Marie ist als Erste an Lenas Seite. Sie schiebt ihr eine verbeulte Trinkflasche unter die Nase: »Lena, alter Schwede, was machst du?« Über den Kopf der Freundin hinweg entscheiden sie und Alice sich gegen den Notarzt. Schon kommen Terje und die anderen herbeigestürmt, legen Lenas Beine auf einen Stuhl, stellen Fragen wie »Wann hast du zuletzt was gegessen?« und verhindern ein weiteres Gespräch. »Kein Grund zur Aufregung, bitte, kein Theater meinetwegen! Mir war nur etwas schwindlig.« Abwehrend hebt Lena die Hand, aber der Kreis um sie herum schwirrt von Ratschlägen. Sämtliche Chorschwestern stehen jetzt bei ihr, und natürlich hat jede von ihnen ein anderes Hilfsangebot. Schließlich nimmt Lena einen Traubenzucker in Lolliform an, den Aliki, die Mutter von Kleinkindern, aus dem Rucksack gekramt hat. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie den Stiel mit dem kalkigen Zuckerquadrat und beißt behutsam Stücke davon ab. Als Marie sie erneut auffordert, mehr zu trinken, wird Alice klar, dass sie wahrscheinlich als Einzige hier im Raum weiß, wie diese Metallflasche zu ihren Macken gekommen ist und weshalb eine Schwäbin wie Marie die Wendung »Alter Schwede« benutzt.
Plötzlich geht Alice das Gewäsch und Gewimmel auf die Nerven. Energisch bittet sie um Ruhe. Die Frauen verstummen sofort. Alice wird sonst nie laut, und als sie jetzt ihre Stimme erhebt, macht das umso größeren Eindruck. Sie schämt sich für die erregte Schar rund um die angeschlagene Lena. Die anderen wirken auf sie nicht hilfsbereit, eher so, als stillten sie einen ungesunden Wissensdurst am Anblick der Gestrauchelten. Ihr drängt sich ein Bild auf, ein Gemälde – sie hat es zusammen mit Fred auf einer Reise durch die Niederlande gesehen und nie vergessen: ein paar Männer vor einer graubleichen, bärtigen Leiche, der ein Arzt gerade den Arm aufschneidet, so dass rohes Fleisch samt Muskel- und Sehnensträngen sichtbar wird. In ihrer Erinnerung hat sich nicht der nackte Tote festgesetzt. Stattdessen hat sie noch immer die Mienen der Zuschauer vor sich: ihre weit geöffneten Augen und verzogenen Münder voller Anspannung, Schrecken und Erleichterung – denn sie liegen noch nicht auf diesem Tisch, können jederzeit davonspazieren, hinaus in die Sonne, weiterleben. Aber das Wissen um diese Tatsache macht ihre Blicke auf den hingestreckten Toten schamlos. Außer in Maries sorgenvollem Gesicht glaubt Alice diese unanständige Überlebensfreude bei allen anderen Frauen zu finden.
Langsam bekommt Lena wieder Farbe. »Ich fürchte, ich habe heute einfach nicht genug gegessen.« Sie schlägt die Augen nieder. Alice stellt fest, dass der sorgfältig aufgetragene Lidschatten, ein cremiges Rosa, das normalerweise frisch und verwegen wirkt, in dem fahlen Gesicht nur grotesk aussieht. Am Arm spürt sie noch immer den harten Griff der Freundin. Wie fest sie zugepackt hat! Vielleicht wird sie heute Abend beim Ausziehen die Spuren von Lenas Angst auf ihrer Haut erkennen. Unvermittelt fangen Alices Finger zu zittern an; sie merkt es, als sie tröstend die Schulter der Freundin berühren will. »Hier muss frische Luft rein«, sagt sie und geht auf die andere Seite des Saals, um die Tür zu öffnen. Sie selbst ist es, die kurz durchatmen muss. Ein Fenster wird sie nicht aufmachen. Der Gedanke an Kälte und Regen in Lenas ungeschütztem Nacken lässt sie frösteln.
