Coras Finger haben sich gerötet, aber sie greift tief ins dampfende, schaumige Wasser hinein, hebt die silberne Teekanne heraus und wischt sie ab, bevor sie sie umgekehrt auf das Abtropfgestell setzt. Lenas Gummihandschuhe hängen unbenutzt neben der Spülbürste. Als Nächstes angelt Cora den verschnörkelten Deckel der Kanne heraus und dreht den Hahn auf. Der Deckel scheint nicht ganz sauber zu sein, denn sie mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen, bevor sie ans Küchenfenster tritt und ihn ins Nachmittagslicht hält. Auf der Arbeitsplatte liegen eine Tube Zahnpasta und eine abgenutzte Zahnbürste, Alice hat das schon gesehen, als sie an die Küchentür kam und sich darüber gewundert. Cora drückt einen Kringel Paste auf einen Lappen und bearbeitet den Silberdeckel mit kreisenden Bewegungen. Minzgeruch vermischt sich mit dem Zitronenduft des Spülmittels. Es ist einfach eine Legende, dass man Blicke im Rücken spürt wie ein Prickeln, denkt Alice. Ich stehe schon so lange hier, dass sie Löcher im Kittel haben müsste. Aber Cora hat Alice nicht bemerkt.
Sylvias hellblaue Kittelschürze ist ihr zu klein. Sie muss die Knöpfe vorne offenlassen, was den patenten Sauberfrauen-Ausdruck zerstört, dazu ist ihr das Kleidungsstück zu kurz und bedeckt nur knapp ihren mageren Hintern. Mondkalb, was polierst du da? Wollte Lena unbedingt diese angelaufene alte Kanne für ihren Tee? Cora hat das Gefäß mittlerweile umgedreht, und Paste auf die Zahnbürste gekleckst. Damit schrubbt sie Tülle und Bauch, summt leise vor sich hin, folgt der Melodie aus Lenas Küchenradio, das unter einem Hängeschrank angebracht ist. Ein Schlagersender läuft, Alice erkennt Roland Kaiser und denkt an die Moabiter Küche und ihre Mutter, bei der ein Abwasch viel schneller erledigt wurde.
Alice räuspert sich und sieht, wie Cora erstarrt, sie lässt die Zahnbürste fallen. »Oh«, sagt sie nur, als sie sich umdreht, erwidert Alices Lächeln nicht und wischt sich hastig die Hände an der Schürze ab. Alice stellt einen Teller mit belegten Broten auf der Arbeitsplatte ab. »Oh«, macht Cora erneut und betrachtet besorgt die unberührten Sandwiches. »Hat denn die Frau Herzmann nix essen mögen? Vorhin hat sie doch gesagt, Halbweißes mit Schinken, Tomate und hartem Ei, das hatte ich alles da, heut früh besorgt. War da was nicht in Ordnung?« Misstrauisch hebt sie den Teller, schnüffelt, schüttelt den Kopf. Alice kommt näher und streckt ihr die Hand entgegen.
