, ein Jahr lang – ein Betrieb, ein Musterbetrieb im Südwesten von Gegute Tessera, an der Sogolon-Schwelle. Hat jedes Detail notiert, alles wiederholt, bis es saß.«
»Nein, nein«, sagte Christensen, nicht aufbrausend, eher resigniert. »So ist das nichts. Man muss sich doch, wenn man schon bereit ist zu reisen, mehrere solcher Betriebe ansehen und dann zusammenfassen, was man erlebt. Erst schauen, dann denken, dann schildern.«
»Du meinst, weil Kunst doch Abstraktion ist?«, schloss mein Vater sich sofort dem an, was Christensen gesagt hatte. Sie brauchte nicht zu nicken, und man wechselte das Thema.
So, denke ich, hat sich mir im Kleinen gezeigt, was man die Entstehung der »Linie« innerhalb des Bundes nennen könnte.
Geschah das stets von oben nach unten?
Aus der Mitte in die Peripherie?
Man betrachte den offiziellen Auftakt jener Ära, in der sich in Christensens Wohnräumen wie Bürozimmern eine ungeheure Macht konzentrieren sollte, nämlich die sogenannte Erste Ermittlung: die über Frames auf ganz Venus von allen einsehbare juristische Verfolgung von Hsü, Singh und allen Menschen – etwa zweihundert –, außerdem D/ – etwa vierzig – sowie zwei K/, die dem »Block von Hsü und Singh« zugerechnet wurden.
Das Wort »Block« wurde, wie viele solcher Wörter, von meinem Vater geprägt.
Die Erste Ermittlung endete blutig: mit umfangreichen Geständnissen, mit Erschießungen und damit, dass einundzwanzig D/ demontiert und die beiden K/ gelöscht wurden.
Niemand war sich damals sicher, ob man die Quellcodes der verurteilten K/ tatsächlich isolieren und alle Kopien ausmerzen konnte. Aber selbst Von Arc legte Zeugnis darüber ab, dass es »nicht im Interesse der Bewohner des Écumen sein kann, überführte Verschwörer zu beherbergen«. Die nach den Löschungen vorgenommenen Tests waren so komplex, dass ihre Struktur das intellektuelle Fassungsvermögen der meisten Coderinnen und Coder überstieg. Über nichts wurde die Bevölkerung des Bundes je ausführlicher informiert als über die Vorgeschichte, die Hintergründe und die Realität jener angeblichen Kabalen, deren Endzweck die Absetzung, ja sogar Ermordung Christensens gewesen sein soll. Man erfuhr täglich drei bis vier Stunden lang Neues darüber, wobei die écumenalen Markierungen der entsprechenden Materialien sicherstellten, dass wir auch Außenpolitisches oder anderweitig eher Entlegenes als diesem Kontext zugehörige Information würdigen konnten.
Dazu werde ich gleich einige Bemerkungen machen.
Interessant jedenfalls schien mir bereits damals, dass jene drei bis vier Stunden täglich auf unser sogenanntes Selbstbestimmungskonto gebucht wurden – interessant und ein schlechtes Zeichen. Es gab, wie man weiß, damals für alle und alles Zeitbudgets, bei denen, wenn man nicht im oberen Bunddienst beschäftigt, also nur im zwölften Grad oder darunter delegiert oder gar kein Vollmitglied war, etwa fünf Stunden täglich für produktive Arbeit, weitere fünf aber für das vorgesehen waren, was Laukkanen die »Einübung der umfassenden Demokratie und Autonomie« genannt hatte.
An den politischen Entscheidungsfindungen und der Umsetzung dabei gefasster Beschlüsse mitzuwirken war Pflicht, der Bezug von Energie und Information praktisch unmöglich, wenn man die nötigen Buchungen nicht täglich und routinemäßig vornahm.
Zu den Dingen, denen man sich in der politischen Zeit widmete, gehörte der Umgang (oft automatisiert) niederer mit höheren Delegierten, bei denen man Anfragen oder Eingaben machen konnte, der Erwerb und die Erneuerung von Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge, in denen man stand (für wen arbeite ich, was arbeite ich, wer arbeitet für mich?). Dazu gehörte aber auch die Teilnahme an Abstimmungen – und schließlich, anfangs etwa eine Stunde, also gut ein Fünftel, direkt Organisatorisches, wozu die Ermittlung über den bundfeindlichen Block von Anfang an gezählt wurde.