Als sie die schwere Holztür öffnet, hört sie Geschrei: »Mama, halt’s Maul! Geh mir nicht auf den Sack, okay? Das ist meine Sache, das geht dich nix an.« Nur wenige Meter vor den Stufen zum Eingang parkt ein Moped. Ein kräftiger dunkelhaariger Junge steht breitbeinig daneben, den Oberkörper vorgeneigt. Unter einem Arm klemmt der Helm, das nasse Gesicht ist voller Wut. Cora ist fast so groß wie ihr Sohn. Ihre Kapuze hat sie zurückgeschlagen, als wollte sie Gleichheit zwischen sich und ihm schaffen, indem sie ihren Kopf dem Regen aussetzt, genau wie er.
Was sie sagt, versteht Alice nicht, denn Cora steht mit dem Rücken zur Tür und nuschelt wie gewöhnlich, aber sie sieht ihre Schultern und erhobenen Arme, alle zehn Finger in Abwehr gespreizt. Der Junge brüllt, seine Stimme kippt dabei: »Du blöde Fotze!« Er stülpt sich den Helm über, stolpert beinahe, als er den Ständer wegtritt und auf die Maschine steigt. Beim Start lässt er das Bike mehrfach aufheulen, holpert über den Vorplatz und biegt in die Filderstraße ein.
Alice duckt sich, aber Cora dreht sich bereits um und entdeckt sie. In ihrer Stirn kleben feuchte Haare, der Mund steht halb offen. Um ihr ein Gespräch zu ersparen, weicht Alice in den Saal zurück und geht wieder zu Lena. Sie dreht sich auch nicht um, als sie Coras Schritte, das Knistern ihrer Jacke hört, ein glänzendes, billiges Material, bei dem Alice an Luftballons aus Metallfolie denkt, wie sie auf Jahrmärkten verkauft werden. Mit lautem Scheppern fällt etwas zu Boden, bestimmt Coras Schlüsselbund. Das geschieht nicht zum ersten Mal, und Alice sieht automatisch Lena an. Die zwinkert ihr tatsächlich zu, zwar immer noch bleich, aber schon wieder aufmerksam für alles ringsum. »Mondkalb«, denkt Alice und muss ebenfalls grinsen, weniger über Coras Missgeschick als über Lenas Wiederauferstehung. Zugegeben, sie haben sich ab und zu über die Frau lustig gemacht – allein die Unbeholfenheit, mit der sie sich bewegt, ausgestattet mit einem Trumm von Schlüsselbund, der ihr die Hosentasche ausbeult wie bei einem kleinen Jungen. Jeder Schlüssel trägt ein farbiges Käppchen, vermutlich hängt da pro Haushalt einer. Sie hat bestimmt jede Menge Putzstellen gefunden, wenn auch nicht bei den Cantarinen.
Jetzt meldet sich Terje, die noch am Fenster steht, winkt hastig: »Cora, kannst du kurz kommen?« Zögernd, als ob sie eine Strafe erwartet, tritt Cora auf die Chorleiterin zu, ihre Augen suchen Maries Blick. Gerade von ihr, die sie hierher gebracht hat, scheint sie Schutz und Hilfe zu erwarten, aber ihre Gönnerin hat sich wie eine Schildwache hinter Lena postiert und schaut nach unten auf den weißen Scheitel der alten Frau.
»Lena hatte einen Schwächeanfall«, erklärt Terje, »du kennst dich doch mit so was aus.« Lena protestiert, mit ihr sei alles in Ordnung, man solle ihr doch nur etwas Ruhe gönnen, aber Cora hat sie bereits, ohne zu fragen, am Handgelenk gepackt, es umgedreht und ihre Finger auf das grünliche Aderndelta gepresst. Mit der Linken stellt sie unterdessen die Stoppuhr am Smartphone ein, das sie an einer Kordel quer über dem Oberkörper trägt. Alice staunt, wie geschickt sie sowohl ihre linke als auch die rechte Hand benutzt. Fast wie ein Affe, denkt sie und schämt sich sofort dafür. »Der Puls ist okay«, sagt Cora und lässt Lenas Arm wieder los. »Genug trinken, das vergessen die Alten oft.«
Langsam richtet sich Lena auf, erhebt und schüttelt sich wie ein großer Vogel nach einem Sandbad. Der helle Schal fällt königlich über ihre Schultern. Abwesend reibt sie sich die Stelle, an der Cora zugegriffen hat. Talitha tritt neben sie und hakt sie unter. Alice wundert sich, wie bereitwillig Lena diese Unterstützung annimmt. »Bist du sicher, dass es wieder geht?«, fragt Marie. »Bitte, macht mich doch nicht zum Pflegefall!« Jetzt klingt sie ärgerlich, wehrhaft. Terje hat aufgehört, ihren leeren Kaffeebecher zwischen den Händen zu drehen, und sitzt wieder am Klavier. »Wir nehmen uns Juhan Liiv vor, einmal von vorne, dafür reicht die Zeit noch.«
Lena steht aufrecht und singt mit, aber ihre Hand verkrampft sich in der von Alice. Die Ringe der Freundin drücken gegen ihre Fingerknöchel. Gern würde sie sich befreien, denn die großen, breit gefassten Halbedelsteine tun richtig weh. Doch sie traut sich nicht. Marie, textsicher bei »Ta lendab mesipuu pole«, hat ihre Lesebrille abgenommen und schaut ständig zu ihnen hinüber.
