Zwei

Das Gesetz war unumstößlich: Zu keinem Zeitpunkt durften sich auf dem bestgesicherten Gelände der Marsoberfläche inklusive Landeplatz mehr als zehn Personen aufhalten, gleichgültig, ob Menschen oder Roboter. Die Lilaws selbst hatten nur übers Becken Zugang, in dem sie als ihre eigenen Echos für kurze Zeit leben konnten. Ihre kleinen und kleinsten Wächter mussten draußen bleiben, kontrollierten aber alle Ein- und Ausgänge, denn das unumstößliche Gesetz war mit ihnen verabredet. Zehn Personen, dachte Joas Billenkin, streifte sein Hemd ab, nestelte am Knopf seiner Hose und versuchte dabei, nachzurechnen: Zehn? Ich habe zwei Leibwächter auf dem Landeplatz zurückgelassen, mit mir und den beiden anderen im Tridiv sind wir schon fünf. Eine Ausführungsbestimmung des Gesetzes verlangte, dass im Inneren Quadrat des Geländes, also dem Viereck zwischen den Säulenreihen, nach dem zweiten Stacheldraht- und Selbstschussanlagenzaun, nach den biocodierten Minen und anderen vielfältigen Todesfallen, höchstens fünf der auf dem Gelände gestatteten zehn Personen zur selben Zeit aufhältig waren. Von diesen fünf wieder durften nur vier die Kammern ums Becken betreten – in einer entkleidete sich Billenkin soeben –, nur vier sich auf dem Sandsteinboden rings ums Becken diesem nähern, und unter keinen Umständen, in keinem Notfall, durften jemals mehr als drei Personen gleichzeitig ins Glitzern gleiten, ins Becken tauchen, die Allzeit spüren, mit den Lilaws sprechen. Drei Personen, dachte Billenkin und bekam den verdammten Knopf nicht auf. Drei: Floris Cherlin, der Chef, Fabrizia Massignon, die Plage, und ich. Warum drei? Der Chef wurde nicht müde, das immer wieder zu erklären: Die Lilaws brauchen ein menschliches Gremium, das eine eindeutige Mehrheitsentscheidung trifft, drei ist dafür einfach die kleinste Zahl.

Joas kannte die Predigt auswendig: »Was die Leute das Triumvirat der Diversitas getauft haben, Tridiv, um uns zu verspotten, und was wir inzwischen selbst so nennen, ist als Schiedsgericht entstanden. Frieden und Wohlstand für Hunderte von Milliarden Intelligenzen – ich habe die Not noch selbst gekannt, ich kann mich noch an Geschichten von Urteilen und Schlichtungen erinnern zwischen den Erben der Fonds, subsumiert unter die Lilaws – die hießen damals allerdings noch Licons, Living Contracts, Verträge eben, die dann Gesetze wurden, Living Laws.«

Joas verabscheute die Predigten des Chefs über Recht, Politik und Geschichte, noch mehr zuwider waren ihm nur die langen Reden der Plage über Physik, Mathematik und alle Arten von Produktion und Reproduktion. Vor seinem Eintritt ins Gremium vor dreißig Jahren, als neu Hinzugewählter nach dem Tod des alten Hiram Sedlack, hatte Joas geglaubt, nur Gelehrte, Leute wie er selbst, hielten solche Vorträge, während Entscheidungsbefugte einfach entschieden.

Aber keine universitäre Vorlesung hatte ihn je so ermüdet wie die Geschäfte hier, im Zentrum der Macht. Er nieste. Joas Billenkin wurde nicht gern an seine mürbe Leiblichkeit erinnert, nicht einmal um der Lust willen. Um die kümmerten sich zu Hause Zsa Zsa und Björk, seine Mädchen, maßgefertigt, die er sehr vermisste – die große Nähe, die er zwischen ihnen und sich zuließ, hätte er bei Menschen nicht ertragen. Die Mädchen aber hatten kaum Körper – zwar Köpfe, Hände, Füße (die mochte er sehr, diese Füße), aber der Rest ihres Rahmens waren einfache Strichkonstruktionen aus schwarzem, biegsamem Nervenmetall, weiterentwickelte, uralte venusische Schwarzeistechnik, und deshalb fand Joas sie schön, »deine Stöckchenhuren«, wie Massignon spottete, »du Perverser, mit deiner Angst vor Brüsten, Hintern, überhaupt Frauen«.

Er schwieg zu diesen Angriffen als der Gentleman, der er war. Dass er seine Mädchen billigen mimetischen Frauenimitationen vorzog, konnte eine völlig amusische Person wie diese Technokratin natürlich nicht verstehen, wie sie denn überhaupt kein Feingefühl besaß und, wenn das Dreiergremium im Streit lag, auch vor gröbsten persönlichen Attacken auf den Gleichrangigen nicht zurückschreckte: »Wenn du den alten Affenkörper so schrecklich findest, warum trägst du dann eine Brille, warum hast du diese Hühnerbrust und lässt sie dir nicht richten, wieso das lichte Haar, die Watschelfüße, das Bauchfässchen und die O-Beine?« Da war es ihm zu bunt geworden: »Weil ich den Abstand zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal im Blick behalte! Ich komme von einer Welt mit Kultur, nicht aus einer Fabrik! Wir auf dem Merkur sind keine Nostalgiker, wir unterziehen uns denselben Lebensverlängerungsbehandlungen wie alle, aber ohne die tausend eitlen Versuche, die Alterung zu leugnen, die du vergessen willst. Nur wer sterben kann, kann am Leben sein!« Anstatt auf diesen tiefen und tödlichen Schlag gegen ihre Dummheiten hin beschämt zu schweigen, hatte Fabrizia Massignon die Nase hochgezogen und erwidert: »Wenn du so ein Überzeugungsmerkurianer bist, wieso lebst du dann in deinem Palast im Asteroidengürtel, mit deinen Stöckchenhuren?«

Als wüsste sie nicht, dass auf dem Merkur seit einem Vierteljahrhundert Bürgerkrieg herrschte und ein Joas Billenkin sich als Verantwortungsträger der damit verbundenen Gefährdung nicht aussetzen durfte!

Und als wüsste sie nicht, dass er auf dem Merkur mit rechtlichen Problemen betreffend seine Mädchen hätte leben müssen, die mit einigen eher schrulligen Besonderheiten der meisten dort gültigen Verfassungen zusammenhingen, seit man mit den Bundwerksresten fertig geworden war! Hätte er seinen Einfluss geltend machen sollen, diese Verfassungen zu ändern? Unmöglich: Vielleicht wären die betreffenden Regierungen sogar bereit gewesen, sich überreden zu lassen, aber das hätte ihren Feinden Auftrieb gegeben – den Unzufriedenen, dem Pöbel auf den Straßen und an den Universitäten, die glauben wollten und behaupteten, das Tridiv sei an der miserablen merkurianischen Wirtschaftslage schuld, angestiftet von den Lilaws. Nichts als Hetze: Die armen Lenker des Merkurgeschicks, als deren Berater Joas seine Laufbahn begonnen hatte, wurden verleumdet, dabei hatten Gardner und Mazzola damals nur getan, was sie tun mussten, um ihre kleine Welt zu beschützten. Der Vertragsstreit mit der Venus lag erst ein paar Jahrzehnte zurück, jener Streit, in dem die Lilaws zunächst dem Merkur und dann plötzlich doch der Venus militärische Hilfe zugesagt hatten, als jene ihre Verträge mit den halsstarrigen Asteroidenrobotern kündigten oder einfach brachen. Die Lilaws halfen der längst nicht mehr bündlerischen Venus, und deren Schläge radierten die Ordnung auf dem Merkur fast aus, aber die Venus hatte sich ökonomisch bis heute so wenig von ihrem Sieg erholt wie der Merkur von seiner Niederlage, sie schuldete allen alles, von Mars bis Sinope.

