11

Das Mädchen steht an der Wohnungstür und schließt sie ab. Alice fasst nach dem Treppengeländer, ihr wird plötzlich schwummrig, sie fürchtet zu stolpern. Die schimmernden Kordeln von Talithas Dreads, heute von einem Batiktuch zusammengehalten, fallen über ihre Schultern, lauter Stroh, zu Gold gesponnen. Fade spült die Enttäuschung über Alice hinweg, sie rührt sich nicht, schaut die junge Frau nur an, die sich jetzt umdreht, hochgezogene Augenbrauen, ein Lächeln, diese Kinderstimme: »Du willst zu Soph? Die ist nicht da.«

Stumm betrachtet Alice das zerschrammte Schuhwerk, einen Rucksack, verziert mit Buttons, die sie aus ihrer Jugend kennt: Die Blume im Soldatenhelm, Peacezeichen, Regenbogen, Fuck the Army. Unpassender geht es nicht, denkt sie, bevor sie die letzten Stufen nimmt und fragt: »Wohnst du etwa auch hier?«

Die braunen Augen ruhen auf Alice. Wieder verwirren sie die zahlreichen Gesichtsverzierungen, Silber, Rot, dazu ein Bonbon, das von einer Backentasche in die andere wandert. Schon greift Talitha in die Brusttasche des Blaumanns. »Auch eines?« Auf ihrem Handteller liegt ein zusammengebackener Brocken. »Die lösen alles auf, super für die Stimme.« Alice glaubt nicht, dass sie ihr Mienenspiel im Griff hat, denn das Mädchen zieht hastig die Hand zurück und steckt die Bonbons wieder weg. »Keine Ahnung, wann Soph wiederkommt. Ich würde dich reinbitten, aber du weißt ja, wir sind nicht allein …« Sie zwinkert Alice zu, dabei lässt sie den Schlüsselring um ihren Zeigefinger kreisen. »Meinst du die Vögel und Mäuse?« Talitha kichert. »Ja, die auch.«

Sie schultert ihren Rucksack und wendet sich zum Gehen. »Hat Soph, das Schaf, dir nichts von mir erzählt?« Alice zögert. »Sie ist wirklich ein Schaf. Eigentlich müsste ich beleidigt sein, nach allem, was ich für sie tue. Aber wahrscheinlich wird man verschroben, wenn man sich so lange vergräbt.« Während Talitha durch das Treppenhaus stürmt, singt sie aus voller Kehle Tonleitern. Im Hausflur zupft sie Alice am Ärmel. »Hast du kurz Zeit?« Als diese nicht antwortet, setzt sie nach: »Ich brauche jemanden, der mir für eine halbe Stunde hilft. Und jetzt bist du da.« Sanft schiebt sie Alice in Richtung Kellertreppe. »Hey, lass mich!« Aber Talitha lacht nur, umfasst Alices Hand, drückt sie fest und schüttelt sie ein paar Mal, als wären sie einander gerade vorgestellt worden. »Nix Schlimmes, nix Illegales, ich versprech es.« Alice bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, durch einen nach schlecht gewordenen Kartoffeln müffelnden Gang bis zu einem Kellerabteil, dessen Holzverschlag das Mädchen mit dem Fuß aufstößt. Verschiedene Besen, eine Schneeschippe, Putzzubehör und Streugutbeutel reihen sich ordentlich an der Wand auf. Talitha greift nach zwei Plastikeimern, drückt Alice einen davon in die Hand. »Aber was soll das? Du musst mir schon sagen, was das wird!« Statt einer Antwort wird Alice untergehakt. Gemeinsam verlassen sie das Haus.

