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Alice wühlt in ihrem Kleiderschrank. Holzbügel klappern, als sie diese zur Seite schiebt, es riecht nach künstlichem Lavendel. Rasch entfernt sie ein Duftsäckchen, sicher Bogdans Werk, schaut durch die Lücke zwischen ihren weißen und hellblauen Blusen auf einen Stapel T-Shirts, nimmt ihn heraus, setzt sich damit aufs Bett und breitet ein Shirt nach dem anderen auf der Tagesdecke aus. Schlecht, noch schlechter, geht gar nicht. Lahme Beigetöne, selbst für die Freizeit. In Freds Teil des Schranks findet sie ein Jeanshemd aus einer seiner schlankeren Phasen. Vorne offen über einem gestreiften Oberteil müsste das eigentlich gehen. Oder locker an der Hüfte geknotet? Auf keinen Fall wird sie eine ihrer zahlreichen Strickjacken mitnehmen. Auch keinen Blazer. Alles, was sie besitzt, sieht förmlich aus. Nach Büro oder Beerdigung. Und ihre Wochenenden verbringt sie am liebsten in verwaschenen Sportklamotten, deren Innenseiten sich weich an ihre Haut schmiegen. Vielleicht einen Pullover? Bald liegen Kleider, Röcke und Hosen kreuz und quer über dem Bett.

Für eine Weile scrollt sie sich durch TikTok und Insta, legt schließlich, überwältigt von der Masse der Looks, das Handy weg und schließt die Augen. Sophie in Jeans und Hoodie, Sophie im dicken Pulli bei der letzten Probe, Sophie auf dem Boden neben dem Mäusekäfig, das Gesicht still und entspannt, obwohl mehrere Nager auf ihr herumklettern. Alices Kopf schmerzt. Diese zahllosen Influencerinnen, die gestikulierend ihre Outfits anpreisen, haben sie erschöpft.

Unschlüssig begutachtet sie ihre Schuhe – nichts davon sieht annähernd so cool aus wie Maries schwere Boots. Sie greift nach einem Paar Sneakers, eine von Freds Pandemiebestellungen. Viel zu bunt, aber sehr bequem. Macht sie sich darin zum Affen?

In der hintersten Ecke des Schranks steht ein alter Versandkarton. Alice zögert kurz, bevor sie ihn herausnimmt und aufklappt. Zuoberst stapeln sich Postkarten und Zettel, die sie ohne einen Blick auf das Geschriebene weglegt. Zuerst fördert sie eine Schneekugel mit dem Eiffelturm zutage. Zwei Mädchen mit Baskenmützen stehen Hand in Hand davor, legen die Köpfe in den Nacken und starren mit ihren aufgemalten Augen in den Blizzard, den Alice jetzt auslöst.

Als Studentin bewahrte sie die Überreste ihrer wenigen Beziehungen in Schuhkartons auf, Pappsärge für Briefe, Schmuck, kleine Aufmerksamkeiten – alles, was wehtat, wenn man es täglich aufs Neue sehen musste. Maries Geschenken hatte sie dasselbe Ehrengrab bereitet wie den Liebesgaben von Freds Vorgängern. Der Schmerz bei ihrem Anblick, das Zusammensuchen und Wegpacken hatte sich ähnlich angefühlt.

In einem aus buntem Stroh geflochtenen Kästchen liegt ein Seidenbeutel. Sie zieht seine Schnüre auf und lässt die Halskette durch die Finger gleiten. »You are my princess, you make me smile, you make my life seem worthwhile.« Ein früher Song von Elton John, kitschig und köstlich. Marie hatte ihn gesummt, als sie Alice die Kette um den Hals gelegt, hinten zugehakt und in ihrem Ausschnitt arrangiert hatte. Modeschmuck zwar, aber mit schweren goldenen Kettengliedern, an denen in Abständen gravierte Medaillen klirren; Love, Friendship, Peace, all die großen Worte. Dazwischen hängen winzige Charms, ein Herz, ein Anker, ein Frosch und der heilige Christophorus, wie er in Maries Beetle vom Innenspiegel baumelt. »Ich hab sie für dich zusammengestellt, lauter Lieblingsmotive.« Alice spürt, wie sich das kühle Metall allmählich in ihrer Hand erwärmt, genau wie an jenem Nachmittag. Sie hatten beide feuchte Augen gehabt, sich lange umarmt. Auf der Arbeit bekam sie oft Komplimente für das auffällige Stück, Fred hingegen fand es »ein bisschen too much.« Seit dem Streit hat sie es nicht mehr getragen. Aus dem Kleiderhaufen wählt sie einen schwarzen Pulli und Jeans, steckt sich das Haar mit einer Klammer hoch und legt die Kette um. Dazu noch die Sneaker, darüber Freds Hemd. Aus dem Spiegel schaut sie eine fremde Frau an. Gar nicht mal schlecht. Das könnte gehen. Unsicher zupft sie ein paar Strähnen aus dem Knoten, damit die Frisur nicht zu streng wirkt. Etwas Altes, etwas Neues, etwas Blaues und etwas Geliehenes. Something old, something new, something borrowed, something blue and a silver penny in her shoe.