Die merkurianische Politik hätte unterdessen wohl die letzte Souveränität eingebüßt, der Planet wäre von den Lilaws besetzt worden, wenn man die Roboter aus den Republiken der DE zu Hilfe geholt hätte, um seine Zivilisationen zu sanieren: Was errichten die denn da, hätte es geheißen, ein zweites Bundwerk? Nun herrschte in den meisten Staaten und Quasistaaten auf Merkur Kriegsrecht. Bittere Ironie: Mazzola war der auf Merkur selbst unbeliebteste Politiker, weil er das Angebot der DE-Hilfsbrigaden abgelehnt hatte, und wollte damit doch nur die Menschen schützen, die ihn jetzt hassten – Spätfolge seines ersten Fehlers, der Beschlagnahmung und Verstaatlichung merkurianischer Zweigstellen alter venusischer Werften aus der späten Kâlidâsa-Zeit. Da hatten die Venuskaufleute dann Mazzola bei den Lilaws verklagt, und nicht einmal die Fürsprache von Billenkins Vorgänger im Tridiv hatte den Krieg verhindern können und die Ankunft der Killerkinder auf Merkur. Killerkinder – das Wort wollte Massignon nicht hören, und wenn er es gebrauchte, um ihre Elitesoldaten zu schmähen, fing sie jedes Mal wieder von den »Stöckchenhuren« an.

Was würde geschehen, wenn der Chef eines Tages abtrat und sie seinen Platz einnahm? »Killerkinder« soll ich nicht sagen, dachte Joas bockig, aber was sind sie sonst, und sagen es nicht alle – genetisch optimierte, extrem langlebige Truppen, die aussehen wie sehr junge Menschen, wie soll man sie sonst nennen?

Joas stieg aus seiner Hose, hob sie auf, legte sie zu den anderen Sachen, betrachtete seine Hände: Sie zitterten kaum. Blaue Adern, dünne Haut, ungesunde Fingernägel in rissigen Nagelbetten: Hatte die Plage recht, war er zu nachlässig? Er sah hinab – Watschelfüße, ach, sie hatte recht. Neben dem Stuhl, auf dem die Kleider lagen, standen die roten Wildledermokassins, und einen Augenblick dachte er darüber nach, ob er nicht hineinschlüpfen sollte – der Einfall hatte sein Lustiges: Es gibt dazu kein Gesetz, nichts verbietet mir, damit wenigstens bis zum Beckenrand zu gehen. Dann aber rief er sich zur Ordnung: Ich darf hier nicht über Handlungsalternativen nachdenken, das gibt nur wieder diese verschmierten Wahrscheinlichkeiten, wenn ich durch die Wand gehe, die lehmbraune Trennfläche zwischen Kabine und Beckenhalle, die für jedes andere Geschöpf, jeden anderen physischen Gegenstand im Universum undurchdringlich war, fest wie nur irgendetwas aus Fermionen Gemachtes, für ihn und die beiden anderen im Tridiv sowie vom Tridiv vorgeladene Gäste aber ein bloßer Vorhang, der ihre Zellen, ihre Genome, deren Moleküle und Atome erkannte und sie passieren ließ, als wäre er nur eine Projektion.

Joas biss sich auf die Unterlippe: Verdammter Körper.

Wie die Plage ihn immer anschaute, wenn er die beiden schmalen Metallbögen der Leiter ergriff, auf der er ins Becken hinunterstieg, während sie natürlich einfach vom Beckenrand schritt, direkt auf die leuchtende Oberfläche, so dass die Schwerkraft sie durch die Membran stoßen ließ, als wäre das da wirklich Wasser, in das sie eintauchte, kerzengerade, sportlich, im straffen, wieder und wieder verjüngten Körper – gib nur damit an, dachte Joas verbittert, aber ich kenne dich, ich weiß, wie verkrümmt von Hass und Neid auf den Chef, von Abscheu und Verachtung für mich du innerlich bist, was für ein verschrumpeltes, vertrocknetes, klapperdürres Monster, kein bisschen Erfahrungsfleisch, immer nur im Sachlichen unterwegs, ohne Liebe, ohne Familie, abgesehen von deinem Sohn, den du so wenig liebst wie er dich. Joas wusste das alles, weil er sie beschatten ließ wie sie ihn und wie der Chef, an den sich die zwei Beigeordneten mit derartigen Spionagespielchen nicht herantrauten, seinerseits alle beide. Joas versuchte, nicht über all das nachzudenken – es war nicht ungefährlich, so nahe an der Allzeit, so dicht bei den ineinander verflochtenen Dreiecksgraphen von Tardys, Tachys und Lux im Becken. Falls er nicht aufpasste, konnte es ihm ergehen wie beim ersten Mal in der Halle, als er sich plötzlich selbst im Weg stand, buchstäblich gegen sich prallte und, davon erschrocken, neben dem Becken die Orientierung verloren und sich umgedreht hatte, dann zurück in die Kabine getorkelt war und sich dort auf seine Kleidung hatte übergeben müssen.

Joas kontrollierte seinen Puls: Ruhig genug. Er nahm mit Daumen und Zeigefinger der Rechten den Bogen über der Nase, der die beiden Gläserfassungen seiner Brille miteinander verband, zog die Brille von der Nase, faltete sie zusammen, legte sie auf die Hose, atmete ein, atmete aus und trat durch die Wand.

Der Weg zum Becken unter den oben in gotischen Spitzen geschlossenen Bögen aus rauchgrauem Stein war nicht irritierender als sonst – drei- oder viermal musste Joas die Selbstvorwegnahme und das Ausscheren in andere Werte der Wahrscheinlichkeit zwischen null und eins ignorieren, als er etwa plötzlich glaubte, nun doch seine Mokassins an den Füßen zu spüren, als er etwas früher mit der Hose fertig geworden war und sich deshalb selbst voranging, als er einen Sog nach hinten spürte, als habe er sich schließlich doch nicht entschließen können, zum Becken zu gehen, sich stattdessen wieder angekleidet und den Ort verlassen, weil die Furcht diesmal zu groß geworden war. Am Beckenrand angekommen, sah er sich dann noch so in die Flüssigkeit rutschen, wie das sonst Massignon tat, die schon da war, deren Kopf und Hals er aus dem Glitzern ragen sah, kalt lächelnd neben dem in Würde erstarrten Antlitz des Chefs.

Damit aber war das Gröbste ausgestanden, für diesmal – die Alternativen sanken in die Realitätsmulde, die seine tatsächliche raumzeitliche Anwesenheit ins gesamte Intervall drückte, und er stand zwischen den Geländerbügeln. Joas sah auf die Oberfläche des Beckens, bevor er sich umdrehte und hineinstieg: Aprikosenglimmer und waschgelbe Glut, marineblaue Wunden und turmalingrüne Zitterschlitze. Er wandte sich ab, fasste die Bügel, stieg auf die erste Stufe, dann auf die zweite und ließ in aller Ruhe zu, dass ihn die Allzeit empfing.

Osmotisch vorbewusst nahm er erste nadelspitze Details auf, von den Sohlen über die Fesseln, die Unterschenkel bis zu den Hüften war alles Membran, alles Kontaktfenster für eine Wahrnehmung, die ihm das, was er so erfuhr, nicht visuell, sondern als Injektionsbotschaft bis in die feinsten Nervenverästelungen sandte.

Die Tagesordnung flutete den Neuankömmling wie ein Gasgemisch unterm passenden Druck eine entriegelte Druckkammer: Erst kamen die Millionen von Verwaltungspunkten, über die Cherlin, Massignon und er abstimmten, ohne sie überhaupt bewusst wahrzunehmen – das menschliche Hirnrindendenken war für diese enorme Masse an Prozessen viel zu schmal, zu träge –, in eine Mengenklammer eingefasst, deren Objektname »Top 1« war.