»Soph hat bestimmt die ganze Zeit von Maja geredet, stimmt’s? Maja, die große und herrliche Maja. Maja, alle lieben Maja! Maja, Maja, Maja, erzähle uns von dir!« Die beiden letzten Sätze singt sie, dabei imitiert sie nicht ungeschickt die Stimmlage und den unverkennbaren Akzent des Schlagersängers Karel Gott: »In einem unbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit, war eine Biene sehr bekannt, von der sprach alles weit und breit. Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja, kleine, freche, schlaue Biene Maja.« Sie durchqueren den Vorgarten, vorbei an der Laterne. »Wir treffen heute unsre Freundin Biene Maja.« Jetzt rennen sie die steile Staffel hinunter bis vor die Garagen. »Maja, alle lieben Maja! Maja, Maja, Maja, erzähle uns von dir!« »Du bist verrückt«, sagt Alice und schnappt nach Luft, »was willst du von mir?« Talitha gibt sie nicht frei, der feste Griff ihrer trockenen Finger ist unwiderstehlich. Alice stolpert neben ihr her, drosselt zunächst das Tempo, um nicht zu fallen, läuft dann weiter, so schnell sie kann. Mehrfach schlägt sie beinahe lang hin, keucht, merkt, dass sie diejenige ist, die während des wilden Galopps laut quietscht. Die Eimer fliegen mit klappernden Metallbügeln neben ihnen her. Alices Hals brennt, ihre Augen tränen. Auf den Schienen der Zahnradbahn, die die Seitzstraße kreuzen, halten sie kurz inne, rasen Hand in Hand am Spielplatz vorbei und stehen plötzlich wieder an einer dröhnenden Fahrbahn. Auf der rechten Seite sieht Alice das alte Straßenbahndepot, weiter hinten grüßt der grüne Helm der Markuskirche und bringt sie zurück in die Wirklichkeit. Was mache ich hier? Schwer atmend passieren sie ein Thai-Restaurant. Ihr fällt ein, wie Marie grinsend erzählt hat, dass es früher »Madame Phuc« hieß, doch nach einer Weile umgetauft wurde. In ihrer Manteltasche summt und vibriert das Handy, aber sie schnauft zu stark, um den Anruf entgegenzunehmen. Für einen Augenblick schaut sie nach oben. Ein Schwarm Tauben segelt durch den grauweißen Himmel, der Verkehr braust über die Filderstraße, hinein in den Heslacher Tunnel. Vor ihnen liegt hoch und hässlich das Hotel ParkInn mit seinem Appendix aus Rewe und Drogeriemarkt, Fitnessstudio und Wohnanlage. »Grün!«, ruft Talitha, und sie folgt ihr. Ich bin das Schaf, denkt Alice und bleibt auf einem zertretenen Rasenstück stehen.

Das Mädchen geht unvermittelt in die Hocke. Kurz überlegt Alice, ob sie vorhat, in aller Öffentlichkeit zu pinkeln. »Schau, da. Und da!« Mit flinken Fingern pickt sie einen Zigarettenstummel nach dem anderen aus dem lehmigen Gras und wirft die alten Kippen in ihren Eimer. Auffordernd schaut sie zu Alice hoch. »Komm, mach mit!« Die rührt sich nicht. »Jede Zigarette verseucht vierzig Liter Wasser. Alles, was darin lebt, stirbt ab, diese kleinen Tierchen, die man nur unter dem Mikroskop erkennt, du weißt doch, die, die wie eine Schlappe aussehen.« »Pantoffeltierchen«, sagt Alice. »Und Volvox, die Alge, Amöben, Rädertierchen, Krebse, Schnecken, einfach alles.« »Aber das ist doch Aufgabe der Stadtreinigung. Dafür zahlen wir Steuern.« Alice fühlt sich alt bei diesen Worten, schiebt mit der Schuhspitze ein paar Stummel zusammen. »Was wird dir fehlen, wenn du mir eine halbe Stunde hilfst? Dreißig Minuten deines Lebens? Allein schaff ich nie so viel wie gemeinsam mit dir. Schau ruhig eine Weile hin. Auf einmal siehst du nur noch Kippen, und du willst sie alle haben, alle.«

Sonderbar und erschreckend, wie viele Stummel auf einem derart begrenzten Areal verteilt sind. Die andere Wahrnehmung beginnt sofort – Alice unterscheidet Selbstgedrehte, IQOS und normale Filterzigaretten. An manchen leuchtet Lippenstift, andere liegen schon länger und haben sich zu filzigen Fetzen zersetzt. Mit bloßen Händen muss sie nicht arbeiten, Talitha hat knallgelbe Gummihandschuhe aus ihrem Rucksack gezogen. »Für mich fühlt es sich besser an, alles zu spüren, aber natürlich sind die Dinger voller Gift, sogar Arsen und Schwermetalle sind da drin.« Alice hört nur mit halbem Ohr zu, sie hat längst begriffen, dass die junge Frau es ernst meint. »Machst du das oft?« »Oh, jeden Tag. Ich geh ganz früh los oder spätabends, dann komm ich schneller durch. Aber eigentlich will ich gesehen werden. Die meisten denken nicht drüber nach, wenn sie ihre Kippe wegschmeißen. Hab ich früher auch gemacht. Sogar die brave Soph war ne alte Umweltsau.« Sie kichert rau. »Gehört irgendwie zum Rauchen dazu, so Freiheit, schnipp und weg.«