Obwohl sie das estnische Lied liebt, findet Alice nicht mehr in die Musik. Sie macht zwar alles richtig, kein falscher Ton stört, doch die Empfindung, beim Singen fast abzuheben, kommt heute nicht auf. Sie fühlt sich eher, als ob sie mit aller Kraft gegen eine verschlossene Tür anrennt. Die Stimmen der anderen klingen wie ein dutzendfach verstärkter Tinnitus, und sie ist erleichtert, als die Probe schließlich vorbei und Lena nicht erneut umgekippt ist.
An der Garderobe hilft Alice Lena in den Mantel. Marie ist schon wieder da, tanzt hektisch um sie herum: »Ich bring dich heim«, wiederholt sie mehrfach. Alice reicht Lena die Handtasche, dabei sieht sie an Marie vorbei. »Ich habe das Auto vor der Tür.«
Jetzt bleibt auch Talitha bei ihnen stehen, mustert Lena von Kopf bis Fuß: »Du brauchst einen Schutz.« Ihr Ton duldet keinen Widerspruch. Aus der Brusttasche ihres Blaumanns nestelt sie etwas, das sie Lena in die Hand drückt. Nicht noch mehr Wurzelgemüse, denkt Alice. Doch die Gabe entpuppt sich als einfacher Rosenkranz mit hölzernen Perlen und einem grob geschnitzten Kreuz. »Die Mutter Gottes passt auf dich auf. Sie macht es dir leicht, du kannst immer mit ihr sprechen«, sagt Talitha. Als sie lächelt, findet Alice ihr metallverziertes Gesicht fast schön. Lena bedankt sich, steckt die Gebetskette mit verwunderter Miene ein, sieht dem seltsamen Geschöpf nach, das nach einem raschen Abschiedsgruß in die Dunkelheit hinauseilt.
Es ist Lena, die eine Entscheidung trifft. »Marie, ich komme mit dir. Ein paar Schritte an der frischen Luft sind genau das, was ich brauche. Und außerdem hat Alice heute Abend doch etwas vor.« Sie zwinkert ihr schon wieder zu. »Die Feier eures Kennenlernens, wenn ich mich nicht täusche, oder? Ein liebevolles Gedenken mit besonderem Gebäck. Was war es doch gleich, Himbeertörtchen?« Marie runzelt die Stirn. Die Sorge ist aus ihrem Gesicht gewichen, und Alice ist sich nicht sicher, was sie jetzt darin sieht. Abrupt wendet sie sich ab, hat ein für alle Mal genug davon, Maries zahlreiche Mienen zu deuten, und ergreift Lenas Arm: »Ich werde dich trotzdem schnell nach Hause fahren. So ein Unfug, nach dieser Vorgeschichte zu laufen. Fred kommt sowieso nicht vor neun.« Ohne abzuwarten, führt sie die Freundin nach draußen. Die trippelt nur, lässt sich widerstandslos mitziehen. An der gelbgetünchten Mauer vor dem Parkplatz für Gemeindemitarbeiter lehnen ein paar Leute. Ist Sophie doch noch gekommen? Alice hält Lena fest. Die Schachtel mit den Ohrringen befindet sich in der rechten Manteltasche.
