H annah setzte sich auf dem Mehlsack im Schneidersitz hin und beobachtete, wie Parker sich auf die Menge zubewegte. Er trug unterm Arm eine vom Obst- und Gemüsehändler weggeworfene Kiste und seine Leinentasche am Rücken. Wie er so durch die Marktbesucher schlenderte, stieß er gegen einen Einkäufer. Seine vorgetäuschte Tollpatschigkeit erregte ziemlich viel Aufmerksamkeit.
»Entschuldigung«, wiederholte er im Weitergehen und taumelte wie ein Betrunkener.
Käufer und Verkäufer schauten immer wieder rüber zu ihm, während er sich weiter durch die Menge bewegte. Schließlich stieß er hart gegen einen mit frischem Brot gefüllten Wagen. Der kippte zur Seite, die Brote fielen zu Boden und purzelten in alle Richtungen. Parker fiel inmitten des Durcheinanders ebenfalls aufs Kopfsteinpflaster. Der Ladenbesitzer baute sich vor ihm auf.
»Was zum Teufel ist los mit dir? Sieh dir das an …«
Parker stand auf, die Hände zur Verteidigung erhoben wie ein Kind, das erwischt wurde bei dem Versuch, Süßigkeiten zu stehlen. »Entschuldigung. Ich kann …«
»Ja, verdammt noch mal, das kannst du! Räum diesen Mist gefälligst auf und du wirst das Brot kaufen, das ich nicht verkauft kriege.«
Fast nichts zog verlässlicher eine Menschenmenge an, als eine öffentliche Auseinandersetzung. Schon hatte sich ein Halbkreis um die beiden gebildet, aber der kahlköpfige Bäcker fuhr in seiner Schimpftirade unbeirrt fort. Ein paar Zurufe kamen aus der Menge, die ganz gerne einen weiteren Kampf gesehen hätte.
»Sofort!«, knurrte der Ladenbesitzer.
»Ist ja gut«, sagte Parker. „Ich tue, was immer Sie wollen … gleich nachdem ich das hier getan habe!«
Er beugte sich herunter, stellte die Kiste auf den Boden, stützte in einer schnellen Bewegung seine Hände darauf ab und hob den Rest seines Körpers zu einem perfekten Handstand, sodass seine Zehen gen Himmel zeigten. Von den Schaulustigen kam ein kollektives Keuchen und selbst der Ladenbesitzer starrte nur ungläubig.
Hannah lächelte, als ihr Freund im Handstand zehn Liegestützen vollführte und dabei laut mitzählte. Obwohl sie wusste, dass er auch locker hundert geschafft hätte, war das Publikum angesichts seiner Demonstration von Kraft und Gleichgewicht schon hellauf begeistert. Einige murmelten von seinem Sieg in der Grube.
Beim letzten Liegestütz fiel ein einzelner roter Ball aus Parkers Leinentasche. Er wechselte in einen einarmigen Handstand und fing den Ball mit seiner nun freien Hand auf, bevor er den staubigen Boden berühren konnte.
Die Menge keuchte und jubelte, der Ladenbesitzer ebenfalls.
Parker sprang von der Box und verbeugte sich vor der Menge. Er griff in die Tasche und zog zwei weitere Bälle heraus, mit denen er, zurück auf die Kiste steigend, jonglierte.
Hannah gönnte sich einen Moment, um einfach seine Showeinlage zu genießen, obwohl sie sie längst auswendig kannte. Während die Menge zusah und lachte, sah sie jede seiner Bewegungen schon vor ihrem geistigen Auge, bevor sie passierten. Sie wusste, dass die Rolle, die ihr Freund in ihrer Partnerschaft spielte, anspruchsvoller war, aber dafür war ihre Rolle bei Weitem die gefährlichere.
Überzeugt davon, dass die Marktbesucher mittlerweile völlig hingerissen waren, machte Hannah sich an die Arbeit. Sie schlängelte sich durch die berauschte Menge und stieß einige Leute im Gehen an.