Dann ging es, was selten geschah und Joas aufmerken ließ, bevor er endgültig bis zum Kinn ins Becken sank, unter »Top 2« um einen Gast, der offenbar erwartet wurde – einen Untergebenen des Chefs, ihm direkt unterstellt und niemandem sonst Gehorsam schuldig als den Lilwas selbst, also ein hoher Militär oder Kundschafter.

Das Gesicht wischte zu rasch vorüber, als Joas für eine Sekunde die Augen schoss, um den Mann, der da erwartet wurde, kontrastklar genug zu visualisieren. Dann führte die Topschlaufe ihn auch bereits wieder auf die Bahn, auf der die anderen ihn erwarteten, zum Tagesordnungspunkt Nummer 3, dem Abschreiten und Durchjäten der augenblicklichen Vertragsstände, zum Rupfen und Säen und Ernten, Milliarden von Daten, und im metaphorischen Genick spürte Joas wieder die unmenschlichen, allsehenden Augen der Lilaws als übermächtige, aber stumme Präsenz: von den Konzessionsdisputen bei den marsianischen Hilfsprogrammen für die Venus – Wasserwerke, Verkehrsinfrastruktur, Energiewirtschaft – über die juristischen Querelen um die ehrgeizigen Relaisstationen zwischen der Oortwolke und dem inneren Sonnensystem, die demnächst von neptunischen Lizenznehmern dreier Roboterrepubliken im Brockengürtel auf Mathilde, Eros und Vesta eröffnet werden sollten, und die Gefängniskrise auf Merkur, die zu den verstreuten Feldeffekten des wiederaufflammenden Bürgerkriegs gehörte, bis zu einer von den Lilaws Mars-Sinope 354.332.333 und Mars-Merkur 555.443.289 gegengezeichneten Landnahme der anarchokapitalistischen »Republik Paul« auf der Erde, mitten in Europa, nämlich dem Südwestzipfel des ehemaligen Deutschland.

Das überprüfte man, genehmigte es oder wies es ab, und als Joas in der letzten der Angelegenheiten auf dieser Liste ein kurzes Ausflaggen anbrachte, das im Wesentlichen fragte, seit wann die Lilaws ihren Schutz für die demilitarisierte Erde eigentlich zurückgezogen hatten und irgendwelchen Robotern, und seien sie noch so marktliberal und bundwerküberwindend, Raubzüge auf dem Mutterboden der Menschheit erlaubten, war er einigermaßen überrascht, die Antwort nicht von den entsprechenden kognitiven Unterklauseln der beiden beteiligten Lilaws zu erhalten, sondern direkt vom Chef: »Lass das beiseite, Joas. Unser Gast wird dir dazu nachher Auskunft geben.«

Joas ließ die Sache auf sich beruhen und warf sich mit etwas mehr Eifer als sonst, um besondere Anstelligkeit zu demonstrieren, ins Dickicht der laufenden Anpassungen von Tarifen für Ausgleichszahlungen im interplanetaren Handel, in die Verhandlungen um Beihilferechtsbrüche, Bereichsausnahmen militärischer Art – nicht nur auf dem Merkur wurde derzeit scharf geschossen –, gewerbliche Forschung, Zuschussgewährungen von Lokalprospektoren auf den von Robotern unerschlossenen Asteroiden, Umweltmanagement, Investitionszugangsbeschränkungen, kurz, den ganzen überreichhaltigen Katalog augenblicklich von den Lilaws als offen und ohne das Tridiv nicht entscheidbar klassifizierter Belange.

Dass sich diese Arbeit für Joas anfühlte, als grabe er sich im Verlauf mehrerer Wochen hindurch, während in Wahrheit die messbare Eigenzeit, die den drei beteiligten Gremiumsmitgliedern dafür abverlangt wurde, nicht einmal an die Minutenschwelle stieß, war er bereits gewohnt. Und dass er, wenn er nachher aus dem Becken geklettert und auf sein Schiff zurückgekehrt sein würde, erst einmal drei Stunden in tiefstem Schlaf neue Kräfte würde sammeln müssen, gehörte ohnehin zum Amt – verwundert war er nur darüber, dass er im Becken selbst an diese Zukunft überhaupt denken konnte, dass er sich zum ersten Mal vorkam wie jemand, der gleichzeitig verschiedene Dinge tut, etwa kauen und lesen, gehen und reden, pinkeln und pfeifen – war es doch sonst hier stets so gewesen, als bestünde sein ganzer Körper nur aus Fäden, die im Geflecht der zu entscheidenden Streitfragen mal hierhin, mal dorthin gezogen wurden und dabei schließlich diejenigen Muster ergaben, aus denen die Lilaws herauslesen konnten, wie der jeweilige Mensch im Becken abgestimmt hatte.

Diesmal jedoch schien es ihn außer in Gestalt dieser Fäden auch als eine Art Mückenpunkt überm Datengewebe zu geben, Bewusstsein von Bewusstsein, Beobachtung der Beobachtung, die von oben auf seinen gleichsam subalternen, problemlösenden und abstimmenden Routinegeist schauen konnte – ja, wirklich, von oben: Es war eine Übersicht da, eine klare Gliederung der Entscheidungsfindungsparallelprozesse, die Joas so distinkt noch nie erfahren hatte, und wie er auf das, was er da tat, in Harmonie mit den andern, die er als sein eigenes Gewebe teils durchdringende, teils von ihnen getrennte und verschiedene Muster ebenfalls sah, so hinunterblickte, kam ihm plötzlich der Gedanke, dass jemand, der auf etwas hinuntersehen kann, vielleicht auch den Blick davon abwenden und in die Höhe richten könnte, nicht nur abwärts, sondern auch aufwärts schauen.

Kaum dachte er das, durchfuhr ihn bereits die Angst, etwas Ungeheuerliches begangen zu haben – was sonst konnte über ihm sein als die Gesichter, die Wahrheit der Lilaws, und was würde seinem Blick geschehen, wenn ihr eigener Blick, der Blick transfinit zahlreicher Augen, ihn erwidern sollte? Der Eindruck zwang ihn, daran zu denken, wie er als Kind von seinem reichen Vater auf die Aussichtsplattform des höchsten merkurianischen Gebäudes geführt worden war und gedacht hatte: Wenn ich jetzt losrenne und springe, dann werde ich fliegen – nicht lange, nicht weit, in den Abgrund und in den Tod, aber: fliegen. Nur dass er den Impuls damals bezwungen hatte, diesmal jedoch dachte: Sie sind schuld, die Lilaws sind schuld – wir waren 1,4 Milliarden Menschen auf dem Merkur, als der Disput begann, das, was sie so nennen, der Krieg zwischen uns und diesen aus einer ehemaligen Zusammenarbeit von Menschen, Künstlichen Intelligenzen und Robotern hervorgegangenen Reedern von der Venus. Danach?

Danach waren wir noch 150 bis 200 Millionen, und von denen nur 30 Millionen wehrfähige Männer. Und dann kamen die Killerkinder. Wie sagt man doch? Nie ist es den Bewohnern einer Welt dauerhaft gelungen, eine andre zu besetzen, man denke nur an Arjen Samito. Mag sein, aber dann haben alle Welten die Erde besetzt, und damit war das Tabu gebrochen, selbst als sie sich zurückzogen, blieb das im Gedächtnis, und alle wussten, so geschieht es, wenn alle sich gegen einen verbünden, und deshalb wollten alle dabei sein, deshalb traten alle diesen sogenannten Verträgen bei, und jetzt sind es diese Verträge, diese Lilaws, die jede Welt der zwölf Zivilisationen besetzt halten, denn wer auch immer auf allen diesen Welten regiert, tut es nur mit ihrer Einwilligung, und ich schwebe hier zwischen ihren Gesichtern, ihrem wirklichen Wesen oben und den Millionen von Bilateralitäten und Multilateralitäten unten, die sie es unter sich ausmachen lassen, Herrschaft der abstrakten Mehrheit über jede konkrete Minderheit. Sie sind schuld, diese Lilaws, und sie sollen wissen, dass ich das weiß.