Bevor sie sich bückt, sieht Alice über den Marienplatz. Im trüben Vormittagslicht leuchtet seine helle Pflasterung, umkränzt von blattlosen Bäumen, umbraust vom Verkehr, umstanden von Häusern und dem ausgehöhlten Hügel, in dem die schwarzen Tunnelmäuler klaffen. Ein paar Leute torkeln über die kahle Fläche. Nein, sie selbst schwankt, ist es nicht gewohnt, ständig in die Knie zu gehen, sich vorzubeugen und wieder aufzurichten. In Bodennähe steigen Gerüche auf, verbrannter Tabak, Hunde-Urin, nasse Erde, frühe Kräuter, die sich allmählich hervorwagen. Ihre Eimer füllen sich mit beängstigender Geschwindigkeit, nicht nur mit Zigaretten, auch mit Kronkorken, Bonbonpapier und anderem Plastikmüll.

Eine Frau nähert sich, begleitet von einem kleinen Jungen. Das Kind bleibt stehen, zeigt auf Talitha und Alice. »Mama, was machen die da?« Schon hat er einen Stummel aufgelesen, mit dem er auf die Eimer zustrebt. »Maxi, pfui! Wie ekelhaft!« Seine Mutter schreit, der Junge erschrickt. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält er im perfekten Pinzettengriff seinen Fund hoch. Die Frau schlägt nach der Kinderhand, der durchweichte Tabakrest fällt herunter. Sie wühlt in ihrer Handtasche, zieht ein pinkfarbenes Päckchen hervor, zupft ein Feuchttuch heraus. Alice verzieht vor dem künstlichen Obstgeruch unwillkürlich das Gesicht. Erstaunlich, wie die Frau es schafft, gleichzeitig die Packung zurück in die Handtasche zu stecken, diese zwischen die Knie zu klemmen und den heulenden Jungen zu sich heranzuziehen. Sie führt das Tuch mit groben Bewegungen über das Kindergesicht, danach nimmt sie sich seine Finger vor. Dabei schimpft sie: »Sie sollten sich was schämen! Wir sind doch nicht im Slum hier!« Nachdem sie das Feuchttuch auf den Boden geworfen hat, packt sie ihren Sohn am Arm und überquert die Straße.

Sie haben den Platz erst zur Hälfte umrundet, da sind ihre Eimer bereits bis zum Rand gefüllt, und Talitha verschwindet mit ihnen hinter dem gläsernen Aufzug, der die U-Bahn-Steige anfährt. »Alles vorschriftsmäßig entsorgt.« Alice kreuzt die Arme über der Brust. »Ich gehe jetzt. Aber vorher gibst du mir bitte Sophies Nummer.« »Warum guckst du denn auf einmal so streng?« Viel zu lange umarmt sie Alice, überwältigt sie mit ihrem Kräuterduft, dem Druck von Ketten und Armbändern, ihrer Muskelkraft, die sich schon bei der rastlosen Sammelei gezeigt hat. »Du hast mir geholfen, danke! Zur Belohnung lade ich dich ein.« Tatsächlich spürt Alice ihren Rücken, auch die Knie schmerzen, und sie freut sich auf einen Cappuccino und eine Zimtschnecke. Ringsum gibt es mehrere Cafés. Aber das Mädchen macht bereits einen neuen Anlauf zum Aufbruch.

»Komm, wir nehmen die Zacke!« Wieder reißt Talitha Alice mit sich, über den Platz zur Haltestelle der Zahnradbahn, die schräg hingelagert auf ihren Schienen wartet, eine fette gelbe Raupe. Die Plattform, auf der man Fahrräder abstellen kann, hängt leer bis auf ein Mountainbike an ihrem Vorderteil. Alice protestiert nur schwach, sie lässt sich mitschleppen, gehorcht dem Ruf »Mach schnell, sie fährt gleich los!«, und fällt neben dem Mädchen auf einen Sitz. Draußen hat ein Nieselregen begonnen, Spritzer platzen auf den Scheiben, die Bahn arbeitet sich stöhnend bergauf.