Die meisten ignorierten ihre kleine Person; sie war scheinbar nur ein weiterer Körper, der sich vordrängelte in dem Bestreben, einen besseren Blick auf die Show zu erhaschen. Sie hatten keine Ahnung, dass Hannahs Hände dabei in sämtliche Manteltaschen und Handtaschen griffen.
Parkers Kasperei forderte ihre volle Aufmerksamkeit, während Hannah sich diverse Brieftaschen angelte. Sie arbeitete schnell und als sie auf der gegenüberliegende Seite des Basars ankam, hatte sie die Taschen ihres Mantels mit so vielen Wertgegenständen gefüllt, wie sie tragen konnte.
* * *
Ezekiel lehnte sich im hinteren Teil des Marktes gegen eine Säule. Wäre sein Gesicht nicht durch die tief hängende Kapuze verdeckt worden, hätte man sehen können, wie sich seine Augenbrauen hochzogen und sich ein erwartungsvolles Lächeln unter seinem Bart ausbreitete.
Der junge Mann verursachte einen gehörigen Krawall, jeder drehte sich in seine Richtung, um den Narren des Marktes bestaunen zu können. Allein Ezekiel beobachtete nicht ihn.
Seine Augen waren auf das Mädchen gerichtet.
Schlau , dachte er. Alle beide.
Sie trug eine dicke Wollmütze auf dem Kopf, aber Ezekiel konnte die Blutergüsse um ihre Augen und Wangen erkennen. Der Vorfall in der Gasse hatte sie nicht gebrochen, sie war stärker als gedacht. Sie saß auf dem Rand eines Mehlsacks und beobachtete die perfekte Vorstellung ihres Partners.
Der Tumult der Menge schwoll an und ab mit ihrer Spannung, während der junge Mann mit einem Satz roter Jonglierbälle erstaunliche Kunststücke vollführte. Als er fertig war, reichte er eine Dose herum, der alte Mann hatte das schon oft gesehen. Straßenkünstler wie dieser nahmen mehr ein als einfache Bettler, aber nicht genug zum Überleben. Ezekiel war sich jedoch darüber im Klaren, dass diese Aufführung nicht ihre primäre Strategie darstellte.
Er sah zu, wie das Mädchen durch die Menge glitt. Ihre Hände bewegten sich geschickt und glitten unbemerkt in die Taschen der Umstehenden, die nicht einmal mitbekamen, dass sie gerade bestohlen wurden. Sie kam in seine Richtung und hatte die Menge fast hinter sich gelassen, als etwas schief ging.
»Verzeihung«, hörte er sie sagen, als sie gegen ihr letztes Opfer am Rand der Zuschauer stieß – ein übergewichtiger Ladenbesitzer in bunter Kleidung, offensichtlich kein Boulevardbewohner.
Sie versenkte ihre Hand in der Manteltasche des Mannes. Blitzschnell streckte er die Hand aus und ergriff ihren Unterarm.
Ezekiel beobachtete, wie die Wangen der jungen Diebin bleich wurden.
Der Ladenbesitzer öffnete den Mund, aber bevor er ein Wort sagen konnte, hatte Ezekiel mit der Hand in ihre Richtung gewunken. Er sprach ein Wort der Macht und seine Augen glühten rot im Schatten seines Mantels. Der Ladenbesitzer erstarrte, sein Mund hing schlaff und seine Augen waren leer, als ob er schlafwandeln würde.
Ezekiel sprach ein weiteres Wort, woraufhin der gut gekleidete Mann das Mädchen losließ und seine Aufmerksamkeit wieder dem Gaukler auf der Holzkiste zuwandte.
Das Mädchen huschte davon, zog aber vorher einen Ring von der Hand des Mannes. Warum eine solche Gelegenheit vergeuden? Sie verschwand in der Menge, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Sie ist entschlossen , dachte Ezekiel. Ein paar Ecken und Kanten vielleicht, aber man braucht immer ein wenig Schneid, um Erfolg zu haben.
* * *
Parker lehnte sich mit dem Rücken gegen die große Eiche am Rande des Kapitolparks und streckte seine langen Beine von sich.