Christensen hatte, das soll ihr nicht vergessen sein, zwei Jahre vor der Ermittlung das Arbeitskonto sogar um eine Viertelstunde verringert, das Selbstbestimmungskonto aber um denselben Betrag verlängert, eine unbestreitbare Stärkung der Framedemokratie.
Diese Maßnahme wurde dann immer wieder mal zurückgenommen, ein andermal wieder angeordnet – die Sache fluktuierte.
CC, Anklagebehörde und schließlich (als auch ein »bewaffneter Arm« der Verschwörung entdeckt wurde, der bis tief ins von Vuletic mitbegründete und von seinem Anhang noch lange durchsetzte Militär reichte) Armeegerichte flaggten während der Ermittlungszeit alle möglichen Dossiers, Meldungen und Protokolle als zum Prozessgeschehen gehörig aus.
Dieses Vorgehen blähte die Prozessdaten und die Zwischenabstimmungen schließlich so sehr auf, dass der Vorgang nach einer Weile den, nun ja: Löwenanteil unserer Selbstbestimmungszeit belegte.
Während anfangs durch eher subtile Operationen (wie etwa ein plötzliches Ausdünnen anderer, zum Beispiel kommunalkultureller Meldungen) sichergestellt wurde, dass sich auch wirklich alle Menschen, D/ und K/ mit der Ausforschung und Aburteilung der Bezichtigten beschäftigten, wurde es, als schließlich die Urteilsfindungsphase eingeleitet war, ganz einfach zum obligatorischen Dienst am Bundwerk erklärt, auf Beschluss des Dreierrats, der damals aus Kâlidâsa, meinem Vater und Bathnagar bestand.
Offiziell war dieser Rat ein Kontrollgremium, das Christensens Arbeit beaufsichtigte, real aber, und nicht nur intern im Katzenhaus, kannte man ihn als »Lilys Gesangverein«.
Ich will nicht bestreiten, dass vieles, was wir im Zuge der Ersten Ermittlung erfuhren, die große Politik tatsächlich in ein Relief hob, das erheblich zerklüfteter wirkte, als uns diese Landschaft zuvor erschienen war.
Manches, das man schon gewusst hatte, erhielt einen neuen Kontext: Hatte sich nicht schon Maren Laukkanen in den mittleren Dreißigern darüber beschwert, dass die Werbung für »mehr Vielfalt der Verfahren im Umgang mit den D/«, die Singh und Hsü damals intensiv betrieben, auf »bundschädigende fraktionelle Tätigkeit« hinauslief? Und war das, was sie damit meinte, nicht wirklich eine seltsame Schaukelpolitik vor allem der Hsü-Leute gewesen, die den D/ einmal empfahlen, sie sollten »gewerkschaftliche Verbände als Vorstufe ihrer späteren Eingliederung in den D=B=K bilden«, anderntags aber davon redeten, man müsse »nicht durch leere formelle Gleichstellungsanträge hinsichtlich der angestrebten Augenhöhe zwischen uns, den Robotern und den freien denkenden Codes die konkreten Erfordernisse der Aufbauarbeit vernachlässigen«?
Im Innern unserer Organisation hatte es also schon lange Haarrisse, vielleicht echte Sollbruchstellen gegeben. Im Äußeren aber, lernte ich während der Ermittlungszeit, lauerten die wahren Gefahren, wie Christensen selbst in einer aufsehenerregenden Zeugenaussage vor dem zentralen Framegericht mit so zuvor nicht gewagter Deutlichkeit bekanntgab: »Wir befinden uns in einem zähen, langen Kampf, von dem manche sagen: Da wird um das Nichts gekämpft. Mit ›Nichts‹ meinen sie den freien Leerraum. Etwa ein Drittel unserer Wirtschaftskraft – das wissen wenige, nein: Es wissen viele, aber sie wissen nicht, was es bedeutet –, etwa ein Drittel unserer Wirtschaftskraft ist in Gestalt von Raumschiffen oder Habitaten außerhalb von Venus gebunden. Um die Bewegungsfreiheit, um die Handelswege, um die Handelsbeziehungen mit Monden der großen Planeten kämpfen wir heute – mit dem FAKTOR, einer Organisation, einer Form des Wirtschaftens, deren Nachteile für alle denkenden Wesen im Sonnensystem echte Bedrohungen sind, verderblich auf eine Art, die weit über die verrückten Launen des Herrn Arjen Samito hinausreicht, der