»Cora, gehört das Ihnen?« Die Frau errötet tief. »Wieso haben Sie das?«, stößt sie hervor. Dabei sieht sie Alice nicht in die Augen. »Es lag im Wohnzimmer, ich wollte es Lena bringen, weil ich dachte, es wäre ihres, aber vorne drin steht ein anderer Name.« Erschrocken verfolgt sie Coras Bewegungen, wie sie das Geschirrtuch vom Haken reißt, damit in der sauberen Stahlspüle herumfährt, es zwischen den Fäusten knetet, bis sie Alice das hellgrüne Buch endlich abnimmt. Sie drückt es kurz an die Brust, verstaut es aber nicht in ihrer Tasche, einem karierten Plastikungetüm, das an einer Stuhllehne hängt, sondern legt es auf den Küchentisch. Vorher wischt sie über die Platte. Das Schweigen wird für Alice unerträglich, sie zwingt sich zu einem Lächeln und weist auf das Notizbuch. Auf dem Deckel eingeprägt steht »Dankbarkeitstagebuch«. »Das ist hübsch. Sicher haben Sie es geschenkt bekommen.« Cora antwortet sofort, als sei ihr die angespannte Situation ebenfalls bewusst. Sie klappt das Buch auf und fährt mit dem Zeigefinger über das Vorsatzblatt, auf dem in aufwändig gestaltetem Handlettering steht: »Für meine allerbeste R. zum Geburtstag.« »R., das steht für Rita.« Coras Gesicht verändert sich, sie lächelt. Ein seltenes Vergnügen, das sollte sie sich und anderen öfter gönnen, denkt Alice. »Bei der hab ich geputzt, das war eine ganz arg liebe Dame aus Hedelfingen. Chefsekretärin ist die gewesen, bei einem von den großen Bossen vom Daimler. Sie hat den Sreti so gemocht, hatte selber keine Kinder. Das Büchle hat ihr eine Freundin geschenkt, die war viel jünger. Sie kannten sich vom Sportverein. Mit über 70 hat die Rita noch bei der Jazz-Gymnastik mitgemacht.« Cora sagt »Jatz«. Sie tippt auf den Eintrag. »Sie meinte, es wär für die Katz, wenn sie da reinschreibt. In meinem Alter bin ich dankbar, wenn ich morgens wieder aufwach, hat sie gesagt, aber vielleicht magst du es haben, Cora?« Mit einem schiefen Grinsen klappt sie das Tagebuch wieder zu. »Zum Notar wollte sie mit mir gehen, der Termin war schon fest ausgemacht, uns ihre Wohnung überschreiben. Dann hätten der Sreti und ich ein eigenes Zuhause gehabt. Aber sie ist vorher gestorben, einfach eingeschlafen.« Ja, bestimmt, fährt es Alice durch den Kopf, bestimmt wollte sie dich und Sreti als Alleinerben einsetzen, wie im Märchen, in dem ein Bäumchen dich mit Gold und Silber überschüttet. »Ich hab viel für die gemacht, nicht bloß geputzt.« Alice ertappt sich dabei, dass sie Cora nicht richtig zuhört, sondern überlegt, woher der Vorname Sreten kommt. Sie nickt und lächelt Cora zu, die gerade auf ihre Ohrringe zeigt. »Ein paar Sachen hat sie mir geschenkt, wie sie noch gelebt hat. Besser mit warmen Händen geben als mit kalten, hat sie gesagt. Die Ringle hier, und eine Brosche. Aber bei der hab ich zu viel Angst, dass ich sie verlier. Die hier trag ich jeden Tag. Alles echtes Gold.« Sie dreht an ihren hässlichen Altfrauen-Ohrringen. Das Zeug hat die Assistentin der Geschäftsleitung bestimmt von der eigenen Oma bekommen und als untragbar aussortiert. Wie man Leute mit leeren Versprechungen und dürftigen Gaben bei der Stange hält, ihre Träume ausnutzt, hatte Alices Mutter mehrfach erlebt. »Wenn’s ans Erben geht, ist unsereins raus. Das fällt immer an die Familie. Wenn mir jemand was schenken mag, was Ordentliches, gut. Aber ich lass mich nicht an der Nase rumführen.«
Paulas Stimme klingt in Alices Ohren, als sie zum Kühlschrank geht und rasch einige Packungen herausnimmt: Aufschnitt, Käse, Joghurt, einen Beutel vorgeschnittenes Graubrot; sie schiebt die Lebensmittel zu einem Haufen zusammen und wendet sich wieder an Cora: »Bitte gehen Sie in Zukunft zu Edeka, nicht zum Discounter.« Cora reißt die Augen auf. »Aber warum denn nicht? Das ist doch viel billiger. Ich dachte, ich lauf schnell zum Netto runter, dann brauch ich auch nicht so lang. Das Rausgeld und den Bon hab ich ins Wohnzimmer gelegt, auf den Couchtisch.« Alice seufzt. »Frau Herzmann soll bitte bekommen, was sie gern isst. Verstehen Sie mich?« Sie merkt Cora an, wie wenig sie begreift, was an diesen tadellosen, sauberen Plastikpäckchen schlecht sein soll.