Vor ihm breitete sich eine grüne Rasenfläche aus, die an den Stufen des Kapitolgebäudes endete. Das Sandsteingebäude selbst war ein großes, stattliches Bauwerk, das auf einer Anhöhe saß und dessen Spitze nur ein wenig niedriger ragte als der Akademieturm.
Er hatte gehört, dass es hundert Zauberer einen Monat gekostet hatte, diesen Ort zu errichten und dass zwei sogar dabei gestorben waren. Allerdings flossen Lügen und Übertreibungen durch Arcadia wie Wasser im Fluss Wren.
Der Kapitolpark war das Juwel der Stadt. Kostbare Ressourcen, sowohl magische als auch physische, waren in seine Entstehung geflossen. Es war bis heute der schönste Ort innerhalb der Stadtmauern.
Öffentliche Bauwerke wie dieses wurden alle paar Jahre errichtet. Es ging doch nichts über Großmut, um das einfache Volk zufriedenzustellen. Das ermöglichte dem Gouverneur und dem Rektor der Akademie nämlich, sich den Rest der Zeit auf Projekte zu konzentrieren, die allein ihren Zwecken dienten.
Der Rasen war zu einem viel besuchten Treffpunkt für Menschen aus allen Klassen und Nachbarschaften geworden. Er wurde von der Kapitolgarde patrouilliert – Soldaten in makellosen Uniformen, die dem Gouverneur mehr als alles andere zur Dekoration dienten.
Parker beobachtete eine Gruppe von Müttern aus der Adelsschicht, die beieinander saßen und tratschten, während ihre Kinder auf dem Rasen spielten. Einige Studenten der Akademie hatten mit ihren schicken Kleidern und Bücherstapeln einen Steintisch eingenommen.
Er bemerkte, dass sich um den alten Jedidiah, den sogenannten ›Propheten‹ der Stadt, eine Menschenmenge zu versammeln begann.
Erst vor wenigen Jahren war Jedidiah in Arcadia zu einer beliebten Persönlichkeit geworden. Er kam von außerhalb, trug Lumpen und ernährte sich auf eine Art, über die selbst die Ärmsten die Nase rümpften. Die Leute sagten, er sei jahrzehntelang durch die Wildnis gewandert.
Einige behaupteten, Tiere hätten ihn großgezogen.
Der Prophet hatte, soweit man wusste, kein Zuhause. Stattdessen wohnte er bei seinen Anhängern und zog von Ort zu Ort. Seine Tage verbrachte er im Kapitolpark.
Der innere Kreis setzte sich aus den Anhängern Jedidiahs zusammen, die ihm am nächsten standen.
Draußen zog er immer eine große Menschenmenge an, viele davon wollten nur seine Worte des Tages hören, andere zogen mit Beleidigungen über ihn und seine Jünger her. Doch der Spott schürte nur die Inbrunst seiner Predigten.
Hannah humpelte vom gegenüberliegenden Ende des Rasens auf Parker zu. Er wusste ja, dass sie ihr wehgetan hatten, aber als er sie so aus der Ferne sah, wurde ihm erst klar, wie grausam die Jäger sie misshandelt hatten.
Seine Lippen pressten sich zusammen, innerlich verfluchte er die Jäger, den Gouverneur und diese Stadt. Parker wollte, die Worte des Propheten wären wahr, wären Wirklichkeit . Die Hoffnung, dass das Leben in Arcadia eines Tages anders sein könnte, eingeführt von jenem, den die Leute den Gründer nannten. Dieser Traum inspirierte viele.
Der Mann, der den Grundstein für diese Stadt gelegt hatte, würde laut Jedidiah zurückkommen und ihnen Gerechtigkeit wiederbringen. Aber es war schwer für Parker, diesen Traum am Leben zu halten, wenn die Welt um ihn herum so beschissen war. Na ja, größtenteils beschissen. Immerhin durfte er seine Tage mit Hannah verbringen.
Sie so leiden zu sehen, rückte den Glauben an eine bessere Welt nur noch weiter in die Ferne.
»Wie war’s?«, fragte Parker, die Besorgnis in seiner Stimme unterdrückend. Hannah war stark. Sie wollte weder Mitleid von ihm, noch von sonst irgendwem.