Talitha streckt sich gähnend und schließt kurz die Augen. Bist du jetzt endlich müde, denkt Alice. Ihr fällt ein, dass sie ihre Maske nicht aufgesetzt hat, kramt ein zerknittertes Exemplar aus der Manteltasche. Im Wagen sitzen nur wenige Leute. Talithas unverhülltes Gesicht kümmert niemand. Eine Rentnerin klammert sich an den Griff ihres Einkaufstrolleys. Im weißen Haar der alten Frau erkennt sie die Linien des Kamms. Rosa Kopfhaut, rotgeränderte Augen, den Rest verbirgt der Mundschutz. Lenas Haar ist viel flauschiger, aber heute früh hat es nicht mehr schön ausgesehen. Ich muss in der Klinik anrufen. Sie tastet nach dem Handy, da erhebt sich Talitha. Inzwischen verspürt Alice fast eine gewisse Erleichterung darüber, dass jemand anderes alles entscheidet.

Sie sind vor einer unscheinbaren Kirche mit schräg abfallendem Dach und kurzem braunem Turm ausgestiegen. Alice hat ihr iPhone aus der Tasche gezogen, die Liste der entgangenen Anrufe wird immer länger. Unbekannte Nummern, das wird Marie sein. Oder das Krankenhaus. »Ich fahre zurück ins Büro.« Talitha nimmt ihr das Gerät aus der Hand, tippt etwas ein. Dann strebt sie mit großen Schritten bergauf. »Da hast du Sophs Kontakt. Was willst du bloß mit der? Die bringt es fertig, tagelang kein Wort mit mir zu reden. Maja kam mit jedem ins Gespräch, Soph stand daneben und machte Kulleraugen.« Im Reden nestelt sie einen Stoffbeutel aus dem Rucksack, nimmt eine braune Kugel von der Größe einer Cocktailtomate heraus und wirft sie über den nächsten Zaun. Sie landet zwischen sorgfältig gestutzten Rosenbüschen. Im Weitergehen verteilt sie ein Geschoss nach dem anderen, achtet dabei darauf, stets Beete oder freien Erdboden zu treffen. »Hier, nimm dir auch welche. Hab ich selbst gemacht, Saatbomben, aus Lehm, Sand und Wildblumensamen – Kornblumen, Mohn, Leimkraut. Im Sommer blühen sie, das ist gut für die Schmetterlinge und alle Bienen, zahm und wild. In diesen toten Gärten gibt’s nur Kirschlorbeer und Rollrasen, da verhungert jedes Insekt.« Kornblumen, hat Terje erzählt, sind die estnischen Landesblumen. Manchmal trägt sie eine Bluse, an deren Revers und Manschetten die zackigen, leuchtend blauen Blüten wuchern. Schwer liegen die Lehmkugeln in Alices Hand. Sie glaubt nicht, dass jemand sie beobachtet. Solche Wohnstraßen, noch dazu am Waldrand, sind um diese Tageszeit menschenleer. Nicht einmal hinter den zugezogenen Gardinen bewegt sich etwas. Trotzdem lässt sie ihre Saatbomben, was für ein Wort, lieber unauffällig neben Straßenbäume fallen. »Du bist genau wie Soph, eine Schisserin.« Talitha hat sie aus dem Villenviertel auf einen steilen Weg gelotst, der mitten zwischen Weinbergmauern verläuft. Aus groben Sandsteinquadern gefügt, steigen die mächtigen Wände an der Bergseite des Hohlwegs auf. Im schrägen Winkel lagern Rebhänge neben Gartengrundstücken, manche mit Obstbäumen bestanden, andere verwahrlost. Alice weiß, dass sie mit Lena hier in der Gegend spazieren gegangen ist, allerdings nicht auf diesem Pfad. Sie erklimmen eine schmale Staffel, mitten durch einen Hang. Als sie kurz innehält und sich umdreht, um über Tal und waldige Hügel zu blicken, fühlt sie wieder Schwindel, sieht die Umrisse der Stadt nur wie aus weiter Ferne, ein paar helle Klötze, locker hingestreut. Die Stufen unter ihr beginnen zu wackeln. Ein Stein sitzt lose im Erdreich, er schwankt plötzlich, und Alice rettet sich mit einem unsicheren Schritt zur Seite, strauchelt, hat die Wiese unter den Füßen und läuft langsam weiter. Am Ende der Treppe biegen sie in einen Waldweg ein.