»Jetzt gehen Sie bitte runter zum Olgaeck. In den Edeka. Ich habe Ihnen eine Liste geschickt, per WhatsApp. Bitte, halten Sie sich daran. Hier sind 50 Euro. Wenn Sie lieber Bus fahren möchten, tun Sie das. Diese Sachen hier dürfen Sie gerne später mit nach Hause nehmen.« Stillschweigend haben sie das Du beerdigt, was Alice nur recht ist. Sie kommt mit der Distanz besser zurecht, siezt Cora, nennt sie aber beim Vornamen, die andere bleibt bei Frau Pogge. Einmal sprach sie von Lena als »der Omma«, aber weil das nur einmal vorkam, sagte Alice nichts dazu.
Wortlos greift Cora in ihre Tasche, nimmt Schlüsselbund und Smartphone heraus, faltet die Banknote mehrfach zusammen und steckt sie weg. Die Einkaufsliste studiert sie lange, als läse sie fremdartige Schriftzeichen. Sie verabschieden sich nicht voneinander, Alice hört nur ihre Schritte auf dem Flur verklingen.
Leise geht sie zurück in das zwischen Schlafzimmer und Bad gelegene Arbeitszimmer, schiebt die Gardine zurück und greift nach der Schale auf dem Fensterbrett. Porzellan, hübsch und alt, wie fast alle Dinge, mit denen Lena sich umgibt. Sonst steht sie im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Lena bewahrt Lesebrille, Armbanduhr und Taschentücher darin auf. Deshalb war sie genau in Reichweite, als die Freundin sich übergeben musste, eine häufige Nebenwirkung des starken Schmerzmittels, das man ihr im Krankenhaus verschrieben hat.
Kaum hatte Alice am Nachmittag die Wohnung betreten, erzählte Cora ihr schon von Lenas Malheur. Dabei hob sie sogar ein wenig die Stimme: »Ich schaff das schon, Sie brauchen nicht jeden Tag kommen. Die Frau Coppelius auch nicht. Selbst wenn mir was zuwider ist, schaff ich das. Das mach ich dann halt später. Wenn ich bereit bin. Den Mund hab ich ihr abgeputzt und einen frischen Schlafanzug übergezogen. Aber das da wegmachen …« Sie schüttelte sich.
Alice trägt die Schale mit Lenas Erbrochenem ins Gästebad. Brille und Halskette spült sie gründlich ab, besprüht anschließend alles mit Badreiniger, und ist erleichtert, dass die Armbanduhr auf der Kommode liegt. Nachdem sie die Schale gesäubert und abgetrocknet hat, hält sie sie für einen Moment ins Licht und betrachtet die leuchtende Bemalung – ein winziger blauer Schmetterling fliegt über orangegelbe Blüten. Lena hat ihr einmal von der Blumensprache der Viktorianer erzählt, aber Alice weiß nichts mehr davon.
Coras Ausbruch hat sie überrascht und verärgert. Eigentlich hatte sie auf einen ruhigen Samstag gehofft. Gestern war im Büro durchgehend die Hölle los gewesen, als hätten sich alle gegen sie verschworen. Erst fand eine Evakuierungsübung für den Fall eines Terroranschlags statt, die sie zwang, ihre ohnehin eng getakteten Mitarbeitergespräche zu unterbrechen. Anschließend meldeten sich gleich zwei der besten Kräfte krank, und Alice saß viel zu lange allein am Bericht für den Vorstand und musste deswegen eine wichtige Sitzung auf den Nachmittag verlegen. Nun bekommt sie Coras Stimme nicht aus dem Kopf. »Ich kann so was nicht, das mach ich nicht.« Sie fügte hinzu, sie habe zuerst bei der Frau Coppelius angerufen, aber die sei nicht rangegangen.
Sie erinnert sich an den Übernachtungsbesuch eines Patenkindes. Das kleine Mädchen hatte sich eine Darmgrippe eingefangen und saß mitten in der Nacht heulend und mit verschmiertem Hintern im Gästebett. Sie weiß noch, wie sie das spatzendünne Kind ins Bad getragen, warm abgeduscht und beruhigt hat. Dabei hatte sie zunächst die Luft angehalten, bis sie merkte, dass sie den Geruch gar nicht so schlimm fand.