Sie ließ sich ins Gras fallen, breitete ihren Mantel zwischen ihnen aus und leerte den Inhalt ihrer Taschen.
Da waren ein Haufen Münzen und ein paar Scheine, eine kleine Magitech-Laterne, die noch ein wenig Saft übrig hatte und anderer Plunder, der vielleicht von Wert sein könnte, wenn sie ihn auf dem Boulevard verhökerten. Das war die Sache mit der Taschendieberei: Man wusste nie, was man finden würde, sondern nahm einfach, was man kriegen konnte und versuchte dabei möglichst nicht erwischt zu werden.
Das war Regel Nummer eins. Und wahrscheinlich auch Regel zwei, drei und fünf, wenn er ehrlich war.
»Alles gut«, versicherte Hannah. »Dein kleiner Trick mit dem Brotwagen hat gut funktioniert, die Menge hat dir aus der Hand gefressen. Es ist aber auch etwas Seltsames passiert. Am Rand der Menge hab ich noch mal einem Typen in die Beule seiner Tasche gegriffen …«
»Whoa, unser Job ist, Sachen zu klauen! Nach Beulen greifen kannst du in deiner Freizeit«, sagte Parker mit einem Augenzwinkern.
»Du kannst mich mal.« Hannah erwiderte sein Lächeln.
Seine Witze machten ihr nie etwas aus, also stichelte er auch gerne.
Hannah fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Ich griff in seine Tasche und er packte mich. So wie er gekleidet war, wette ich, dass er vorher schon einmal ausgeraubt wurde. Ich hätte ihn einfach in Ruhe lassen sollen. Wie auch immer, ich bin ausgeflippt. Ich meine, er hätte nach den Wachen gerufen! Und der Schock saß immer noch ziemlich tief …«
Sie zeigte auf ihre Stirn. Obwohl Parker das magische Mal der Jäger nicht sehen konnte, wusste er, dass es da war. Er schauderte bei dem Gedanken daran, was passieren würde, wenn die Kapitolgarde das Mal sehen würde.
Parker runzelte die Stirn. »Was hast du getan?«
»Ich hab’ gar nichts getan. Dieser Typ war groß, meine Hand war in seiner Tasche, er hatte mich am Unterarm erwischt und dann hat er mich aus heiterem Himmel wieder losgelassen und sich zu deiner Vorstellung umgedreht.«
Parker lächelte. »Ich bin ja auch ein ziemlich guter Jongleur.« Er zog einen Stock aus dem Gras und drehte ihn zwischen seinen Fingern. »Oder er muss erkannt haben, dass mit dir nicht zu spaßen ist.«
Hannah legte sich ins Gras und streckte ihre Arme aus. »Jep. Mir kommt man besser nicht zu nah.« Sie musterte sein linkes Auge, das seit seiner fünfzehnminütigen Berühmtheit in der Grube weiter angeschwollen war. »Dein Gesicht …?«
»Wunderschön. Und deins?«
»Auch«, sagte sie.
»Wer weiß, vielleicht waren die Matriarchin und der Patriarch dir gewogen«, sagte er in der Hoffnung, sie zu provozieren.
Es funktionierte.
Sie schlug ihm hart auf die Schulter. »Wenn die Bitch und der Bastard existieren, dann sind Leute wie wir ihnen scheißegal. Ich hab’ diese Märchen nach dem Tod meiner Mutter aufgegeben.«
Parker rieb sich den Arm und schaute zum alten Jed. »Ja, du hast wahrscheinlich recht. Wir brauchen sie nicht. Und außerdem wirken wir mit meinem umwerfend guten Aussehen und Charme und deinen spindeldürren, kleinen Taschendiebstahlfingern unsere eigene Magie.«
Sie lehnte sich zurück und schlug ihm erneut auf den Arm, woraufhin er eine übertriebene Grimasse zog.