diese Organisation auf der Erde gegründet hat, sie aber jetzt im ganzen System zu verbreiten sucht. Zwölf der fast siebzig Jupitermonde, also ein Viertel der bewohnten und bewirtschafteten, rechnen sich bereits dem FAKTOR zu, außerdem gut die Hälfte der bis jetzt mit Besitztiteln belegten Asteroiden. Das sind Rohstoffe, das ist Eis, das ist Wasser. Um den noch von niemandem beanspruchten Rest, nun, sagen wir es kindlich: balgen wir uns, wenn auch noch nicht militärisch, teils mit den D/ vom Merkur – ich weiß, sie nennen sich anders –, teils mit Samitos Leuten. Manchmal sieht es bereits so aus, als wäre Sonolumina, die K, die … wie soll man sagen … die photonische Intelligenz, man hat dort ja Lichtrechner … also, die kluge Lenkerin des Nordmars, der hegemonialen politischen Macht auf dem roten Planeten … also: Manchmal sieht es so aus, als wäre Sonolumina unsere einzige zuverlässige Handelspartnerin, obwohl man in ihrer … Einflusssphäre doch eher auf eine Art von archaischem Liberalismus setzt, die unterm informatischen Gesichtspunkt äußerst verschwenderisch ist, als auf irgendetwas, das dem Bundwerk verwandt ist. Sonoluminas Sprecher – sie selbst kommuniziert nicht mehr mittels Sprache –, der sehr ehrenwerte und hochvernünftige Suleyman Székely, ist, wie ihr wisst, augenscheinlich bereit, die Differenzen der verschiedenen Gesellschaftsmodelle, die im Sonnensystem bestehen, hintanzustellen, damit wir den Großraum um die Sonne nicht so beschämend ruinieren, wie unsere Vorfahrinnen und Vorfahren die Erde ruiniert haben. Samito aber hat den Kampf um die Freiraumressourcen, um die Märkte für diejenigen Teile unserer Software, die sich auch auf Photonik implementieren lassen und also nicht auf den Schaum angewiesen sind, in eine neue, antagonistische, sehr aggressive und bedrohliche Phase geführt. Der alte Freihandel ist so gut wie vernichtet. Wir finden nun Schutzzölle, wir finden regelrechte Handelskriege, wir sehen uns einem Ringen um Rechenzeit ausgesetzt, das uralten Valutakonflikten auf der Erde in nichts nachsteht. Samito betreibt Rechenzeitdumping, wo er kann, und holt die Verluste über die Erpressung bereits abhängiger Asteroiden wieder rein. Sein Terrazentrismus macht auf die schlimmste Art Schule: Schon mehren sich die Stimmen auf dem Südmars, man solle doch marsautonomer arbeiten, als Sonolumina das tut, und auch auf dem Merkur regt sich Chauvinismus. Die Voraussetzungen für einen interplanetaren Krieg sind fast da. Sie reifen täglich deutlicher heran. Samito rüstet, seine Jupitermonde, sein Saturnmond – ich meine Mimas, wenn man dort auch noch nicht offen dem FAKTOR beigetreten ist –, sie werden zu riesigen Werften, was etwa unsere Freunde auf Encheladus, die wohl mutigsten D/ im äußeren System, dazu zwingt, einen erklecklichen Teil ihres begrenzten produktiven Zeitvermögens für Verteidigungsmaßnahmen herzugeben. Und was zeigen uns nun unsere Ermittlungen gegen Hsü und Singh? Sie zeigen uns, dass D/, die zur Fabrikationsreihe Scholastica gehören, einer Gruppe, zu der Hsü seit Jahren beste Beziehungen unterhält, im Asteroidengürtel regelmäßige Rohstoffbörsen mit den D/ von Durrell abhalten, bei denen mittelbar auch FAKTOR-Fonds Investitionen und Geschäfte tätigen. Wie sollen wir das bewerten, vor dem Hintergrund der Lage? Ist das nicht Kollaboration mit dem möglichen Kriegsgegner? Ist das nicht Verrat?«
Das Beispiel der »Affäre Durrell« war natürlich höchst bewusst gewählt.
Auf jenem kalten Stein nämlich hockte Edmund Vuletic und hatte mit den betreffenden Börsen wahrscheinlich gar nicht allzu viel zu tun. Es gab Tausende solcher Börsen im Hauptgürtel. Aber die Anekdote machte natürlich Eindruck, weshalb auch mein Vater damit spielte, ja: zündelte.