»Götz!« Alice spürt Maries ungestüme Kraft, als sie sich an ihnen vorbeidrängt. »Was für eine Überraschung!« Sie fällt ihrem Mann um den Hals, dabei macht sie ein glucksendes Geräusch, wie immer, wenn sie sich freut. Götz legt einen Arm um seine Frau, küsst sie auf die Stirn und drückt sie kurz an sich. Er ist groß, blond und ziemlich schmal gebaut, trägt Parka und spärliche Bartstoppeln. »Hallo, Marie«, sagt er. »Ich hab euer letztes Lied gehört, klingt schön. Wann tretet ihr wieder auf?« Freundlich nickt er Alice und Lena zu. Schon diese wenigen Worte verraten den Norddeutschen, sein Tonfall klingt etwas blechern. Marie hat seine Hand genommen, sie redet ohne Pause, dass sie sofort wegen eines Tischs bei ihrem Lieblingsitaliener anrufen wolle, aber vorher solle er doch bitte kurz Lena anschauen, denn sie habe eine Schwindelattacke gehabt, und sie müssten sie vor dem Essen unbedingt noch heimfahren. Als sie sich zu Alice und Lena umdreht, lächelt sie so breit, dass man beide Zahnreihen sieht. »Komm Lena, Götz untersucht dich!«
Erst in diesem Augenblick entdeckt Alice die beiden leicht verlotterten Männer, einen älteren und einen jungen. Sie treten hinter der Mauer hervor und kommen auf sie zu, dicht nebeneinander, als ob sie sich gegenseitig vor Regen und Kälte schützen wollten. Der ältere trägt einen Rucksack über der Schulter, der junge hat eine vollgestopfte Plastiktüte dabei. Er ist es auch, der zaghaft die Hand hebt und Götz grüßt. »Herr Doktor, wir sind da, der Kartak und ich.« Die Glocken der Markuskirche schlagen zur vollen Stunde. Im Geläut geht alles Gesprochene für eine Weile unter. Danach wendet sich Götz an Marie: »Du weißt doch, dass ich die Kontrollen mache. Ich komme von einem Hausbesuch, da wollte ich dir kurz Hallo sagen. Und dann treffe ich Kartak und einen seiner Kollegen«, er weist auf den jungen Mann, »und nehme sie mit in die Praxis. Da ist mehr Druck dahinter, wenn sie wissen, dass ich vor ihrem Haus auf sie warte.« Er zeigt auf einen rußschwarzen Altbau gegenüber der Kirche.
Nach seiner Erklärung versteht Alice zum ersten Mal, was es bedeutet, jemandem den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eben noch war Marie in voller Fahrt, stolz gebläht, doch jetzt fällt sie schlaff in sich zusammen, ihr ganzes Gesicht hängt herunter, Mundwinkel, Lider, Wangen. Sie lässt Götz’ Hand los, tritt einen Schritt zurück. »Marie, du weißt doch, wie wichtig das ist.« Zu Lena sagt Götz: »Sie können morgen früh in meine Sprechstunde kommen.« Er nickt noch einmal in die Runde und zieht mit Kartak und dem jungen Mann davon. Sie überqueren die Filderstraße bei Rot und verschwinden in einer der bergan führenden Seitenstraßen.
Auf dem Weg zum Auto schweigt Lena. Alice überlegt, ob auch sie weiß, wie heftig Marie werden kann, wenn sie wütend ist. Einmal hat sie Alice eine Macke in ihrem Wohnzimmerparkett gezeigt und ihr gestanden, da habe sie einen Teller nach Götz geworfen. Sie ist sich sicher, dass Kartak einer der Hauptgründe für Streitigkeiten zwischen Marie und ihrem Mann ist. Ihm und anderen Alkoholikern bietet Götz tägliche Abendtermine an, bei denen er prüft, ob sie tagsüber getrunken haben. Allein, wie Marie den Namen Kartak ausspricht, als schleuderte sie einen Batzen Speichel heraus. »Dieser widerliche Säufer! Weißt du, was Götz jetzt wieder getan hat? Er lässt ihn den Eingangsbereich in der Praxis renovieren, da ist seit Jahren nichts geschehen, ist wirklich dringend nötig, und wir haben einen Maler bestellt, also ich natürlich, und was tut Götz? Er verbringt den ganzen Sonntag mit seinem Kartak in der Praxis und lässt den die Tapeten runtermachen, als Therapie!«
Im Wagen schaltet Alice sofort die Sitzheizungen an. Lena gähnt und fröstelt. Ein Glück, dass sie nicht zu Fuß gegangen ist. Am liebsten würde Alice sie fragen, ob Marie ihr je davon erzählt hat, wie sie Götz kennengelernt hat, aber sie möchte keinen Vertrauensbruch begehen. Nachdem sie Lena abgesetzt hat, wartet sie, bis in ihrer Wohnung das Licht angeht.