»Sie sind nicht spindeldürr, sie sind zierlich. Und ich würde nicht auf dein Aussehen wetten. Vielleicht kamen die Leute nur, um zu sehen, wie’n Idiot vom Queen-Bitch-Boulevard sich zum Narren macht.«
Er lächelte. »Kennst mich doch. Ich spiele gern den Narren, wenn’s bedeutet, dass wir was zu essen kriegen.«
Die beiden lagen in der Sonne, ihre Köpfe berührten sich fast. Dies war eines ihrer Rituale, die Beute zu teilen und dann einige Zeit einfach nur zuzusehen, wie die Welt vorüberzog. Außer seiner Mutter hatte Parker nur Hannah. Zusammen mit ihr auf dem Rasen zu liegen, war ein kleiner Vorgeschmack auf das, was der Gründer, wenn es ihn denn wirklich gab, nach Arcadia zurückbringen würde.
* * *
Ezekiel saß auf den Stufen des Kapitols, ein in braunes Papier gewickeltes Sandwich von Morrissey’s in der Hand. Vieles hatte sich verändert, seit er Arcadia verlassen hatte. Viele Dinge, die einst fest zu seiner Heimatstadt gehörten, waren nun verschwunden und durch seltsame Dinge ersetzt worden. Aber Morrissey’s , das erste in der neugeborenen Stadt eingerichtete Restaurant, war immer noch da, fast genauso wie vor vier Jahrzehnten. Eine Mischung aus Nostalgie und Sehnsucht überkam den alten Mann, wie er so dasaß, aber er drängte es von sich. Jetzt war nicht die Zeit für Traurigkeit.
Er war zurück in Arcadia und hatte eine Mission.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er die verschiedenen Gruppen auf dem Rasen des Kapitolparks beobachtete. Die Unterschiede zu damals waren deutlich. Diese Ungeheuerlichkeit von einem Gebäude zum Beispiel stand an einem Ort, der einst aus dichten Wäldern bestanden hatte; das kleine, wilde Fleckchen, das er und seine Freunde innerhalb der Mauern von Arcadia erhalten hatten als Erinnerung an die Wildnis, aus der sie die Stadt geformt hatten. Aber die wilden Flecken innerhalb der Stadtmauern waren nun allesamt gezähmt worden.
Ezekiel sah zu, wie sich der Mann im zerfetzten Gewand vor seiner Gemeinde aufbaute, die Arme hoch erhoben.
»Gute Menschen«, begann der Prophet. »Ich grüße euch im Namen der Matriarchin und des Patriarchen.« Er hielt dramatisch inne und winkte mit ausgestrecktem Arm in einladendem Segen über die Menge.
»Du meinst die Bitch und den Bastard«, rief ein Spötter aus der Menge. »Sie haben uns verlassen, alter Mann, falls du die Nachricht noch nicht erhalten hast!«
Ihn ignorierend, beugte sich der Prophet leicht zu den eng beieinander sitzenden Menschen. »Ah, meine Lieben. Eure Anwesenheit bringt mir Frieden in dieser stürmischen Zeit und den Schimmer einer Zukunft, deren baldiges Kommen sich abzeichnet.«
Ezekiel setzte sich auf und fragte sich, wohin die Rede des Propheten wohl führen würde. Es war immer interessant, die Leute über sich sprechen zu hören.
Ein bisschen, wie an der eigenen Beerdigung teilzunehmen – ohne den unschönen Teil mit dem Sterben.
»Ja, ihr Gläubigen, der Tag wird kommen, an dem der Gründer zurückkehrt, der uns Magie gegeben und ihren Nutzen gelehrt hat. Der Gründer führte uns aus der größten Finsternis, dem Zeitalter des Wahnsinns und er wird in diese Stadt zurückkehren. Er wird sie wiederbeleben, sie mit dem Segen der Matriarchin und des Patriarchen wiederherstellen. Freut ihr euch dessen, meine Lieben?«
Die Menge murmelte zu seinen Füßen, aber die Außenstehenden verspotteten und beschimpften ihn weiter.
»Da kannst du lange warten, alter Hurensohn«, rief sein Zwischenrufer.