Bei einer Ansprache vor jungen Toposcodern in Behrens, die zu den wenigen Spuren seiner damaligen Tätigkeit gehört, die man auch hier und jetzt in historischen Dokumentationen findet, sagte er: »Da sitzt er jetzt also bei den Spekulanten, wie er früher in der Loge im Theater oder am langen Tisch im Plenum saß. Ich sehe ihn noch mit dem Stuhl kippeln, und ich erinnere mich, wie Leute damals sagten, sein Blick sei stets nach innen gerichtet. Es heißt, da habe er Romane von Flaubert und Balzac gelesen. Das trugen mir Hsü und Singh zu, zwei Männer, die ihn immerhin kannten, mit denen er so manchen Antrag formuliert und durchgebracht hat, darunter verdienstvolle. Ich habe ihn damals verteidigt: Was soll’s, immerhin mischt er sich nicht ein, wenn es ihn nicht interessiert, was stört’s? Natürlich gefiel mir, dass er der alten Literatur zugeneigt war. Viele der Älteren werden sich noch erinnern, dass ich damals meine liebe Not damit hatte, die Parole Laukkanens populär zu machen, wonach man das große Erbe nicht verwerfen, sondern in Besitz nehmen sollte. Es gab diese alberne Mode, den Ishtarismus, heute kaum der Rede wert, damals von vielen unserer Literaturschaffenden und sonstigen Kunstleuten heißen Herzens verteidigt: Nichts sollten wir lesen, hören, betrachten, das nicht auf Venus geschaffen worden war. Ein kopfloser Radikalismus, von dem sich Vuletic positiv abhob. Aber im Nachhinein muss ich doch auch sagen: Es hätte mich misstrauischer machen müssen, dass er erst auf den Sitzungen dazu kam, diese wertvollen, guten, alten Sachen zu lesen – hätte er sie nicht vorher lesen müssen, um, erfüllt von ihrem Geist, umso bessere Vorschläge zu machen? Ich hoffe, er ist diesmal besser vorbereitet. Er schickt Depeschen, nicht wahr, er schickt Konterbande, Kassiber, manchmal fällt uns so etwas in die Hände, auch in den Datenbanken von Vasaj, dem verräterischen K, der, wie man inzwischen weiß, mit Singh als Waffenschmuggler, als Dieb aus Arsenalen unserer Armee, wesentlichen Anteil an der Vorbereitung der Bluttat von Rhinoclavis hatte … auch in dessen Speichern fand man Hetze von Vuletic, der sich jetzt als moralischer Richter geriert, der uns jetzt sogar vorhält, die Große Integration sei ein Massenverbrechen gewesen, der uns die Abrechnung mit dem Block vorhält … Nun, lasst mich ihm sagen, Freundinnen und Freunde, der Klumpen, auf dem er jetzt residiert, ist nach einem Schriftsteller benannt, einem der irdischen, wie er sie schätzte, einem großen Mann, Lawrence Durrell, ein bedeutender Epiker, ausgezeichneter Lyriker. Und was die Zukunft unseres Ethikers Vuletic angeht, der von dort aus so sicher weiß, was wir hätten tun sollen und was wir hätten lassen sollen, die Zukunft dieses Mannes, der uns Schuldige am Untergang von Laukkanens Vision nennt, der uns mit Schande überhäuft, uns Mörder und Lügner nennt, der uns die Ungerechten schimpft und glaubt, im Recht zu sein – lasst mich ihm sagen, was Lawrence Durrell für ihn dichtete:
Be silent, old frog.
Let God compound the issue as he must,
And dog eat dog
Unto the final desecration of man’s dust.
The just will be devoured by the unjust.«
Arthur Helander kannte seinen Feind gut: Vuletic muss sich sehr geärgert haben, denn er ließ sich eine Entgegnung einfallen, die freilich nicht allzu weite Verbreitung fand, weil sie sofort zu Verwarnungen und Durchsuchungen führte, wenn Garben der CC den Text in Frameschnittstellen niederer Delegierter oder gar einfacher, nicht im D=B=K organisierter Bürger fanden: »Was Helanders schäbiger Sarkasmus bemänteln soll, ist seine eigene Würdelosigkeit. Ich soll ein Börsianer sein? Das macht Effekt, da lacht man – und es klingt weniger pathetisch, es ist lustiger als die Wahrheit, die da lautet: Christensen und Bathnagar und Helander sind die Verschwörer! Nicht der unglückliche Singh und der närrische Hsü! Nein, Christensen und Bathnagar und Helander – seht sie euch an! Haben sie nicht selbst ihr sogenanntes Laukkanen-Aufgebot praktisch rückgängig gemacht? Bei den Verhaftungen und den Demontagen nach dem Verbrechen von Rhinoclavis wurde die Mehrheit jener D/, die auf dem letzten Plenum in höheren Graden vertreten waren, wieder aus dem Bund genommen und zum großen Teil stillgelegt, das heißt: getötet – bis zu achtzig Prozent. Ist es das, was der Lügner, der hier ausnahmsweise einmal die Wahrheit spricht, mit seinem kryptischen Zitat meint? Sind jene ehemals erwünschten Roboter, die man jetzt zerschlägt und verschrottet, sind sie die Gerechten, die in Durrells letzter Verszeile von den Ungerechten verschlungen werden?«
Ich erinnere mich an einen jungen Mann aus dem 16. Agrikulturarbeitskreis für die Gewächshäuser in Flintstadt. Diesem Arbeitskreis stand ich eine Weile vor, der Bursche war einer meiner Lieblingsmitarbeiter. Er kam aus den Tälern, hatte mit D/ gearbeitet – und seine Reaktion auf Vuletics Selbstverteidigungsversuch war für die Jugend typisch: Er lachte.