Zu Hause hängt der Geruch von Zitrusreiniger in allen Räumen. Bogdan hat sämtliche Sofakissen hintereinander aufgereiht und Keile hineingehauen: Alice wirft sie wieder durcheinander. Fred ist nicht da. Sie zieht ein langes grünes Samtkleid an und deckt den Tisch für zwei, mit Kuchentellern, Sektgläsern und den Brombeertörtchen auf einer silbernen Platte. Die Kerzen zündet sie noch nicht an; stattdessen setzt sie sich in die Sofaecke, zieht die Beine zum Kinn hoch, schaut aus dem Fenster auf die beleuchtete Stadt und denkt an Marie, die in diesem Moment wahrscheinlich ebenfalls auf ihren Mann wartet. Über den Kennenlerntag von ihr und Götz weiß Alice Bescheid; Marie hat ihr davon erzählt, als sie sich noch gut verstanden haben.
Die fette Marie hasste sich selbst, seit sie denken konnte. Vielleicht gab es in ihren frühen Kindertagen eine Zeit, in der sie fröhlich erwacht war, an ihren rosigen Beinchen und Ärmchen hinunterschaute, ihr rundes Gesicht mit den dunklen Locken im Spiegel versonnen betrachtete und mit sich zufrieden war. Aber diese Zeit hatte sie vergessen. Sie war ein fettes Kind und wurde ein fettes Mädchen, zu dem alle sagten: Dein Gesicht ist ja ganz hübsch, aber du bist fett. Weshalb frisst du so viel? Bekanntlich sind solche Sätze unnütz. Bei der fetten Marie bewirkten sie nur, dass sie selten sprach, keine Freunde hatte und den ganzen Tag lesend zu Hause saß. Überall bekam sie die besten Noten, sie war eine fette Streberin, die ein ausgezeichnetes Abitur machte und davon träumte, neu anzufangen, irgendwo, wo niemand sie kannte, und zog in die nördlichste und größte Stadt, die ihr einfiel, nach Hamburg. An der Universität merkte sie, dass sie verlernt hatte, mit anderen Menschen zu reden. Sie blieb einsam und unglücklich, aber sie war eine gute Studentin. Das dauerte bis zu einem Frühlingstag, als der fetten Marie an der Haltestelle vor der Staatsbibliothek ihre neue Trinkflasche aus Metall vor den einfahrenden Bus kullerte. Marie sprang hinterher, ohne nachzudenken. Der Fahrer legte eine Vollbremsung hin, beschimpfte sie durch seinen Lautsprecher als »fette, verblödete Kuh«, schloss ihr die Türen vor der Nase und fuhr unter dem Lachen der anderen Fahrgäste davon. Marie blieb weinend zurück, Beulen in der Flasche, Schrammen an den Knien und Straßendreck auf dem Mantel. Ein junger Mann kam von der Bibliothek herangeschlendert und überquerte die Straße auf dem Weg zur Haltestelle. Er war groß, schlank und blond. Als er sah, was geschehen war, beschleunigte er seine Schritte.