Marie lässt es also klingeln. Diese Marke. Alice geht mit der Porzellanschale in der Hand ins Wohnzimmer und setzt sich aufs Sofa. Sie greift nach ihrem Smartphone, das sie an einer Kette trägt und versucht, zum x-ten Mal heute, Marie zu erreichen. Wieder nur die Mailbox. Wahrscheinlich glaubt Marie, sie habe ihre Schuldigkeit getan, weil sie Cora empfohlen und eingestellt hat. Als sie eine weitere Nachricht hinterlässt, gibt sich Alice keine Mühe, freundlich zu klingen. Bei allen Pflegediensten, die sie im Laufe der letzten Tage durchtelefoniert hat, wurde sie auf »frühestens Ende des Monats« vertröstet. Und Sylvias Kollegin war natürlich längst ausgebucht.
Cora wird so schnell nicht wiederkommen. Bestimmt bummelt sie im Supermarkt herum, entschädigt sich für die langen Tage und Nächte hier drinnen. Sie schläft im Raum neben Lenas Schlafzimmer; das Gästesofa hat sie ordentlich zusammengeschoben, nur ein Paar Flauschpantoffeln mit Hundegesichtern weisen auf ihre Gegenwart hin. Eigentlich weiß Alice nichts über sie. Maries Auskünfte kann sie nicht überprüfen. Sie hat keine Ahnung, ab wann Maries Mutter ständige Pflege gebraucht hatte oder wofür Cora damals eingestellt worden war. Alice vermutet, dass sie genauso als Notnagel herhalten musste wie jetzt bei Lena. Von der Putzfrau zur Pflegerin.
Als Alice nach dem Tagebuch greift, fragt sie sich, ob sie Cora weggeschickt hat, um genau das zu tun. Mehr zufällig, wie bei einer Zeitschrift im Wartezimmer, schlägt sie eine Seite auf. Doch bereits der erste Blick auf die handgeschriebenen Notizen bringt die Scham zurück. Aber sie muss diese Frau, der Lena praktisch ausgeliefert ist, auf irgendeine Weise überprüfen!
Coras Name findet sie erst nach einigem Suchen. Klein und mausartig hat sie ihn unter den Eintrag der Vorbesitzerin gequetscht: Cora, vier Buchstaben, nicht mehr. Kein Nachname. Alice stellt überrascht fest, dass sie ihn nicht kennt. Im Chor gibt es keine Familiennamen, ihr Geld bekommt sie bar. Auf die Kralle. Auch etwas, das Alice nicht gutheißt, aber das hat Marie ausgehandelt. Es musste halt mal wieder schnell gehen. Alice blättert weiter. Kein gewöhnliches Notizheft. Wer hier seine Einträge macht, wird angeleitet. Eine Seite für jeden Tag, dazu das Datum. Es folgen vorgedruckte Sätze mit gepunkteten Linien dahinter: »Ich bin dankbar für: …« »Was habe ich heute Gutes für jemanden getan?« »Was werde ich morgen besser machen?«
Dazwischen eingestreut stehen Zitate, die Alice aus zahllosen Weiterbildungsseminaren zur Mitarbeitermotivation kennt. Achtsamkeit. Dankbarkeit. Selbstfürsorge. Als sei sie selbst aufgefordert, einen Grund zur Dankbarkeit anzugeben, fällt ihr sofort Freds warmer Körper ein. Heute Morgen lag ihr Arm über seiner Brust, ihr Kopf in seiner Achselhöhle. Schlafend hatten sie die Nähe des anderen gesucht, ein Lilledan, das auseinanderfiel, sobald die Wecktöne ihrer Smartphones im Chor erklangen.
Alice blickt auf das Datum – Cora hat erst vor kurzem angefangen, etwas zu notieren: Chorprobe, Einkaufszettel, verschiedene Kürzel, vermutlich ihre Jobs, immer wieder kleine Geldbeträge, akribisch untereinandergesetzt und addiert.
Diese eiligen Notizen verstärken Alices Gefühl, der Schreiberin viel zu nahe zu kommen. Ihre größtenteils mit Kugelschreiber, manchmal mit Bleistift geschriebenen Worte in einer rundlichen Schulmädchenschrift mit dicken i-Punkten lassen Alice erröten, als sähe sie Cora nackt.