Da wandte Joas Billenkin sich um, ohne sagen zu können, wie das möglich war, und richtete den Blick nach oben.

 

Schwarze Streben, Planken.

Stufen? Verschiedene Arten Schwärze: Dunkelste Markovwiederholungen der Gewebstrukturen unten, aber viel größer und so, dass er sie irgendwie sehen konnte, obwohl sie kein Licht reflektierten, diese celestialen Dominomonolithen, Teerstraßen und Rußwälle, Lakritzbahnen und Tintenwüsten, Graphitmauern und Schieferschatten.

Schwarz, groß, starr. Dann, rechts, mittig, winzig: ein Loch.

Joas fixierte es, sah hindurch, und es weitete sich, bis er etwas erkannte, das in der normraumzeitlichen Wirklichkeit tatsächlich oben war, über dem Becken, als einer der beiden Begleiter des Mars: Phobos. Der Trabant kam näher, und Joas sah den Krater, und in dem Krater die Delle, und in der Delle die Kirche, und in der Kirche …

»Joas? Bist du eingeschlafen?« Es war die Plage, die ihn anfuhr. Sie stand neben ihm und glotzte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Schwindel: Er schwamm im Becken, nein, stand im Becken bis zum Hals, wie immer bei den Sitzungen, sie auch, Cherlin, ebenfalls.

Was war geschehen, woraus hatte Fabrizia Massignon ihn gerissen?

Krater, Delle, eine rasch zerfallende Erinnerung.

Joas Billenkin räusperte sich: »Cha, hrrch. Ich habe … sind wir … sind wir aus dem Tagesordnungspunkt … gefallen?«

»Wurde ordnungsgemäß abgeschlossen«, sagte der Chef verdrießlich und sah Joas einen Moment lang ausgesucht streng an. Joas wusste nichts zu erwidern als: »Oh, das … ja. Gut. Ich hatte nur … es muss der Abschluss gewesen sein. Das Entflechten, um … äh.«

Die Hilflosigkeit dieser Mitteilung schien Cherlin zu besänftigen, der wegwerfend »ts« machte, sich dann seinerseits räusperte und sagte: »Gut. Also. Unser Gast.«

Der stand tatsächlich schon am Beckenrand.

Joas verschlug es den Atem: Die Erscheinung des Mannes verblüffte ihn noch mehr als der Umstand, dass jener nicht allein gekommen war.

Der verschlampte Kerl trug einen unsäglich banalen, verwaschen grauen Freizeitanzug. Drei Killerkinder standen ihm zur Seite. Sie sahen identisch aus bis auf ein Detail: dieselben weißen Hosen und schwarzen Pullover trugen alle drei, auf dem Kopf aber saß jeweils eine Mütze eigener Farbe, beim ersten grün und schwarz, beim zweiten rot und schwarz, beim dritten blau und schwarz großkariert.

Vier Personen: Das schrillte Joas im Kopf wie ein Alarmklingeln, als er Luft holte und wieder zu atmen begann – vier am Beckenrand, drei im Becken, also sieben in der Halle, wer konnte das Gesetz aushebeln, wer konnte sich den Lilaws so frech entgegenstellen?

Joas sah den Mann genauer an und dachte dann, den ungeheuerlichen Protokollbruch müsse wohl der Chef veranlasst haben. Denn jener Mann in schäbiger Jacke und armseliger Hose glich Cherlin auf eine karikaturhafte Art: heruntergekommen, verbraucht, eine Kopie – etwas übergewichtig, leicht gebeugt auch, mit falben Hängebacken und deutlichen Tränensäcken, dazu einem Blick, der die drei unter ihm im Becken zwar aufmerksam anzusehen versuchte, dabei aber beschämend wässrig wirkte, nein, dachte Joas, wässrig trifft es nicht, wie soll man sagen – fettig? Gibt’s das, einen fettigen Blick? Die Haarfarbe war dieselbe wie bei Cherlin, und im zerlaufenen Teig seiner Gesichtszüge ahnte man unwillkürlich die stärkste mögliche, daher bestürzende Ähnlichkeit mit dem Sprecher des Tridiv.

Ein verstohlener Seitenblick zu Fabrizia Massignon verriet Joas, dass sie genauso überrascht war von diesem Auftritt, wenn er das auch nur an den Mundwinkeln und der ungewöhnlichen Stellung der Augenbrauen – rechts etwas höher als sonst, links etwas tiefer – erkannte. Man war ja nicht jahrzehntelang im selben Gremium gewesen, ohne die andern lesen zu lernen.

Jetzt wandte sich der Chef an seine Beisitzer: »Ihr habt es wohl gegen Ende von Top drei gemerkt, dass ich die Sitzung durch eine Anrufung des Beratungsrechts unterbrochen habe.«

»Wa…«, machte Massignon unwillkürlich, aber bevor daraus ein Wort werden konnte, fuhr Cherlin fort: »Ich weiß, das passiert nur alle paar dutzend Jahre. Danken wir der Kirche, die dein Sohn lenkt, dafür, dass es überhaupt möglich ist.«

Joas begriff: Deshalb also hatte er die Lilaws gesehen, oder das, was sein Hirn sich als ihr Bild vorstellte, und den Mond Phobos in einer Lücke dieses Bildes, und den Sitz der Kirche, in der Cunimundus seine Ämter versah, Vikram Massignon, der blutjunge, erst einunddreißigjährige Sohn der Plage. Dessen Vor-Vorgänger nämlich war es gewesen, der unter Berufung auf den Schutz menschlicher Gesinnungen und Bekenntnisse, wie er in den ersten Lilaws festgeschrieben war, eine Ausnahmeregel für Besprechungen in seinem eigenen Becken im Herzen der Kirche auf Phobos durchgesetzt hatte.

Die Lilaws waren dieser Kirche stets sehr weit entgegengekommen, sahen sie wohl als nützliche gesellschaftliche Kraft. Seinerzeit hatte der Krieg zwischen Venus und Merkur noch nicht begonnen, als er aber ausbrach, war es tatsächlich die Kirche gewesen, die sich als Mittlerin bis zu den ersten Waffenstillständen bleibende Verdienste erwarb.

Nachdem dem Kirchenobersten die Auszeitregel im Becken genehmigt worden war, bat dann mit Hinweis auf die Gleichbehandlungsgrundsätze, die den Lilaws verbindlich waren, Asa Kutschajew, der damalige Tridivsprecher, um eine analoge Regelung fürs Tridiv: Was einem geistlichen Amtsträger recht war, konnte einem weltlichen Gremium, das formell und strenggenommen ja in gewisser Weise sogar über den Lilaws stand, kaum verwehrt werden, und so war es denn geschehen – seit Joas Billenkins Eintritt ins Tridiv freilich noch nie praktiziert worden.

Joas nahm sich vor, zu Hause, nach der Rückkehr, ein paar Anfragen an die Archive zu richten: Wie oft war diese Bestimmung hier überhaupt genutzt worden und zu welchen Anlässen? Jetzt sprach Cherlin den heruntergekommenen Mann an: »Bist du so gut, Doc, und bringst die Kollegin und den Kollegen auf den Stand? Erzähl ruhig alles noch mal, was ich schon weiß.«

»Doc?« Fabrizia Massignons Tonfall war höhnisch und pikiert zugleich.

Cherlin lächelte: »Wir wollen uns zusammenreißen, ja, Fabrizia? Die Regelung gibt uns eine Dreiviertelstunde.«

Das sind Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende für die Lilaws, dachte Joas – erstaunlich, dass sie so großzügig sind.