Während Götz der fetten Marie mit spöttischem Gesichtsausdruck den Staub abklopfte, fasste sie einen Entschluss. Sie wies mit ihrer Grübchenhand auf eine pseudorussische Bar an der gegenüberliegenden Straßenseite und sagte: »Du hast dich wahrhaft ritterlich verhalten. Ich lade dich zu einem Cocktail ein.« Götz, der als Medizinstudent dicke Menschen besonders streng beurteilte, wand sich erst ein wenig. Aber es war Freitag, früher Abend, er hatte sein Lernpensum für diesen Tag durch und nichts Besseres vor. Kaum saßen sie, stellte seine Begleiterin etwas klar: »Nur, damit du weißt, mit wem du es zu tun hast.« Sie klappte ihr knallrotes Kunstlederportemonnaie auf und zog ein Foto heraus. »Das bin ich.« Die Aufnahme zeigte eine hübsche Frau, Kleidergröße 34. Die fette Marie trug etwas jenseits von XL. Sie schwitzte im Gesicht. »Ich sehe dir an, dass du mir nicht glaubst. Ist ja auch nicht ganz einfach.« Bei diesen Worten versetzte sie ihrem Oberarm einen Stipps, dass der herabhängende Speckwulst, den die kurzärmelige Bluse freiließ, sanft schaukelte. »Ich bin übrigens die fette Marie.« Mit Götz’ Fassung war es vorbei. »Was!?«, stieß er hervor und starrte zwischen Frau und Foto hin und her. Mit einer selbstbewussten Geste warf die Fette – die fette Marie, sie hatte dieses Wort in den Mund genommen – ihr Haar in den Nacken. Es hatte wahrhaftig dieselbe dunkle, gelockte Textur wie das der dünnen Göttin auf dem Bild. Sie hatten auch die gleichen Augen, groß und kugelrund geschnitten, unter dichten dunklen Brauen. »Sieh nur genau hin. Als Mediziner weißt du ja, wie selten eineiige Zwillinge sind.« Sie kicherte, bestellte beim herangetretenen Kellner zwei Tequila Sunrise und sagte, er solle nicht geizig mit dem Knabberzeug sein. »Jaja«, murmelte Götz, »vier von eintausend.« »Ich habe ein Jahr in Frankreich gelebt und dort studiert«, warf die fette Marie locker ein, während sie die obersten Knöpfe an ihrer Bluse öffnete, so dass der tiefe, warme Spalt zwischen ihren ungeheuren Brüsten zu sehen war. Sie wusste genau, dass es unmöglich war, dort nicht hineinzustarren. »Natürlich in Paris. An der École nationale supérieure des beaux-arts, die gehört zu den besten Kunsthochschulen der Welt. Mein Projekt«, sie sprach es auf Französisch »project« aus, »war eine Verwandlung, une métamorphose. Es heißt«, sie machte eine Pause, in der sie ihm tief in die Augen sah (jetzt war es Götz, der schwitzte), »la Marie grosse, die fette Marie.«
Der Kellner kam mit ihren Drinks, sie sog kräftig an ihrem Strohhalm, ohne mit ihrem Begleiter anzustoßen. »Ich habe dafür zugenommen, mehr als einen Zentner. In Frankreich geht das einfacher als hier, mit dem ganzen Käse und den Patisserien.« Sie leckte sich die Lippen des hübschen Mundes und zog eine Klarsichthülle aus ihrer Laptoptasche. Darin war ein großer Ausschnitt aus einer französischen Zeitung. Götz betrachtete das Blatt. »Das ist unglaublich«, flüsterte er. Auf dem Bild unter dem Artikel sah man ein nacktes Frauenbein, feist und voller Grübchen, es ging über in eine pralle Pobacke. Der Leibesausschnitt ruhte auf einem mit weißen Laken verhüllten Tisch. Die zarte Haut war über und über mit Zeichnungen bedeckt, mit Bildern und Aufschriften. Götz erkannte mindestens ein Dutzend verschiedene Sprachen und Schriften. Obszönitäten und Beschimpfungen, krude Skizzen von Geschlechtsteilen, Telefonnummern, Adressen, neben kleinen Comics, Smileys, Ornamenten, einem Gedicht, das mit den Worten »Au claire de la lune mon ami Pierrot« begann. »Für sechs Stunden habe ich regungslos bäuchlings auf einem Tisch gelegen, in einer Galerie im Marais. Das Publikum konnte sich aus einer Box Kugelschreiber nehmen, sie durften auf meine Haut schreiben oder zeichnen, alles, was sie wollten. Nur verletzen durften sie mich nicht, ich war nicht so mutig wie Marina Abramovic, es gab eine Security.« Sie stopfte sich ein paar Salzstangen in den Mund und sprach kauend weiter. »La grosse Marie – die fette Marie. Landscapes of flesh – Paysages du viande, das war meine Abschlussarbeit. Wie du siehst, gab es gute Presse.«