Schnell blättert sie ein paar Tage vor. Da steht ein Name am Rand: Cora, Cora, Cora. Cora Stammer. Cora Stammer. Manuela und Cora Stammer. Ela Stammer. Ela und Cora. Cora und Ela. Cora Babic. Zlatan und Cora Babic. Zlatan und Cora. Sreten Babic und Cora Babic.
Aufschreiben, damit ich nix vergesse, mein Kopf ist ganz wirr, wie ein Sieb.
Ab und zu kommentiert Cora die Sinnsprüche:
Nichts ist besonders schwer, wenn du es in kleine Aufgaben teilst. (Henry Ford)
Alles ist schwer, morgens aufstehen, die Füße aus dem Bett kriegen, ne Faust machen ist schwer, alles tut weh, das Kreuz, das Kreuz und die Füß, bleischwer.
Denke lieber an das, was du hast, als an das, was dir fehlt. (Marc Aurel)
Aber wenn mir alles fehlt?
Alle sieben Tage stehen die »Fragen der Woche« an. Cora beantwortet nur wenige:
Wo fühlst du dich am ehesten zu Hause? Was ist für dich an diesem Ort so besonders?
In der Markuskirche, beim Singen. Die anderen mögen mich nicht, aber das Singen ist schön.
Let’s talk about sex. Wann hattest du deinen besten Sex? Warum war es der beste? Wann hattest du das letzte Mal guten Sex?
Sex ist nix für mich. Tut weh. Stinkt. Das einzig Gute daran war der Sreten.
Was würdest du alles machen, wenn du für einen Tag das Geschlecht wechseln könntest? Worauf würdest du dich am meisten freuen?
Ich würde den Kerl suchen und ihm die Kehle durchschneiden. Er ist lange wieder draußen und meine Ela ist immer noch tot. Sie fehlt mir jeden Tag.
Mit welchen Menschen umgibst du dich am liebsten?
Mit niemand. Vielleicht mit dem Sreti, wenn er keine Scheiße baut, sich neue Freunde sucht. Mit einer Flasche Wodka, haha.
An welchem Ort der Welt würdest du gern leben und warum?
In Untertürkheim, bei der Omma, unterm Holderbusch im Hof. Weil dort alles alles gut war.
Wenn du in der Zeit reisen könntest, wohin würde die Reise gehen?
Wieder ein kleines Kind sein, mit der Ela im Hof, Haare flechten, schaukeln.
Warum hast du Angst vor etwas, das du willst?
Weil ich es niemals kriegen werde. Träumen tut weh.
Was ist das Wertvollste in deinem Leben?
Mein Sohn.
Die Klingel schrillt durch die stille Wohnung, in der Alice liest und Lena schläft, betäubt von den Medikamenten, und Alice erschrickt so sehr, dass sie das Buch fallen lässt und aufspringt. Schnell läuft sie in die Küche, legt Coras Tagebuch auf den Tisch zurück, stürzt durch den Flur, hält schließlich inne, versucht, sich zu beruhigen, und geht die letzten Meter langsam, wobei sie im Takt ihrer Schritte ein- und ausatmet.