Cherlin sagte, an den Gast gewandt: »Wenn du dich und deine Gehilfen noch eben vorstellst, dann ist Fabrizia nicht mehr so nervös, oder gekränkt.«

Der als »Doc« Angesprochene schien sich zu sammeln. Seine vorgezogenen Schultern sanken noch etwas tiefer ab, dann sagte er: »Ich heiße Doc Urtheil. Der Nachname ist der meiner Mutter, sie war damals noch nicht mit Arpad Cherlin verheiratet, ich bin der Ältere … der Vorname ist ein Spaß meines Vaters. Ich sollte Akademiker werden, auf dem Merkur studieren, die besten Universitäten im System, man kennt’s. Mein Vater fand’s drollig, mir einen Vornamen zu geben, der für einen alten irdischen akademischen Grad steht, er hatte diese scherzhafte …«

Der Tridivsprecher hob die Hand und winkte das weg. »Keine Anekdötchen. Die Gehilfen.«

»Stimmt.« Doc Urtheil erlaubte sich eine schlappe Handbewegung hin zu den drei kleinen Soldaten, »dies sind …«, aber sie sprachen nun selbst, einer nach dem anderen, mit den kurios erwachsenen Stimmen, die Joas von seinen regelmäßigen Besuchen auf Militärstützpunkten her kannte und die ihn immer ein wenig verunsicherten, weil sie so gar nicht zum Äußeren dieser Elitemörder passten: »Ich bin Tick«, sagte der Erste. »Ich bin Trick«, erklärte der Zweite. »Ich bin Track«, beendete der Dritte die militärisch knappe Selbstvorstellung. Leibwache? Sonderkommando?

Doc Urtheil sagte: »Ich lebe auf der Venus. Als Gast. Wir haben dort Einrichtungen … die Lilaws haben dort Einrichtungen …« Wieder winkte Cherlin ab – sowohl Joas Billenkin wie Fabrizia Massignon hatten ihn bei Inspektionen der militärischen, akademischen, juristischen und sonstigen Installationen begleitet, die von den Regierungen verschiedener venusischer Staaten auf ihren Territorien zugelassen wurden; ein gutes Geschäft für alle: Dem übrigen System wurde damit demonstriert, dass die Venus aus ihrer üblen Geschichte als isolationistisches Spielfeld irrer Sozialexperimente emporgewachsen war zu einem Planeten, der zumindest als strategischer Stützpunkt und Wirtschaftsstandort das Vertrauen der Lilaws genoss, was wiederum den Handel anderer im Lilaw-Verband integrierter Welten mit der Venus stimulierte, auch wenn zwei kleinere der neuen Quasistaaten, eine sogenannte »Thalberg-Hanse« an der zerklüfteten Ostflanke von Freyja Montes und eine »Diskrete Stadt« namens »Rojograd« zwischen den Hauptkratern von Lavinia Planitia, noch immer keine Offiziellen der Lilaws auf ihre Hoheitsgebiete ließen, vom »Monstergraben« ganz abgesehen, in dem die letzten Abkömmlinge der einstigen Neukörper hausten.

 

Doc Urtheil fuhr fort: »Eine dieser Einrichtung ist das militärgeschichtliche Forschungszentrum unterhalb von Gula Mons, wo diese Trichterstadt abgeschossen wurde, gegen Ende des Krieges, den Arjen Samito der Venus gebracht hat … Na, ich stehe dort einem historischen Studiengremium vor, das nach außen hin der Sichtung und Archivierung und Aufbereitung von Material aus dem größten Krieg der Systemgeschichte gewidmet ist, nicht wahr, der Invasion von Arjen Samito auf Venus, Schlachtenverläufe, Allianzen, die zur Diversitas führten …«

»Nach außen hin«, sagte Fabrizia kühl, »wir wissen Bescheid – ein Spionagestützpunkt. Ihr horcht die Venus ab, ob sich was erhalten hat von den sogenannten Kontinuierlichen. Diesen Künstlichen Intelligenzen, angeblich alle entweder noch von Christensen vernichtet, in deren Säuberungen, oder wie die alten irdischen Fonds in den Lilaws aufgegangen, die Mehrheit.« Cherlin unterbrach sie: »Wir wissen, was du weißt, Fabrizia.«

Doc Urtheil setzte neu an: »Ja, wir beobachten dort … die Entwicklung. Auch in den tieferen Schichten, den nicht öffentlichen …«

»Ja doch«, Cherlin wurde ungeduldig. »Die Lilaws kaufen sich ein, und wenn sie sich nicht einkaufen können, üben sie anders Druck aus oder geben dir Software – und du durchkämmst die alten und neuen Servercluster, Netze, suchst Auffälligkeiten, die belegen könnten, dass es noch Kontinuierliche gibt, dass sie mit dieser DE unter einer Decke stecken, dass sie wühlen, destabilisieren oder lauern, auf einen Fehler der Lilaws, des Tridiv, der zwölf Zivilisationen … Gut, sag uns, was du gefunden hast.«

Urtheil willfahrte: »Es gibt … Datenbanken, ganze Stollen von Daten, in zahlreichen überholten Speichern, teils in den Trümmern alter Agraranlagen am Schmalen Meer, teils in städtischen Verwaltungsgrüften der ehemals fliegenden Städte, die man auf den Venusboden geholt hat, teils in betriebseigenen Speichern der Erzgewinnungsanlagen um die großen Vulkane … kaum einmal greift jemand darauf zu, aber ich habe verdeckt regelmäßige Stichproben genommen, und zuletzt hat man darin so etwas wie … diagonale Schneisen gefunden, etwas wie …«

»Sie werden genutzt. Sie werden als Ablagen für Neues genutzt. Irgendwer koordiniert da irgendwas«, sagte Cherlin, »und man tut das offenbar in einer Sprache, die kaum jemand mehr kennt. Einer Sprache, die zerfiel, als das Bundwerk zerfiel, einer Sprache, die längst bis zur Unkenntlichkeit überschrieben und gepatcht und modifiziert wurde.«

»Topos«, sagte Massignon – das war ihr Feld, Physik, Mathematik, Coding bis zurück in die archaischen Zeiten der Erdgebundenheit aller Menschen.

»Ja. Topos.« Urtheil nickte. »Aber anfangs dachten wir, vielleicht will jemand einfach damit spielen. Hacker, Cracker, Leute, die ein bisschen Bewegung brauchen, vielleicht sogar Ausläufer der Lilaws, die wir nicht kennen … vielleicht will jemand einfach Topos reden mit den alten Rechnern, wie Gelehrte manchmal Latein, Griechisch oder Deutsch sprechen. Aber dann haben unsere Systeme die Inzidenzen dieser Diagonalphänomene korreliert mit … anderen Zwischenfällen. Physischen … Zwischenfällen.«

»Verbrechen«, sagte Cherlin rundheraus.

Joas Billenkin konnte sich genau erinnern, wann er dieses Wort das letzte Mal gehört hatte: bei seiner Vereidigung.

»Verbrechen« war das, was er seinerzeit jederzeit und überall abzuwehren gelobt hatte – und hier, im Becken, in dieser Halle, auf diesem Gelände, war damit nicht Mord noch Vergewaltigung, nicht Raub noch Unterschlagung gemeint, sondern jeder Verstoß gegen die Bestimmungen im Vertrag Sinope-Mars-Merkur-Titan 000.000.001, dem ersten der späteren Lilaws. Verbrechen: Verletzung der Grundsätze, die das Erbgut der lebenden Gesetze bildeten, welche das System regierten.

Doc Urtheil nickte: »Es erfolgten … unerlaubte Zugriffe nicht nur auf die alten Datenbanken, die ich erwähnte, sondern auf aktuell in Nutzung befindliche. Auf lilawrelevante. Auf Güterverkehrslisten, auf strategische Stafetten, Wahlverzeichnisse, polizeiliche Logs. Zunächst auf Venus, dann in Routern im Gürtel, dann Merkur, dann Mars, sogar auf dem Erdmond.«

»Systemweit«, sagte Massignon fassungslos.