»Du kennst Sophie wohl ganz gut?« Alice bleibt stehen, sie braucht eine Pause. »Wir sind gleich da«, sagt Talitha, ohne anzuhalten. Alice tun die Füße weh, im Rücken zieht es kräftig. Ein Blick auf die Armbanduhr: Sind sie wirklich erst seit einer Stunde unterwegs? Zur Bahnhaltestelle würde sie nicht mehr zurückfinden. Eigentlich glaubt sie, den Wald oberhalb von Lenas Wohnviertel zu kennen, doch hier ist sie bestimmt nie gewesen. Dichtes Gestrüpp, richtiges Unterholz, wächst am Fuß mächtiger Stämme, sie erkennt Tannen mit schwarzen Wipfeln voller Zapfen. Die blattlosen Riesen der Laubbäume zu bestimmen, überfordert sie. Efeu und Waldreben spinnen sich zwischen herabhängenden Zweigen zu undurchdringlichen Matten. Aus den Kronen ertönt wildes Keckern. Alice schrickt zusammen und hält erneut inne. Weißblaues Leuchten, Flügelschlagen, mehr Geschrei, dann ist der Vogel im Dickicht verschwunden. »Waldpolizei«, sagt Talitha über die Schulter hinweg, »der Eichelhäher. Komm nur, da vorne ist es.« Das vertraute Dröhnen aus dem Stadtkessel hört Alice jetzt nur noch, wenn sie sich darauf konzentriert. Auch das übliche Stuttgarter Waldgefühl hat sich verflüchtigt, nämlich der Eindruck, sich eher in einem Park voller Jogger, Hunde und Radler zu befinden und überall breite helle Wege zwischen den Bäumen hervorblitzen zu sehen. Talitha führt sie weiter durch die Wildnis, bis sich die Baumreihen plötzlich lichten und vor ihnen wieder der vertraute Hohlweg mit den Stützmauern liegt. An einem bemoosten Holzzaun halten sie inne.

Alice erkennt das Grundstück sofort, aber sie sagt nichts, wartet neben ihrer Begleiterin und betrachtet schweigend das schief in den Angeln hängende Tor. Talitha zieht eine Haarnadel aus ihrer Frisur, steckt sie ins Schloss und stochert ein wenig darin herum, bis es knackt. Ein Plattenweg führt durch langes, wintergelbes Gras, gebeugt von der Nässe der letzten Tage, dazwischen einzelne grüne Flecken. An den Wiesenrändern wachsen Brennnesseln. Eine dichte Dornenhecke, behangen mit Resten von dunkelrotem Laub, begrenzt den hinteren Garten. Jenseits der Hütte mit ihrem schindelgedeckten Spitzdach erhebt sich wieder der Wald. Die Stämme ringsum sind bleistiftgrau, lehmrot oder borkig braun. Marie kennt ihre Namen, von ihr weiß Alice auch, dass das Riesennest aus stacheligen Zweigen ein Brombeergebüsch ist und man besser nur die Früchte auf Augenhöhe pflückt, wegen des Fuchsbandwurms. Talitha hat sich wie ein altmodischer Lakai an die geöffnete Pforte gestellt, die ironische Verbeugung, ihre ausgestellten Füße und die einladende Armbewegung haben etwas von Schülertheater: »Tritt ein!« Unter dem Dachvorsprung steht eine blaugestrichene Bank.

Terje hat damals nicht verraten, wem der Garten gehört, wahrscheinlich, damit niemand den Besitzern seinen verlotterten Zustand vorwerfen konnte. Die glücklichen Cantarinen wären allerdings nie auf eine solche Idee gekommen. An diesem Altweibersommertag hatten sie Papiergirlanden und Lampions aufgehängt, Kuchen und Getränke auf einem Tisch arrangiert, den sie aus der Hütte schleppten. Sie hatten gar nicht mal schlecht »Geh aus, mein Herz und suche Freud« gesungen und gemeinsam mit Terje ihre Chorfreizeit geplant. Paris war das erklärte Ziel. Diese Aussicht euphorisierte die Gruppe und brachte eine in Alices Erinnerung nahezu überirdische Aufführung von »À la claire fontaine« unter dem Schein des Septembermondes hervor, bei der die Frauen nebeneinander aus der wilden Wiese wuchsen wie seltsame, bewegliche Pflanzen. Nahe der Hütte taumelten Leuchtkäfer – Lena nannte sie Johanniswürmchen –, und immer wieder durchquerten Fledermäuse im Torkelflug die Dämmerung. Alice saß neben Marie, so dass sie ihre Wärme spüren und ihr Parfum riechen konnte.