Am Treppengeländer lehnt ein junger Mann. Er reckt den Hals, als Alice die Tür öffnet, und späht an ihr vorbei in die Wohnung. Sie bemerkt die seidigen dunklen Wimpern, den Bartflaum an Kinn und Oberlippe. Eine Menge weiches schwarzes Haar bauscht sich über der Stirn. Ein hübscher Kerl, er trägt Hoodie und Jeans, darüber eine Lederjacke, die Alice sofort als hochpreisiges Markenmodell erkennt. Nach ihrem automatischen »Ja, bitte?« sieht sie die Motorradstiefel an seinen Füßen – vor ihr steht Coras Sohn. Mit gerunzelter Stirn fixiert er Alice. »Ist meine Mom da? Sie hat gesagt, sie arbeitet hier.« Alice kreuzt schweigend die Arme über der Brust, wartet. »Ich will was mit ihr besprechen, sie kommt ja nachts nicht heim, weil sie hier aufpassen muss«, setzt er nach. Seine Augen sind viel dunkler als Coras, auch anders geschnitten, größer und wacher, er hat nicht diesen trüben Malzbierblick. Wahrscheinlich kommt er nach seinem Vater, Zlatan Babic, über den Cora nie ein Wort verloren hat. Immer nur »der Sreti und ich«. Um seinen Hals liegt eine silberne Panzerkette, und im Gegensatz zu vielen Jungen seines Alters plagt ihn keine Spur von Akne. Um diese zarte, bräunliche Haut wird er bestimmt beneidet. Nacken und Kopfseiten sind modisch ausrasiert, und er hat sich reichlich Eau de Toilette gegönnt. Alice vermutet einen Duft von Tom Ford und wundert sich, allein der kleine Flakon kostet fast 200 Euro. Wenn er diese Lümmelhaltung am Geländer aufgibt, wird er sie um mindestens einen halben Kopf überragen. Tatsächlich macht er einen Schritt vorwärts, streckt ihr über die Fußmatte seine Rechte hin. Zu viele Ringe, ebenfalls aus Silber. »Sorry, Sie wissen gar nicht, wer ich bin. Ich heiße Sreten.« Seinem breiten Lächeln gibt sie den Weg frei, nachdem sie den festen Händedruck erwidert, sich mit »Alice Pogge« vorgestellt hat. »Bei Ihnen hat meine Mom schon mal gearbeitet, oder? In Untertürkheim, für diese alte Frau? Der sie dauernd dieselben drei Bilderbücher vorlesen musste? Und die losgekreischt hat, wenn sie mal nen Satz ausgelassen hat? Aber der ihr Garten, der war voll schön. Da gab’s nen Kaninchenstall, aber da war nur noch eins drin, das ist dann gestorben. Und ich durfte immer Träuble pflücken, rote und schwarze.« »Sie verwechseln mich mit einer anderen Dame, ich habe keine Familie in Untertürkheim.« Er schaut sie verständnislos an. »Meine Mutter ist schon lange tot, sie hat in Berlin gewohnt.« »Oh«, sagt er verdutzt, bleibt stehen und reicht Alice erneut die Hand. »Das tut mir echt leid mit Ihrer Mutter.« Sein Gesicht zeigt dabei einen derart betrübten Ausdruck, dass Alice sich auf die Zunge beißt, um ein Lachen zu unterdrücken. Diesmal packt er nicht zu, seine Berührung ist behutsam, er schlägt die Augen nieder.
Ein bisschen schleifen, Aussprache und ein paar grundlegende Benimmregeln, und du wärst ein exzellenter Verkäufer, ganz gleich ob bei Damen oder Herren. In beiden Abteilungen würden sie dir aus der Hand fressen. Du trainierst, dein Bizeps ist selbst unter den Lederärmeln sichtbar, und jeder will so aussehen wie du. Deinen Charme kann man nicht lernen. Du hast von selbst gespürt, wie du mit mir reden musst, über Gärten und alte Damen. Das hat man oder hat es nicht, und die meisten lernen es nie.
Noch im Eintreten streift Sreten die Stiefel von den Füßen, stellt sie ordentlich am Eingang ab. In seinen blendend weißen Nike-Socken dreht er sich einmal um die eigene Achse. »Alter!« Der ausgestreckte Finger zeigt hoch zu den Blütenkränzen der Stuckdecke, den Engelsköpfen und Blattranken, dem aus der Mitte herabschwebenden Kronleuchter, seinem eigenen Spiegelbild im Glas der Schranktür und zu jeder der geöffneten Zimmertüren, hinter denen sich neue Räume ausdehnen, polierte Parkettflächen, goldbraun schimmernd in makelloser Weite. Rasch schließt Alice die Tür zum Salon, weist auf den Flur und nickt dem Jungen zu, der brav vor ihr hertrabt, Hände in den Jackentaschen, Kopf gesenkt, als wollte er sich kleiner machen. Ich behalte dich im Auge.