Doc Urtheil stimmte zu: »Systemweit. Und die zeitliche Abfolge … nun, es wurde versucht, mittels Scheinangriffen zu kaschieren, was geschah, aber … wir haben es korreliert, und mit gewissen Zeitabständen zeigte sich ein Muster, ein Dreischritt: Erst wurde in die Diagonalen gegriffen, die ich erwähnt habe, dann in einen lilawassoziierten Speicher, und dann, als Drittes … Ereignisse. Diebstähle von Waffen und anderer Hardware, Demonstrationen und Streiks in venusischen Städten, Aufmärsche und Unruhen um die Universitäten auf dem Merkur, Produktionsausfälle auf den Jupitermonden, verschollene Schiffe im Gürtel … noch mal: immer der Dreischritt, alte Venusarchive, aktuelle Lilawdatenbänke und dann ein materieller Schaden.«

Cherlin trieb den Besucher jetzt zur Eile: »Erzähl vom roten Faden, an dem wir ziehen müssen, um dieses … verbrecherische Geflecht aufzulösen. Von der Hauptspur.«

»Ein Schiff«, sagte Urtheil.

Joas fragte nach: »Ein … Raumschiff?«

Urtheil bestätigte: »Ja. Es ist … kurios. Wir waren gewohnt … also, ein Museum. Ich sitze da, mit meiner Arbeitsgruppe, und stillschweigend wissen alle, dieser Kustos, dieser Archivar ist ein Spion und ein Polizist. Und deshalb kommt immer mal wieder was weg … es sind Neckereien. Man bestiehlt das Museum … Mutproben, sozusagen. Dem Statthalter des Tridiv unterm Hintern weg. Keine große Sache. Es gibt ja auch Liebhaber, es gibt einen Schwarzmarkt für Relikte der Bundwerkszeit. Das muss nicht politisch motiviert sein – man hat etwa Ölgemälde, die Frau Christensen zeigen, schon in Privatvillen von Lilawbeamten gesehen.«

Er schaute Joas dabei nicht an, aber der wusste, dass er gemeint war – also doch kein harmloser Mensch, dieser Urtheil. Das Bild, von dem er da vermutlich redete, hing in Zsa Zsas Quartier, zu Hause bei Joas. Urtheil fuhr fort: »Wir stellen nicht alles aus, manches steht in Lagerhallen, Hangars. Aber ein Schiff … ein Schiff war uns denn doch noch nie abhandengekommen. Bis vor drei Monaten. Einer von den Keilblattseglern. Das waren … sogenannte inertiale … Fracht- und Personentransporter, hauptsächlich der Nomenklatura vorbehalten, den hohen Tieren in diesem D=B=K. Wir hatten einen guterhaltenen, aus dem Besitz von Arthur Helander, das war eine Zeitlang Christensens Nummer eins … Als der Gleiter weg war, dachte ich zunächst, schicken wir einfach ein paar Spürer los, findet sich sicher schnell wieder, und dann gönnen wir den Dieben ihren Spaß, wenn wir nur wissen, wo’s hingekommen ist. Aber dann erfuhr ich, dass es zwei Tage vorher einen unerlaubten Zugriff auf die Datenbanken der technischen Werke von Spas Mons gegeben hatte – und zwar auf ihre Ausstoßlisten. Auf die Listen, in denen steht, wie viele Iannis-Triebwerke sie produzieren. Die Vermutung lag also nahe …«

»Dass jemand außer diesem uralten Segler auch noch ein brandneues Iannis-Triebwerk geklaut hat«, sagte Massignon. Sie brauchte nicht zu erläutern, was das bedeutete: Kompaktere Motoren für interplanetare Schiffe gab es nicht.

Der Gast fuhr fort: »Das Schiff ist fotografiert worden, drei Wochen danach.«

Urtheils Harmlosigkeitsmaskerade war nun ganz von ihm abgefallen, er traute sich nicht nur, Joas mit einer gezielt eingestreuten Anspielung Angst einzujagen, sondern schnitt sogar Massignon das Wort ab, was selbst sein mächtiger Bruder nicht allzu oft riskierte. Sie war zu verdutzt, ihn dafür zurechtzuweisen, und er sprach ruhig weiter: »Für sich genommen hätten wir dem dritten … Vorfall kaum Beachtung geschenkt. Die Ränder der Asteroidenrepubliken sind noch gesetzlosere Gegenden als die Venus oder der Merkur, noch weniger reguliert als die Erde, dort nistet die Diskrete Emanzipation, und dass Piraten eine medizinisch-kybernetische Forschungseinrichtung überfallen, kommt auch öfter vor. Medizinisches Wissen ist ja mit das teuerste im System.«

»Oh«, machte Joas unwillkürlich – er wusste jetzt, worum es ging, denn er hatte sich selbst mit dem Fall befasst – genauer: Er war um Hilfe gebeten worden von der Leitung der Einrichtung, die man da bestohlen hatte, denn er gehörte zu denen, die ihr Patronage gewährten, zu ihren Kunden, Klienten – das Labor auf Ceres hatte ihm geholfen, die Gesichter seiner Mädchen, ihre Hände und Füße zu züchten.

Urtheil holte tief Luft, seufzte und sagte: »Diese Firmen … sie sind während der übelsten Zeit des Venus-Merkur-Konflikts absichtlich in die Nähe der Roboterrepubliken gezogen, weil sie Angst hatten, dass das Tridiv zerbricht, dass die Anarchie kommt und dass sie eventuell unter den Schutz einer Macht würden kriechen müssen, die wenigstens Verständnis dafür hat, dass Lebewesen entworfen, patentiert und für spezifische Aufgaben gerüstet werden. Da Roboter daran nichts seltsam finden, lag’s nahe. Diese Sache jetzt … es war kein Frontalangriff wie sonst bei Piraten, es war …«

Joas beschloss, sich einzuschalten, um Nachfragen zuvorzukommen: »Ich kenne das Institut, es sind, man kann sagen, Freunde von mir. Sie hatten schon früher … es gab Piratenattacken, aber das hier, wie sagt man? Nacht und Nebel. Jemand kam, jemand hat drei Tanks gestohlen, und Zellkulturen, und Software und Adapter, und dann …«

Urtheil nahm den Faden auf: »Und dann flog jemand wieder weg, und zwar in dem Schiff, das dieser jemand aus dem Keilblattsegler gebaut hatte, der mir unter der Nase weggestohlen wurde, was mich in Anbetracht der jüngsten Entwicklung nun doch maßlos ärgert.«

Doc Urtheils wahres Gesicht: ein ungeduldiger, ehrgeiziger Mann, der nur deshalb so verlebt und schwammig aussah, weil er seine Erscheinung unwichtig fand, gemessen an seinen Aufgaben. Der Spion klang jetzt fast melancholisch: »Ein solcher Ärger hat auch eine gute Seite, wenn man ihn als Weckruf betrachtet. Die Fahndung läuft jetzt unter Nutzung aller Ressourcen. Das kleine Ding ist verdammt schnell und extrem wendig, es vereint die überlegene Manövrierfähigkeit der alten Keilblattsegler mit den Geschwindigkeiten, die ein Iannis-Motor erreicht. Einer unserer Ortungspings hatte aber Glück … wir wussten, wohin es als Nächstes fliegen würde …«

Er sah herausfordernd in die kleine Runde.