Das heißt, er fand Vuletics Polemik läppisch: »Achtzig Prozent, aber was heißt das? Es haben sich eben viele destruktive Elemente das Aufgebot zunutze gemacht. Hätte es deshalb unterbleiben sollen? Ihm gefällt unsere Selbstheilung nicht. Warum? Weil wir dabei die letzten verbliebenen Vuleticisten finden und loswerden, deshalb.«
Diese Unterhaltung fand in der großen Kantine des Katzenhauses statt, die bis zu dreitausend Leute auf einmal fasste und selten zu mehr als einem Drittel leer stand.
Ich weiß noch, wie ich nach ein paar Wochen dachte: Das ist eine kluge Auslastung der Räume, geschickt statistisch berechnet; hier sind zu jeder Tages- und Nachtzeit mehr Leute anwesend, als eigentlich in die Büros passen.
In diesem Saal sah ich schließlich Aulika Torres wieder.
Ich erkannte sie aus der Ferne, mehrere Reihen weit weg: Das schneeweiße Fell war unverwechselbar, die Körperhaltung verriet Stolz, sie war also entweder neu im Bund oder aus einer früheren Position in einen höheren Delegiertenrang aufgestiegen. Ich hatte damals in Rhinoclavis nicht nach ihrem Status gefragt und dachte jetzt: nicht schlecht für einen Neukörper, in diesen Zeiten ins Katzenhaus vorzudringen, wo doch das Misstrauen ebenso wie das Mitleid, zwei Regungen, die ihresgleichen nach dem Rhinoclavisschrecken zuteilwurden, zu jener Zeit beide auf dem Höhepunkt waren und ihre ausgrenzende Wirkung taten. Als ich Aulika das dritte Mal im Speisesaal sah, ging ich zu ihr und fand sofort herzliche Aufnahme in ihrer kleinen Gruppe, in der zwei weitere, allerdings äußerlich nicht auffällige Neukörper – wohl mit verbesserten Schnittstellen und einem hohen Anteil Écumen am Bewusstsein, sozusagen zwei Drittel Mensch, ein Drittel K – und zwei gewöhnliche Menschen auf Stammplätzen an einem der blauen Tische saßen.
»Ich bin froh, dass du hier bist. Und dass du lebst«, sagte ich schlicht.
»Sogar mein Kind lebt«, bestätigte sie. »Deine Nichte.«
Sofort überspielte sie mir ohne großes Kennungszeremoniell ein paar Bilder und Filmchen von dem dreijährigen Mädchen, das ganz wie ein Mensch aussah, abgesehen von den goldenen Augen, mit denen sie, so Aulika, »direkt in den Écumen schauen« konnte, und zwar »sehr tief. Auch Texte sieht sie, die liest sie schon, außerdem direkte Toposcoding-Pfeilbilder, sie schickt mir immer wieder welche, ist jetzt gerade in der Kinderkrippe, die’s hier im zweiten Stock gibt«.