Unten im Karton liegt ein Lippenstift. Kostspielige Naturkosmetik, noch eine von Maries Passionen. Der Stift gleitet heraus, kaum benutzt. Sein leuchtendes Korallenrot steht Alice gut, wirkt aber auf ihrem großen Mund so auffällig, dass sie sich unwohl fühlt. Sie braucht keine Köpfe, die sich nach ihr umdrehen, ebenso wenig wie sie im Chor nach einem Solo giert. Trotzdem presst sie die Lippen aufeinander, um die Farbe zu verteilen. Marie fand Alices Stil immer zu konservativ, hatte keine Vorstellung davon, wie schwer diese daran gearbeitet hatte, so auszusehen. Beim Weiterkramen findet sie Nagellack in einem verwegenen Mintgrün und hört Maries Stimme: »Ich hab so hässliche, winzige Nägel, da sieht das doof aus, aber deine aristokratischen Hände vertragen es.« Das Fläschchen klickert beim Schütteln, es lässt sich leicht öffnen. Während sie erst nur den Nagel des kleinen Fingers, danach die restlichen der linken Hand bemalt, mit den Fingern durch die Luft pflügt, damit der Lack schneller trocknet, kommt sie sich vor wie in der Grundschulzeit, wenn sie mit ein paar ausrangierten Tüchern und Schminkstiften ihrer Mutter »Verkleiden« spielte. Sie nimmt sich die rechte Hand vor, der Pinsel zittert, ein grüner Tropfen fällt auf die Tagesdecke, doch sie vollendet ihr Werk, bleibt eine Weile im Schein der Nachttischlampe sitzen, ohne sich zu rühren.

Ein paar Stunden zuvor war sie von Lenas Bettrand aufgestanden und ins Nebenzimmer gegangen. Für die nächsten Wochen Coras Unterschlupf. Dort stellte sie sich mit dem Rücken ans Fenster, um die Tür im Auge zu behalten und Sophies zögernder Stimme aus ihrem Handy zu lauschen. Sie sprach leise, kaum zu verstehen durch Autolärm, eine Polizeisirene und Hundegekläff. »Ist da Alice?« Das kannst du eigentlich auf dem Display sehen, dachte Alice, und als in klagendem Ton ein neues »Hallo?« kam, antwortete sie so warm und einladend, als sei sie mit einer Kundin verbunden: »Guten Abend Sophie, hier spricht Alice Pogge. Was kann ich für dich tun?« »Kannst du Französisch?« Ohne nachzudenken, sagte Alice: »Un petit peu. Pourquoi?« Am anderen Ende seufzte Sophie, ein langgezogenes, erleichtertes: »Oh!« und sagte »Ich wusste es!« Alice fragte: »Warum?« Jetzt zögerte Sophie, stotterte: »Ja, weißt du, ich schreib doch meine Seminararbeit, über Clemens Brentano.« »Du hast mir davon erzählt, das Rheinmärchen.« Sophie klang fassungslos: »Das hast du dir gemerkt?« Alice erzählte nicht, dass sie die Geschichte gelesen hatte. »Was ist denn mit deiner Arbeit?« »Ach, ich soll über die Tiersymbolik was rausfinden, und meine Professorin meinte, schauen Sie in Richtung Frankreich, da hab ich so ein paar Märchen gelesen. Eben komm ich aus der Bibliothek.« Neben dem Sofa schauten Coras Hausschuhe zu Alice hoch, und sie verließ den Raum. Im Salon setzte sie sich an Lenas Sekretär. Anscheinend war er abgestaubt und verschlossen worden. Sie strich über das nach Bienenwachs duftende Holz und fragte Sophie: »Geht es dir denn wieder besser? Wir haben dich bei der Probe vermisst. Deine Mitbewohnerin hat dich vertreten …« Schweigen, gellendes Hupen, Alice hörte die regelmäßigen Pieptöne eines Fußgängersignals und redete dagegen an: »Respekt, du musst gute Nerven haben, mit einer raumgreifenden Persönlichkeit wie ihr zusammenzuleben.« »Pfff, Talitha hab ich im Griff!« Das klang so wegwerfend, dass es unmöglich wahr sein konnte. Konzentriert hörte sie dem Mädchen zu, die immer noch zu leise weitersprach, als wollte sie etwas hinter sich bringen.