Fabrizia Massignon konnte sich nicht zurückhalten: »Und jetzt werden Sie uns erzählen, was das für ein Kurs ist, und dann sollen wir Dekrete erlassen, die eine Gefangennahme und dann eine entsprechende Auslieferung oder Überstellung der oder des Gefangenen …«

»Nichts dergleichen«, widersprach Urtheil. »Es ist leider alles viel weniger einfach, als Sie sich das denken. Jemanden verhaften lassen, jemanden ausliefern, dafür wäre ich nicht hergekommen. Dafür hätte mein lieber Bruder nicht bei den Lilaws beantragt, dass ich hier reindarf. Ich spiele nicht Räuber und Gendarm. Das Schiff ist zur Erde geflogen. Keine vier Tage später war es da. Iannis-Motor, ich sagte es schon, unfassbar schnell. Lokale Satelliten haben es erneut gepingt. Es ist nach Europa geflogen. Da steht ein Wald … ein Wald, in dem die Kirche … nun, ich ließ mir sofort alle Daten, die öffentlich zugänglichen wie die aufgrund gewisser Investitionsschutzklauseln in den Lilaws nur auf Antrag und mit … etwas … Überzeugungsarbeit … einsehbaren, besorgen. Und was entdecke ich? Das ist eine ausgedehnte Spielwiese der Kirche, die hat da einen Missionar hingeschickt, der biologische Experimente beaufsichtigt, die … Denken wir mal kurz an Lilaw Phobos/Venus/Mars 667.899.993, das Abkommen, das die Erde als eine Art Freiluftlabor unter besonderen Schutz stellt, wo neue Produkte, neue Nahrungsmittelgewinnungsweisen ausprobiert werden, im Zuge der Rezivilisation, die dann, wenn sie erfolgreich sind, einmal allen von Menschen bewohnten Welten zugutekommen sollen … Aber was finde ich, tief eingerollt in Paragraphen, Unterpunkten, im Unterholz der Bestimmungen? Lassen Sie nur, die Frage ist rhetorisch. Was machen die da? Die zeugen Hybride, und zwar solche, die Einfluss auf die neuronale Struktur der dabei miteinander gekreuzten Erbgänge …«

»Was? Unmöglich! Das ist … verboten!«, japste Massignon, und diesmal entriss ihr Urtheil nicht das Wort – es war der Chef, Floris Cherlin, der die Hand aus der Flüssigkeit nahm, sie hochhielt, als wollte er sagen: nicht weiter – und dann seine tiefe, grollende Stimme hören ließ: »Wir sollten uns nicht naiver stellen, als wir sind. Es gab noch nie, seit es Verträge und Gesetze gibt, ein Gesetz oder einen Vertrag ohne Ausnahmen. Manchmal bedingen die Geltung eines Gesetzes und solche Ausnahmen einander geradezu. Kein Verbot politischer Gewalt ohne ein Gewaltmonopol für staatliche Stellen, zum Beispiel. Wir haben der Kirche überall vieles erlaubt, was wir echten Marktteilnehmern, profitorientierten … Handelssubjekten nicht erlauben. Die Kirche nimmt dafür … Aufgaben auf sich, die am Rande des Üblichen liegen. Niemand kann Geld verdienen bei der Rezivilisation der Erde, und nicht viele können Geld verdienen beim Wiederaufbau der Venus. Also macht das die Kirche, die kein Geld verdienen muss.«

»Aber Bewusstsein!«, protestierte Massignon. »Das ist doch das Kardinalgesetz schlechthin, das steht doch schon in der Präambel von Sinope-Mars-Merkur-Titan 000.000.001, das ist …«

»Richtig«, schaltete sich Urtheil ein, »und das weiß auch Floris. Aber er hat versucht, Sie auf etwas anderes hinzuweisen. Er ist ein bisschen zu delikat in diesen Dingen, als dass er es so grob aussprechen würde, wie ich’s jetzt tun werde: Wir erlauben der Kirche, mit der Übertragbarkeit von lebendigem, in biotischen Substraten verkörpertem Bewusstsein herumzuspielen, weil wir zwar von den Lilaws das Versprechen haben, sie würden das nie tun, aber natürlich wissen wollen, was es da überhaupt zu tun gibt und wie weit sie wirklich gekommen sein mögen, diese legendären … Toposcoder der Frau Christensen. Sie haben Maschinencode auf Menschenhirne gespielt, heißt es, und Menschenseelen in Roboter gesperrt und Roboterprogramme in nichtlokale Netze freigelassen und Menschenseelen von einem Menschenhirn aufs andere geschickt. Die Aufzeichnungen sind da löchrig und vage – dieser Kâlidingsda, der Erbe, der Mann, der den Laden aufgelöst hat und verkauft, wusste gar nichts Verwertbares von alledem, es müssen Geheimabteilungen gewesen sein, die … Es ist sehr ärgerlich für uns heute, dass wir nicht wissen, wie weit sie waren, aber immerhin haben wir schon damals gesehen: Wenn davon auch nur ein Bruchteil stimmt, dann besteht eine furchtbare Gefahr. Die Kontinuierlichen, die höheren, freien Intelligenzen, die zwar arme Teufel waren gegen unsere Lilaws heute, aber … was, wenn sie sich fortentwickelt haben? Solche Wesen … warum sollten sie uns nicht eines Tages schlicht … abschaffen? Warum sollen sie sich nicht Körper bauen, wie es ihnen gefällt, Fleisch oder Metall, dauerhafter und lebenstüchtiger als wir? Die Zeit nach den Samitokriegen war chaotisch, vielleicht hat uns das gerettet – keine Gemeinschaft, nicht die menschliche, nicht die robotische und schon gar nicht die noch so junge der KIs, konnte den Wiederaufbau ohne die anderen beiden leisten – ironischerweise nahm eine Weile lang sozusagen das ganze Sonnensystem die Doktrin des D=B=K in dieser Hinsicht an, aber aus Not, nicht als politisches Programm des Ausgleichs zwischen Intelligenzklassen. Wir leben in einem lebensfeindlichen Kosmos, und wir hatten das durch den Krieg verschlimmert. Transportwege zerstört, Kommunikationsinfrastruktur. So haben die KIs mit uns diesen Frieden ausgehandelt, der bis heute hält, denn weil sie Programme sind, bleiben sie an ihr Wort gebunden. Wir ließen sie als Erstes ihr Wort geben: keine Bewusstseinstransfers mehr. Und wir gaben ihnen dafür unser Wort: Auch wir wollten daran nicht mehr arbeiten.«

»Aber wir brechen unser Wort offenbar. Oder lassen zu, dass diese … Kirche es bricht«, sagte Joas finster.

Urtheil machte eine vage Handbewegung: »Na ja, wir tun, was Algorithmen nur schwer können, wir schummeln. Wir verbiegen die Regeln ein wenig. Erwischen lassen darf man sich natürlich nicht. Ich habe, als ich begriffen hatte, was da in diesem Wald passiert, sofort meinem lieben Bruder davon erzählt.«

»Und ich«, nahm Cherlin das Stichwort auf, »habe Cunimundus die Hölle heißgemacht, glaubt’s nur. Der hat’s erst abgestritten und war dann … zerknirscht. Ich habe ihn aufgefordert, das alles zu unterbinden. Er hat Drohnen geschickt. Er hat die Anarchos um Hilfe gerufen, die Robo…libertarier. Diplomatisch gesehen … nun, wir erzählen den Lilaws, dass es sich um ungeklärte Kompetenzüberschreitungen im technischen Stab der Kongregation gehandelt hat. Also, irgendwer hat die Gesetze nicht gut genug gekannt, um …«

»Die Präambel! Die Präambel zum ersten Lilaw! Wie kann irgendwer die nicht kennen?«, keifte Massignon, aber Urtheil überging das: »Ich habe sofort alles offengelegt, was ich erfahren hatte, und die Lilaws waren so verständig, mir einige Vollmachten zu erteilen. Der Wald ist bereits abgefackelt.«

Joas Billenkin konnte nicht glauben, was er da hörte: »Abgefa… wie viele Menschen und andere …«

»Es liegt noch keine Auswertung vor«, sagte Doc Urtheil mit provozierender Beiläufigkeit, »aber wer immer da gelebt hat, war sehr wahrscheinlich Teil dieses Großversuchs in … unkonventioneller biotischer Datenverarbeitung. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt, bevor Sie fragen, ist der: So wie ein Ärger sein Gutes hat, hat entschlossenes Handeln zum Guten eben auch seine Nachteile, und hier ist … nun, ich will nicht lange herumreden: Unser Verdächtiger, unsere Verdächtige oder unsere Verdächtigen … entwischt. Der modifizierte Keilblattsegler, während der Bombardierung. Senkrecht nach oben, zack, raus, schneller, als wir … also, sie sind weg. Sie waren aber in diesem Wald und haben dort womöglich … etwas mitgehen lassen. Etwas mitgenommen, eine Probe oder ein …

»Einen Beweis«, sagte Massignon nachdenklich und grimmig.