Der Rucksack wird aufgeschnallt; zum Vorschein kommen eine Wolldecke, Äpfel, eine Keksmischung und eine Thermoskanne. »Picknick. Bedien dich!« Eigentlich hat Alice keinen Hunger, doch als sie auf der Bank sitzt, Decke unterm Hintern, den Rücken an die Holzwand gelehnt, in den Händen einen warmen Becher, schmecken ihr die billigen Waffelröllchen und Schokotatzen, der bittere Tee. Kauend fragt sie: »Wohnst du schon lange mit Sophie zusammen?« Talitha stellt ihre Tasse ab. »Ich kenne Soph von einer Uni-Party. Wir sind eigentlich nicht richtig befreundet, aber als ich ankam, so ohne Bleibe, hat sie mich nicht weggeschickt. Vielleicht war sie sogar froh, endlich mal wieder jemanden zu sehen. Das ist aber eine andere Geschichte. Ich kann dir sagen, im Grunde ist sie froh, dass sie mich hat. Du weißt ja wahrscheinlich, was sie jobbt?« Alice schüttelt den Kopf. »Na ja, als Tiersitterin. Dafür wohnt sie umsonst. Hat sie auf Kleinanzeigen gefunden. Die Wohnung gehört einem Typen, der von seiner Firma ins Ausland geschickt wurde. Seine Freundin wollte das nicht machen, fand es zu gruselig.« »Du meinst, diese Zeisige und Mäuse zu versorgen?« »Ja, unter anderem. Ich helfe Soph, nehme ihr jede Menge unangenehme Aufgaben ab. Schließlich bin ich ein Marienkind. Aber ich glaube, sie wird nicht warm mit mir.« Talitha lächelt, diesmal zieht sie nur die Mundwinkel hoch, das Gesicht wird zur Fratze. »Warum denkst du das?«, fragt Alice. »Das merkt man doch. Für Soph gibt es nur Maja, Maja, Maja. Völlig sinnlos, denn die kommt nicht mehr zurück.« »Sie lebt in Paris, nicht wahr?« »Du weißt ja schon allerhand.« Jetzt klingt sie beleidigt. »Ich verstehe, weshalb Sophie trauert.« »Trauern, das klingt, als sei jemand gestorben, voll übertrieben!« »Finde ich nicht.« An Talithas verwundertem Blick merkt Alice, wie laut sie geworden ist. »Bist du noch nie verlassen worden?« Die Augen der anderen leuchten auf: »Ich kann nicht verlassen werden, weil Maria immer bei mir ist.« »Mit anderen Worten, dein Glaube macht dich mitleidslos«, stellt Alice fest, steht auf und reibt die Hände aneinander. Allmählich wird ihr kalt. »Mit einer Freundin zu streiten, sie zu verlieren, das kann schrecklich wehtun.« Talitha dreht die Thermosflasche um, ein paar Tropfen fallen auf die moosigen Platten. »Erzähl mir von dieser Freundin, mit der du gestritten hast! Ist es die Alte, der gestern schlecht geworden ist?« Erzähl du mir lieber von Sophie, möchte Alice sagen, aber der Wunsch, über Marie zu reden, gleicht dem Verlangen nach einer Zigarette oder einem starken Drink, auch in der Gewissheit, diesem nachzugeben, könnte ein Fehler sein. Sie wundert sich, denn Gesprächen mit Fred und Lena über dieses Thema ist sie so weit wie möglich ausgewichen. Sophies Mitbewohnerin zwingt sie auf die Bank zurück, indem sie ihre lehmverschmierten Hände auf Alices Schultern legt. Sie scheint vollkommen sicher, die andere Frau werde sitzen bleiben und mit ihrer Erzählung beginnen. Inzwischen hat sich eine kräftige hellgelbe Sonne eingestellt, ihr Licht strahlt über Schneeglöckchen, blasslila Krokusse und sogar einige schüchterne Primeln, sie wärmt Alices Gesicht, das sie jetzt Talitha zuwendet.