»Ich hab eine alte Biographie gefunden, da stand drin, dass Brentano ständig Zahnweh hatte. Und in Paris gab es diesen Doc, er war ein Schüler von Fauchard, dem ersten Zahnarzt ever. Paris war führend in Zahnmedizin, und Brentano ging immer, wenn er dort war, zu diesem Arzt. Der hat seiner Tochter einen Brief über Brentano geschrieben, weil er ihn irgendwie gestört fand. In dem Buch war ein Stück daraus abgedruckt, sogar auf Deutsch, und da stand was ganz Interessantes drin, über Brentano und einen verrückten Traum, den der hatte, über Mäuse. Aber der Brief war nicht vollständig. Da hab ich auf Englisch an das Museé de l’histoire de la science dentaire geschrieben, die haben viele Briefe und Dokumente, auch von diesem Dr. Duval. Aber eben alles auf Französisch, unsortiert, weil es nicht genügend Bibliothekarinnen gibt. Ich müsste selber kommen, dort rumsuchen und lesen. Und ich weiß einfach nicht, wie ich das hinkriegen soll.«

Warum erzählst du das nicht Maja? Die könnte doch mit dir hingehen. Alice lag diese Frage auf der Zunge, aber sie hütete sich davor, sie laut auszusprechen. Natürlich wollte Sophie ihre treulose Freundin nicht um einen Gefallen bitten. Natürlich hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen. »Was hast du dir denn vorgestellt, Sophie?«, fragte sie und fand ihre muntere Stimme grässlich. »Ach, was weiß ich. Das ist eh alles Kack. Ich hätte dich nicht stören sollen, noch dazu am Samstag.« »Ach, komm Sophie, sei kein Frosch! Sag mir, was Sache ist.« Von Sophie kam nervöses Gekicher. »Sei kein Frosch«, wiederholte sie, »wieso ausgerechnet ein Frosch?« Alice überlegte, dass eine Zwanzigjährige diese Redewendung wahrscheinlich noch nie gehört hatte, und kicherte ebenfalls. »Komm schon,« wiederholte sie. Sophie keuchte: »Okay, okay. Ich muss nach Paris, sonst kann ich meine Arbeit nicht fertigschreiben. Aber ich trau mich nicht allein, weil ich kein Französisch kann.« Alice glaubte nicht, dass im 21. Jahrhundert in der französischen Hauptstadt Kenntnisse der Landessprache noch wirklich notwendig waren, dazu mit Google-Übersetzer auf dem Handy, doch sie verkniff sich diesen Einwand. Sophie hatte Probleme, das war ihr klar, jetzt noch stärker als an dem Abend in ihrer Menagerie. Trotzdem fragte sie: »Du brauchst also jemanden, der dich nach Paris begleitet. Und dieser Jemand soll ich sein?« Sie sagte das in einem leichten Ton, als habe die junge Frau ihr einen Besuch in der Wilhelma vorgeschlagen. Und im Grunde – was war schon eine Fahrt nach Paris? Für Sophie ein Riesending. Aber nicht für sie, Alice Pogge. Sophie wollte mit ihr nach Paris, das weiße Kaninchen hatte es sogar brandeilig. Sophie flüsterte: »Ja.« Und setzte nach: »Willst du denn auch wirklich?«, worauf Alice feierlich antwortete: »Ja, ich will.« Danach kicherten sie wieder und fanden kaum ein Ende.

Als Fred ihren Namen ruft, sind die Nägel trocken und ein kleiner Weekender gepackt. Erst im Flur, im Schein der Kugelleuchten, die von der Decke hängen wie Vollmonde, bemerkt Alice am Gesichtsausdruck ihres Mannes, dass sie noch immer ihr Paris-Outfit trägt. Fred wirkt verwirrt, fast erschrocken, betastet kurz die Halskette, ihr hochgestecktes Haar, wendet sich dann ab und hängt seinen Mantel auf. Im Spiegel neben der Garderobe sieht Alice ihr jünger wirkendes Abbild und grüßt diese Fremde mit einem knappen Nicken. Auf dem Weg in die Küche sprudelt sie die ganze Sophie-Geschichte heraus.