Auf dem Weg zur Küche schaut Sreten sich interessiert um, als wäre er im Museum, bestaunt die deckenhohen Regale. Lena hat inmitten ihrer Büchermassen immer wieder Lücken für hübsche Kleinigkeiten gelassen, dort steht ein großer Ammonit, hier eine Karaffe aus Rubinglas. Besonders wertvoll ist fast nichts davon. Jetzt hält der Junge inne. »Hey, Planet der Affen, ist ja geil!« Wieder eine Welle Tom Ford, als er den Arm ausstreckt, dazu sein Lachen, er greift ins Regal und packt den Dirigenten in der zinnoberroten Jacke. Mit dem Finger fährt er ihm ins aufgerissene Maul, »Der hat ja voll die spitzen Zähne!«, tippt auf die Goldknöpfe, die Lockenperücke, die langzehigen Füße auf dem Porzellansockel. Alice fürchtet, dass er die Figur fallen lässt, wenn sie ihn jetzt anraunzt. Er kann nicht ahnen, was er sich da ausgesucht hat. Klirrend stellt Sreten das Stück zurück und wendet sich an Alice: »Wer sind die?« Jetzt hat er die Sängerin heruntergeholt, doch inzwischen ist Alice so weit, dass sie ihm die kleine Affendame sanft aus der Hand nimmt. Ihr weiter Rock ist über und über mit Schleifen garniert, das Dekolleté zeigt viel Fell, und auch sie reißt das Maul auf, die Lippen leuchten rot, dazu schielt sie stark. In ihren Pfoten hält sie ein winziges Notenblatt. Alice schaudert. »Das ist die Meißner Affenkapelle«, sagt sie in dem munteren Tonfall, den sie sich für jede Art von Wissensvermittlung angewöhnt hat. »Im 18. Jahrhundert hat sich ein Künstler damit über die Adligen lustig gemacht, über ihren Kleiderluxus, ihr Benehmen und darüber, dass sie sich um nichts und niemand gekümmert haben außer um sich selbst.« All das weiß sie von Lena. Sie selbst mag Nippes nicht und versteht nicht, dass Leute viel Geld für derartige Scheußlichkeiten ausgeben, noch dazu so zerbrechliche. Anscheinend handelt es sich um ein Familienerbstück. Das Quintett besteht aus Geiger, Trompeter, Kontrabass, Klarinetten- und Flötenspieler. Der Junge nickt. »Voll cool.«
Cora rennt den Flur entlang, der Holzboden erzittert, trotz des persischen Läufers. Sie muss gerade zurückgekommen sein. Alice hat noch nie so ein Tempo bei ihr erlebt. Im warmen Licht der Wandlampen erscheint ihr Gesicht krebsrot. »Sreti, fass ja nix an!«, schreit sie ihm entgegen und erstarrt, als er erneut nach einem Porzellanaffen greift. »Hoppsala!«, ruft er. Grinsend führt der Bassist, himmelblaue Jacke und Kniehosen, seinen Bogen über die Saiten, bevor er in weiter Flugbahn durch die Luft saust. Cora und Alice schreien gleichzeitig auf. Das leichte Klatschgeräusch, mit dem die Figur in der ausgestreckten Hand des Jungen landet, wird abgelöst vom Knall der Ohrfeige: »Ey Mama, bist du blöd?« Erst lacht er, aber unter dem Hagel von Kopfnüssen und Backpfeifen verzieht sich sein Gesicht. »Du Teufel, du bringst mich noch ins Grab!« »Cora, hören Sie sofort auf! Auf der Stelle! Und du gibst mir augenblicklich die Figur zurück.« Alice spürt, wie sie zur Seite geschoben wird, Bücher und Regalbretter pressen sich schmerzhaft in ihren Rücken, über ihr klirren leise die aneinanderstoßenden Figuren, dazu Coras Kaffeeatem, frischer Schweiß, ihrer oder Coras? Als Nächstes sieht sie Cora, wie sie den Jungen schimpfend vor sich herstößt, »Saukerle! Du elendiger Saukerle!« Sie reißt die Tür zum Salon auf. Kurz darauf hört Alice, wie ein Schlüssel herumgedreht wird. Natürlich, sie gehen raus auf die Loggia. Lena nennt sie ihr Sommerzimmer; man sitzt dort zwischen Lavendel und Rosmarin und schaut hinunter auf die Seitzstraße. Aber es ist noch viel zu kalt dafür. Natürlich, sie wollen rauchen, sich eine anstecken, zur Beruhigung. Kurz überlegt sie, sich zu ihnen zu gesellen, eine Fluppe – noch ein Mutterwort – zu schnorren, gemeinsam Dampf abzulassen. Aber am liebsten möchte sie das Pärchen sofort hinauswerfen. Leise geht sie hinüber ins Schlafzimmer. Lena hat nichts von dem Aufruhr bemerkt, sie schläft tief. Alice hört die röchelnden Atemzüge, sieht, wie sich die Brust unter der Decke hebt und senkt. Vorsichtig tritt sie den Rückzug an.