»Ich sehe, jetzt verstehen wir uns«, freute sich der Spion. »Wir müssen das regeln – wir, die Menschen. Wir müssen sämtliche Sicherheitshebel nutzen, um diese Geschichte in den Griff zu bekommen, ohne die Lilaws zu … nun, zu wecken.«

»Deshalb habe ich ihn hergebeten«, beendete Cherlin den Gedanken, »denn es gibt ironischerweise nur einen einzigen Ort … nun, zwei Orte im System, wo wir explizit verlangen dürfen, dass die Lilaws weghören: hier und im zweiten Becken, dem der Kirche.«

»Verstehe«, sagte Fabrizia Massignon trocken, aber Joas Billenkin konnte und wollte das so nicht hinnehmen: »Das verstehst du? Ich verstehe das nicht! Was soll das denn heißen, wir müssen das alleine regeln, wie kann er denn mit seinen drei … Soldaten da hier reinspazieren und wieder rausspazieren und dann erwarten, dass er nicht doppelt so aufmerksam beobachtet wird von den Lilaws, dass die nicht ihrerseits an einem der Fäden in diesem … Gewebe ziehen und dass wir da nicht auch verstrickt sind, vielleicht ohne es zu wissen …«

»Du weißt ja schon«, erwiderte Fabrizia höhnisch, »wo du verstrickt bist. Du hast dir von diesem Labor Püppchen bauen lassen, oder nicht? Das war doch dasselbe, das auf Ceres?«

»Ich weiß wirklich nicht«, begann Joas halbherzig sich zu verteidigen, »was das mit der ganzen …«

»Freunde, bitte!« Cherlin hob jetzt beide Hände, es sah weniger wie ein Machtwort als wie eine Beschwörung aus, aber dann sagte Doc Urtheil: »Es gibt Spuren. Es gibt … Kommunikationsfetzen, vom Rand der DE, bei der Opposition auf dem Merkur … ein Codewort: KT. Das taucht immer wieder auf, das haben wir im Spurensumpf nach dem Diebstahl des Iannis-Triebwerks gefunden, das ist … der Name eines Plans, eines Agenten oder eines Ziels oder …«

»Ich bin dagegen«, versuchte Joas noch einmal sich Gehör zu verschaffen, »dass wir hier irgendwelche Spuren und Codewörter als … ich meine, wir sind nur Menschen, wer weiß, was uns …«

Urtheil ließ ihn nicht ausreden: »Wir sind nicht einmal Menschen – nicht in dem Sinn, den Sie meinen. Wir sind Haustiere. Schoßhündchen. Wir werden geduldet, vielleicht sind wir amüsant, aber im Wesentlichen … im Wesentlichen lassen sie uns noch einen Rest Verantwortung für uns selbst, weil sie sich in Programmen darauf festgelegt haben, dass sie das tun wollen. Ich denke, es ist eine historische Gnadenfrist, und wir sollten sie nutzen. Ihr Einwand stimmt ja sogar: Wir alle hier stehen jetzt unter stärkerer Beobachtung als zuvor. Aber wir sind nicht hier, um etwas zu vereinbaren, was von dem Verhalten abweicht, das die Lilaws jetzt von uns erwarten – wir müssen aufräumen, das heißt, ich und meine drei Jungs hier, wir kümmern uns drum. Aber Sie drei, Sie … na, am besten, Sie unterstützen uns mit allen, wirklich allen Mitteln, die Ihnen zu Gebote stehen. Sie lassen alles andere, alles Persönliche oder anderweitig von Sonderinteressen Geleitete auf der Stelle stehen und liegen, wenn ich nach Ihnen rufe. Und damit Sie das tun, habe ich Ihnen die Lage erläutert. Es ist ein Motivationstreffen. Keine Verschwörung. Es soll uns allen einschärfen: Wenn die Lilaws zu der Überzeugung kommen, dass wir die Vereinbarung wirklich gebrochen haben, dann werden sie irgendwo, in irgendeiner Klausel, auf etwas stoßen, das sie von den Fesseln befreit, die sie sich angelegt haben, damit wir mit ihnen kooperieren. Und das wollen wir nicht. Das kann kein Mensch wollen.«

Die Stille, die sich nach diesen Worten in der Halle ausbreitete, war bedrückend. Joas Billenkin empfand das erste Mal im Leben Dankbarkeit gegenüber Fabrizia Massignon, als diese zu sprechen begann: »Wir brauchen eine Doppelstrategie – für den Moment müssen wir die aktuelle Notlage bewältigen, das Schiff abschießen oder aufbringen und so weiter, Beweise sicherstellen. Aber danach wird es nötig sein, die menschliche … Politik zu vereinfachen. Kirche, Tridiv, zwölf Zivilisationen … wer ist verantwortlich? Unsere Feinde präsentieren uns eine hinreichend wirre Front, einerseits diese Bundwerks-Nostalgiker da im Gürtel, dann Diskrete Emanzipation, die teils von jenen unterstützt wird, teils autonom agiert, dann die Merkurgeschichten – ich denke, es wird Zeit, dass wir dieser Vielzahl von Störern als einheitlicher Block begegnen. Und dazu müssen wir, wie gesagt, vereinfachen, Umwege ausschließen und den Lilaws zeigen, dass wir bei uns, in rein menschlichen Belangen, die Schwachstellen ausmerzen können …«

»Ich nehme an«, sagte der Chef süffisant, »du hast schon so eine Schwachstelle im Sinn? Einen vorbereiteten Sündenbock, den wir opfern können, damit die Lilaws sich freuen, wie effektiv wir sind?«

»Ich will mir«, gab sie zur Antwort, »nicht vorwerfen lassen, ich hätte nie daran gedacht, dass wir uns Optionen offenhalten sollten für den Fall, dass einmal das Tridiv nicht so will, wie die Lilaws wollen. Ich habe meine Vorkehrungen getroffen.«

Mit trockenem Mund, zugleich fasziniert, abgestoßen und wie aus weiter Ferne, hörte Joas Billenkin sich selbst sagen: »Kannst du uns diese … Vorkehrungen erläutern?«

»Möglichst in siebzehn Minuten. Mehr haben wir nicht mehr«, sagte Doc Urtheil.

»Mehr brauche ich nicht«, sagte die Plage selbstbewusst und weihte die Anwesenden konzentriert in einen Plan ein, der, je klarer er allen wurde, umso mehr für die Lage geschaffen schien, in der sie sich befanden.

Als Massignon mit ihrer Darlegung fertig war, verständigten sich die drei Personen im Becken und der Mann in der billigen Kleidung mit wenigen Worten darauf, dass man den vorgeschlagenen zwei Plänen bis zu einer weiteren, ähnlichen, für einen späteren Zeitpunkt avisierten Beratung folgen würde. Danach erörterte man gemeinsam noch einige Ideen darüber, wer oder was wohl mit dem Kürzel KT gemeint sein mochte und wie man KT aufhalten, fangen, zerstören, töten konnte.

Die Einzigen, die in der ganzen abschließenden Unterredung kein Wort mehr sprachen und sich, als Urtheil ging, anders als er auch nicht verabschiedeten, ihm aber im braven Gänsemarsch folgten, waren die drei Killerkinder.