Wir unterhielten uns ein Weilchen miteinander, erst im Gedenken an meinen Bruder, den ich nie gut genug kennengelernt hatte, dann über meinen und ihren Berufsalltag, schließlich über das Leben in Aton, wo ich mich ganz gut eingerichtet hatte, und in Psargent, wo sie selbst lebte. Ich muss wohl eine Bemerkung gemacht haben, die ihr suggerierte, ich ginge davon aus, sie lebe noch in Rhinoclavis und sei nur zu Besuch hier. Aulika klärte mich auf:
»Wir wohnen ganz in der Nähe. Psargent. Es ist eine neue Art Gemeinschaftswohnen. Wir sind sieben Leute, ein Paar, das ein Kind hat, dann ich und meine Tochter, und zwei sind alleinstehend.« Man liebte kompliziert, wie ich aus anderem schloss, das sie sagte und nicht sagte. Jedenfalls waren alle in diesem Quartier Bundleute und alle oberhalb des achten Grades. »Elite also«, sagte ich. Aulika lachte und erwiderte: »Im Moment bin ich ständig hier im Katzenhaus. Lebe hier. Ich betreue Gäste vom Mars – einen wirst du vielleicht noch treffen, Schriftsteller, ursprünglich Flüchtling von der Erde, bei Sonolumina ganz gut untergekommen.«
Ich wusste, von wem sie redete: »Itoh Martens.«
»Ganz recht. Du kennst seine Arbeit?«
»Einen Roman – das historische Ding über Königin Elizabeth und Shakespeare.«
»Ah, ›Ein bös Gestirn‹, ja, das ist das beste. Er will jetzt über uns schreiben. Es gibt einen Markt auf dem Nordmars für so was, seit Székely angekündigt hat, mit uns in engeren wirtschaftlichen und wohl auch militärischen Austausch zu treten. Es könnte eine Allianz draus werden, die wir, wenn Samito weiter expandiert, dringend werden brauchen können.«
Da sie jetzt wieder zur Arbeit musste, umarmten wir uns etwas länger, als bloße Kameradschaft geboten hätte.
Nachdem sie fort war, setzte ich mich noch einmal, um meine Suppe fertig zu essen – und sah dabei im peripheren Sehfeld einen Fetzen Orange, eine Kante Schwarz, einen Schriftzug: »Fair« und rotblondes Haar, etwa drei Bankreihen weit weg. Ich spürte, dass sich mir ein kleiner, spitzer Stich ins Herz schob und ich zusammenzuckte: Von Arc in der Katzenhauskantine?
Ein Avatar, eine D-Hülle? War das nicht eine längst abgetane K-Mode aus der allerersten Zeit nach der Vertreibung der Verwelter? Ich löffelte meine Brühe und fürchtete, sie hätte mich auch gesehen, würde mich anrufen. Dann hatte ich plötzlich eine andere Angst: War das, was ich gesehen hatte, eine Illusion wie in Rhinoclavis, Vorzeichen für etwas ebenso Schlimmes wie das, was damals passiert war?
Ich senkte den Blick und dachte: Geschieht mir recht, dass sie mich so überrascht, wenn sie’s denn ist. Warum hatte ich auch nie wieder versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen? Anfangs, sicher, war’s pure Angst gewesen: Sie hatte mich vorgewarnt, das heißt, sie hat was gewusst, und von wem wohl? Dann, in Flintstadt angekommen, lebte ich in einem Zwiespalt: Würde ich mich in Schwierigkeiten bringen, wenn ich mich bei ihr meldete? War es nicht besser abzuwarten, ob die Ermittlung wirklich auf Hsü, Singh und ihre Zusammenhänge begrenzt bleiben würde?
Schließlich hatte ich es einfach vergessen, nun ja: verdrängt.
Als meine Mahlzeit beendet war, stand ich auf und suchte erst mit unbewaffnetem Auge, dann mit Filtern und Linsen den Saal ab – keine Spur von der Mehrdeutigen.
Die Arbeit nahm an diesem Tag noch etwa drei Stunden in Anspruch.
Der Heimweg, teils per Inertial, teils zu Fuß, stand ganz im Zeichen einer verbissenen Reflexion der Frage, ob es wohl sinnvoll sein mochte, den lang hinausgezögerten Anruf jetzt doch zu riskieren. Als ich in mein Wohn- und Schlafzimmer trat, nur drei Stockwerke über der längsten Straße im Süden von Aton, fühlte ich mich schwer und träge.
Angezogen fiel ich aufs Bett, bäuchlings, nicht einmal die Stiefel zog ich aus, obwohl es in meiner Wohnung warm war und in Aton – wie in Flintstadt insgesamt – nicht allzu kalt, spätsommerlich sogar, seit zwei venusischen Sonnenaufgängen.
Ich drehte mich auf den Rücken und dachte: Jetzt weiß ich, warum man von psychischer Energie spricht – etwas anderes konnte ich ja nicht verausgabt haben.
Ich rief Von Arc an.