Mutter und Sohn stehen draußen neben den zusammengeklappten Balkonstühlen, beide Glastüren sind geöffnet. Alice rümpft die Nase, der widerliche Geruch von elektrisch erhitztem Tabak zieht zu ihr ins Zimmer, wie aus einer alten Toilette. Sreten hängt über der Brüstung, mit so viel Abstand zwischen sich und seiner Mutter wie nur möglich. Sie drückt sich gegen eine Säule, beide ziehen an ihren Vapes und werfen einander wütende Blicke zu. Schließlich nimmt der Junge eine schneeweiße Kippe aus seinem Gerät und schleudert sie hinunter auf den Gehweg. Alice muss an Talitha denken, 40 Liter Wasser vergiftet. Sreten blafft Cora an: »Du bist echt gestört. Ich hätte das Teil nie fallen lassen. Höchstens wegen dir.« Sie macht einen Schritt auf ihn zu. »Was willst du? Du darfst nicht herkommen! Das wird nicht gern gesehen.« Er verdreht die Augen. »Ich brauch Geld, sofort. Ich geb’s dir später, Ehrenwort. Schau, da, ich hab alles notiert.« Jetzt hält er ihr sein Handy unter die Nase. Cora kneift die Lider zusammen, ihr Gesicht wirkt brutal. Wie eine geballte Faust, denkt Alice. Oder wie ein Kind, das glaubt, die anderen sehen es nicht mehr, wenn es nur die Augen fest genug zumacht. Cora schüttelt den Kopf. »Du kriegst nix mehr von mir, keinen gotzigen Pfennig.« Verächtlich verzieht er die Lippen, äfft sie nach: »Pfennig! Gotziger Pfennig!« Sein Übermut ist verschwunden, er nähert sich Cora, packt sie an den Schultern. »Ich brauch jetzt was, hörst du mich?« Alice wendet sich ab, sie geht zurück ins Schlafzimmer und setzt sich ans Fußende von Lenas Bett. Es ist noch nicht lange her, dass sie eine neue Dosis Tilidin bekommen hat. Ihr Antlitz erscheint Alice fremd, hager, gelblich und trocken, fast wie an dem Morgen nach dem Sturz. Das Einzige, das von der echten Lena geblieben ist, ist ihr Pyjama, königsblau mit feinen Purpurstreifen und langen Kragenecken, ähnlich wie bei den weißen Hemden, die sie früher gerne getragen hat. Früher ist erst wenige Tage her. Langsam öffnet Lena die Augen. Sofort wirkt sie lebendiger, auch wenn es aussieht, als läge ein Schleier über der Iris. »Tut mir leid, Lena, wir müssen unser Mondkalb erst einmal einlernen«, sagt Alice mit gedämpfter Stimme. Die Freundin versucht ein halbes Lächeln. »Ich hab ohnehin keinen Hunger. Hat sie dir erzählt, was ich angestellt habe?« Alice macht eine wegwerfende Handbewegung. »Alles kein Problem, das ist längst erledigt. Ich hab eben auf den Beipackzettel geschaut, Übelkeit ist in den ersten Tagen ganz normal. Sie wird vergehen und dann schmeckt es dir bald wieder.«
Plötzlich vibriert das Handy an Alices Körper. »Entschuldige«, sagt sie und erhebt sich. »Sophie« steht auf dem Display. Das Telefon summt und zittert in ihrer Hand, alles verschwimmt vor ihren Augen, sie lässt sich in den gestreiften Ohrensessel fallen und schaut noch einmal zu Lena hinüber, die mit geschlossenen Augen in ihren Kissen lehnt. Alice wischt über den grünen Kreis. »Ja, bitte«, sagt sie leise.