Der Prophet hob sein Kinn und lächelte. »Ich werde so lange warten, wie ich muss. Der Gründer wird zu gegebener Zeit zurückkehren. Man sagt, dass er den Tag ersehnt, an dem die Magie wieder richtig eingesetzt wird. An dem die Ungesetzlichen ausgelöscht werden und die Reinheit der Magie in Arcadia wiederhergestellt ist. Vergesst niemals, meine Kinder: Die ungesetzliche Magie ist die Geißel unserer Stadt. Diese Kriminellen und Heiden begehen nachts düstere Taten. Nur die Reinen werden den Segen des Patriarchen und der Matriarchin erhalten.«
Ezekiel schüttelte den Kopf, verärgert über die Worte des Predigers. Zu hören, wie sein Lebenswerk dermaßen verzerrt wurde, war ein Schock, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Etwas stimmt nicht mit dieser Welt , dachte er, aber es ist nicht die Schuld der Ungesetzlichen. Und wenn die Matriarchin hier wäre, wären es nicht die Armen vom Queens Boulevard, die um Gnade betteln würden. Sie hätte nachts ihre ganz eigenen düsteren Taten zu erledigen – wahrscheinlich sogar auch tagsüber. Wenn dieser Narr nur wüsste …
* * *
»Ich muss zurück zum Queen-Bitch-Boulevard«, sagte Hannah und setzte sich auf. Sie nickte in Richtung der kleinen Menge. »Ganz zu schweigen davon, dass ich diesem Idioten nicht länger zuhören kann.«
»Der Prophet? Wir lachen uns doch immer über ihn kaputt.« Parker blickte von der Menge zu Hannah und zurück.
»Bis gestern«, stimmte Hannah zu und dachte an die Jäger, die sie in der Gasse angegriffen hatten. Sie zog an ihrer Strickmütze, um sicherzustellen, dass das magische Mal noch verdeckt war. Sie war nun selbst genau die Art von Person, gegen die der alte Jed predigte.
»Stimmt. Ich hatte fast vergessen, dass du ja jetzt eine heidnische Teufelsanbeterin bist«, sagte Parker mit einem ironischen Lächeln, aber ein Teil von ihr fand, dass er recht hatte.
Der Prophet und seine Predigten dienten nur dazu, die Menschen von ihren richtigen Problemen abzulenken, denn sie sollten lieber den Ungesetzlichen die Schuld geben als den Adligen. Die Dekrete des Gouverneurs und die Auflagen der Akademie – die Dinge, die den Menschen wirklich schadeten – wurden durch die pervertierte Botschaft des Propheten auch noch unterstützt.
Der Rektor, der Gouverneur und der alte Jed predigten dieselben Ideen. Sie teilten Arcadia auf und eroberten es, jeder von ihnen eingenistet in den Herzen eines anderen Stadtteils. Der Prophet zog die Menschen der Unterschicht an und die Institutionen beherrschten die Oberschicht.
Hannah konnte sich vorstellen, dass Jeds Jünger Selbstjustiz betreiben würden … mit Mistgabeln und Fackeln statt mit Magie und Magitech-Waffen. Der Prophet mobilisierte das Volk gegen die Ungesetzlichen.
Bald würde die Hexenjagd beginnen und dann wäre niemand mehr sicher.
»Ist sowieso alles Pferdescheiße«, sagte Hannah, kam auf die Beine und klopfte sich das Gras von der Hose. »Götter? Gründer? Reinheit der Magie? Alles Pferdescheiße.
Magie ist einfach. Man muss keine verdammte Religion drum herum schaffen. Manche Menschen werden mit ihr geboren, so wie andere reich geboren werden und andere mit ’ner hässlichen Visage wie du. Nur Glück, kein Segen der Götter.«
»Sicher«, sagte Parker. Er hätte ihren Zorn blind bemerken können.
Hannah stopfte ihren Anteil der Beute in ihre Taschen. »Gute Arbeit heute. Ich muss los. Ich muss sehen, ob ich etwas für William besorgen kann, falls er wieder krank wird.«
»Sei vorsichtig«, sagte Parker. Sie wusste genau, was er meinte. Die Jäger waren immer noch auf der Jagd und sie wollte nicht erleben, zu welchen Gewalttaten ihre Wut sie anstacheln konnte.