Sie tippte mit dem dunkelroten Fingernagel auf die Titelzeile der Zeitung, Le Monde, 20. Oktober 1995. Götz, der kein Wort Französisch sprach, starrte erst die Zeitung an, dann Marie. »Du hast dich mit Absicht dick gefressen?« Er warf die Hülle mit dem Artikel auf den Tisch. »I wanna cum into your fat face«, er las laut vor. »Fetten Fotzen wie dir sollte man den Arsch bis zum Stehkragen aufreißen!« Die fette Marie lächelte. »Ein Kunstwerk verlangt Opfer, findest du nicht?« Götz zeigte sich empört. Er begann, die Risiken der Adipositas, er sagte zwischendurch immer wieder Fettsucht, in allen Einzelheiten auszubreiten – Schlaganfall, Gelenkverschleiß, gesellschaftliche Ächtung. »Du meinst vorhin, am Bus?« Er fing an, auf seinen Nägeln herumzukauen. »Das auch. Aber wenn du so ausgesehen hättest wie da«, er wies auf das Foto aus dem Portemonnaie, »hätte ich dich eingeladen und nicht umgekehrt.« Die fette Marie zerbiss knirschend einen Eiswürfel. »Ich werde wieder so dünn werden wie vorher«, sagte sie und sah Götz dabei fest an. »Das war bei diesem Projekt von Anfang an mein Ziel.« Er legte den Kopf schief. »Ein guter Vorsatz, aber verdammt schwierig.« Marie orderte neue Drinks. Götz schüttelte den Kopf. »Du solltest das nicht tun. Alkohol hat viele Kalorien.« »Bist du jetzt mein Diätcoach?«, fragte die fette Marie. Und Götz antwortete: »Ja, warum nicht?«
So begann die Geschichte von Götz und Marie. Am nächsten Morgen bestellte er sie in ein Krankenhaus, in dem er gerade ein Praktikum in der Geriatrie machte. Vor zwei Gläsern Mineralwasser in der Cafeteria entwarf er für Marie einen Ernährungsplan auf der Basis von Hähnchenbrust, Gemüse und Vollkornprodukten. Sie musste täglich zum Wiegen und Blutdruckmessen in seinem WG-Zimmer antreten, und er sah ihr mit konzentriertem Gesichtsausdruck zu, wenn sie im Abendrot auf einem Sportplatz ihre Runden drehte, weinend, schwitzend und hustend. Fasziniert beobachtete er, wie sich aus den Speckfalten ein schmales, graziöses Geschöpf hervorschälte, das er von Tag zu Tag großartiger fand. Die fette Marie sprach nicht mehr viel. Sie hatte genug damit zu tun, sich abzustrampeln, gesund zu essen und nebenbei ihre Magisterarbeit zu schreiben. Nach dem Training, Götz lief mit, seit sie ein normales Tempo vorlegte, saßen sie verschwitzt nebeneinander auf einer der Zuschauerbänke und tranken Wasser aus Fahrradflaschen. Götz ließ sich von Marie seinen Prüfungsstoff abfragen und nannte sie »Marie-Marie« nach einem alten Song, den sie beide mochten. Sie erzählte ihm von ihrem Praktikum in der Kunsthalle; dort unterstützte sie die Abteilung für Museumspädagogik, organisierte Führungen für Schulklassen und gab zu, dass sie Kinder mochte.
An einem warmen Abend im September überquerte ein junger Mann in Jeans und Polohemd die Laufbahnen. Als er Marie entdeckte, riss er den Arm hoch, winkte enthusiastisch und kam auf sie zu. Götz blieb mit Absicht sitzen. Er konnte nicht fassen, wie tief er diesen grinsenden Menschen hasste. Er war Jurastudent und hatte Marie in der Staatsbibliothek angesprochen, natürlich erst, als sie schon dünn gewesen war. Götz wusste, dass sie dort manchmal zusammen Kaffee tranken. Jetzt spürte er, wie heftig sich sein Magen bei Maries fröhlichem Gesicht, ihrem Zurückwinken und den Küssen zusammenkrampfte, die der Kerl auf ihre erhitzten Wangen tupfte. Nach der Begrüßung zog er Karten für ein Konzert in einem Club aus der Tasche. Marie schien eingeweiht. Ihr Ausgeh-Outfit hatte sie in der Sporttasche mitgebracht und sich in der Umkleide frisch gemacht. Lachend ging sie im Minikleid zwischen den beiden Männern, die sich gegenseitig musterten. Marie sah Götz träumerisch an. »Komm doch heute Abend mit«, schlug sie vor. »Die sind seit Tagen ausverkauft«, grätschte der Juratyp dazwischen. Natürlich gab es noch eine Karte für Götz. Das Konzert war stimmungsvoll und irgendwann küsste Götz Marie mitten auf der Tanzfläche.
Gelungene Liebesgeschichten zu erzählen, ist langweilig, denn sie hören sich alle gleich an. Marie und Götz blieben zusammen, machten ihre Abschlüsse, und als Marie, für die die Jobsuche wesentlich schwieriger war als für ihn, endlich eine Stelle in Tübingen fand, war Götz neugierig auf den unbekannten Süden und ging mit. Schon bevor sie ihre Töchter bekommen und nach Stuttgart gezogen waren, spürten beide, dass die Zeit auf der Aschenbahn, zwischen Waage, Stoppuhr, Keuchen und Mineralwasser, etwas Besonderes gewesen war. Was danach kam, überstrahlte niemals diese Gloriole. Wenn Götz die hoffnungslosen Fälle unter seinen Patienten zweimal täglich besuchte und dabei zusah, wie die Verkrampfungen ihrer Leiber sich unter dem Morphium auflösten, das er ihnen spritzte, spürte er eine Andeutung jenes Gefühls, das ihn bei Maries langsamer Schmalwerdung erfüllt hatte, beim Anblick ihrer anbetenden Augen. Wenn Marie mit ihren Mädchen Kraniche aus Buntpapier faltete oder zu einem Waldspaziergang aufbrach, obwohl sie nach den Stunden im Büro so erschöpft war, dass sie bei jeder Geringfügigkeit explodierte, wenn sie gesund kochte, um ihr Gewicht zu halten, oder sich in eine enge Jeans zwängte, hoffte sie auf diesen Ruck, der bei ihrem Anblick damals durch Götz’ ganzen Körper gegangen war, ihm die Mundwinkel hochgezogen und sein Gesicht mit einem einzigen breiten Grinsen erleuchtet hatte.
Was ihnen stattdessen geblieben war, konnte niemand ernsthaft schlecht nennen. Götz fand sich zurecht in diesem Leben; er liebte es, kranken Menschen zu helfen, er liebte seine Töchter, und auch wenn er den Südwesten und die dortigen Eigenarten nicht besonders schätzte, war er doch nicht unglücklich in seiner neuen Heimat. Auf Marie war er stolz; ihre Verwandlung gehörte zu den größten Erfolgen seines Arztberufs.
Sie hatte ihm nie erzählt, wie viele Stunden vor ihrem Sturz an der Bushaltestelle sie mit Beobachtungen verbracht hatte, wie oft sie an seinen Arbeitstisch in der Staats- und Universitätsbibliothek herangeschlichen war, um herauszufinden, welches Fach er studierte, oder wie oft sie sich in der Nähe seiner Mediziner-Clique vor dem Kaffeeautomaten herumgedrückt hatte. Wer beachtete schon ein fettes Mädchen? In Paris war sie tatsächlich gewesen, sogar an der École nationale supérieure, wenn auch nur als Kunstgeschichts-Studentin. Dort wurde sie »la grosse Marie« genannt, das entsprach der Wahrheit. Einige Studenten und Dozentinnen hatten sie ziemlich gemobbt, und sie brach ihr Auslandssemester vorzeitig ab. Das gemeinsam mit Götz erkämpfte Gewicht zu halten, fiel ihr nicht leicht, besonders nach den Geburten. Außerdem konnte sie nicht glauben, dass sie inzwischen wirklich aussah wie das Mädchen auf dem Foto, das eine entfernte Kusine zeigte. Immer wieder fragte sie ihren Mann, ob er sie wirklich schön fände und liebe. »Hör mit dem Gebettel auf, Marie«, hatte Götz irgendwann gesagt. Später ging er gar nicht mehr auf diese Fragen ein. Marie aber hielt Ausschau nach jemandem, der anfing zu leuchten, wenn sie auftauchte. Ihre Kinder taten das für eine lange Zeit. Danach fing sie wieder an zu suchen.