»Lilli, bist du sicher, dass es vernünftig ist, mit diesem Mädchen wegzufahren? Du kennst sie kaum, und was du mir von ihr erzählt hast, klingt, gelinde gesagt, seltsam. Dieses ganze Viechzeug in der Wohnung.« »Du sagst doch dauernd, ich sei festgefahren, nicht spontan genug.« »Ausgerechnet Paris.« »Wieso?« Statt einer Antwort zieht Fred die Schultern hoch und schneidet eine Grimasse. »Ach, du meinst die verunglückte Chorfreizeit! Willst du damit sagen, Paris sei verbrannte Erde?« Fred kratzt sich am Kopf, seine Finger verschwinden tief in dem hellen Schopf. Alice fällt auf, wie viele weiße Haare er bekommen hat, und streckt die Hand aus, um sein Gesicht zu streicheln, doch sie fasst ins Leere, weil er sich im gleichen Augenblick wegdreht und anfängt, im Kühlschrank zu kramen. »Ich hab nichts gegen Paris. Mir gefällt nur der Gedanke nicht, wie fertig du warst, als du das letzte Mal von dort zurückgekommen bist.« »Aber Sophie hat mich so darum gebeten! Sie traut sich nicht allein, kann kein Wort Französisch …« »Hat dieses bedauernswerte Wesen keine Freundin, keine Eltern?« »Die Mutter steckt in Schwierigkeiten, ist mit ihrem Café in der Pandemie pleitegegangen. Sophie ist unheimlich jung und …« »Na ja. Vielleicht weiß sie auch nicht, wie sie eine schöne Zeit in einer teuren Stadt allein finanzieren soll.«

Fred spricht diesen Satz in die beleuchteten Fächer des Kühlschranks hinein, und Alice überlegt, ob er das tut, um ihrem Blick auszuweichen. Er legt mehrere Stücke Käse auf den Tisch und wickelt sie aus dem Papier. Geistesabwesend bricht er ein viel zu großes Stück Manchego ab, stopft es sich in den Mund und sagt kauend: »Lilli, mein Schatz, ich möchte nur verhindern, dass …« Alice unterbricht ihn. »Ich möchte auch vieles verhindern. Unter anderem, dass dich der Schlag trifft.« Sie packt den Käse wieder ein, drückt Fred eine Packung Salatherzen in die Hand. »Sophie ist nicht so eine Giftspritze wie Marie. Sie ist jung, ungefährlich, hilflos. Du wirst morgen im Schwarzwald auf dieser Tagung sein, das hast du schon seit Wochen angekündigt. Warum soll ich die Gelegenheit nicht nutzen, mal rauszukommen? Wir werden Spaß haben.« Sie sagt ihm nicht, dass sie bereits Sitzplätze im TGV gebucht, zwei Einzelzimmer im Hotel Chopin reserviert hat. Oder, dass sie sich vorstellt, wie Sophie im Foyer auf dem Sofa sitzt, auf dem Schoß die schwarze Hotelkatze. Fred hat den Salat gewaschen, er wischt sich die tropfenden Hände an seiner Hose ab, bevor er auf Alice zugeht und sie an sich drückt. »Was ist eigentlich mit eurer Freundin, die den Unfall hatte?« »Lena?« Alice reißt die Augen auf, sie ist froh, dass Fred ihr Gesicht nicht sieht, aber er merkt, wie sie sich versteift. Sie zögert, bevor sie antwortet. »Da muss sich jetzt mal Marie kümmern. Sie hat sich schon die ganze Zeit gedrückt. Aber ich hab mich durchgesetzt. Und jetzt muss ich fertigpacken.« Sie macht sich von ihm los, geht ins Schlafzimmer und schließt die Tür lauter als gewöhnlich. Alice lässt sich mitten in die Kleiderberge auf dem Bett fallen und rollt sich in der Dunkelheit zusammen wie eine Brezel. Sie merkt nicht, wie sie leise vor sich hinsummt: »How do you get to wonderland? Over the hill or under land? Or just behind the tree?«

Als Alice ein paar Stunden zuvor aus Lenas Schlafzimmer in die Küche gekommen war, hatte ein Zettel auf dem Tisch gelegen. Tagebuch und Tasche waren verschwunden, Mutter und Sohn ebenfalls. »Musste kurz weg. Wollte nicht stören. In 1 Std. wieder da. Cora.« Alice las die Nachricht mehrfach, bevor sie in den Salon ging und eine Flasche aus der Holztruhe nahm, in der Lena ihre Hausbar aufbewahrt. Kurz betrachtete sie das Etikett, holte ein Glas aus der Vitrine, schenkte sich einen Fingerbreit ein. Im Kühlfach fand sie Eiswürfel, kippte einen Rest Mineralwasser statt Tonic über den Gin, schnupperte und trank in kleinen Schlucken. Erst als das Eis fast geschmolzen war, rief sie Marie an. Nach endlosem Klingeln meldete diese sich tatsächlich. »Marie, warum bist du nicht in der Seitzstraße gewesen wie verabredet? Es war ausgemacht, dass wir uns abwechseln«, sagte Alice ruhig. Diese Sätze hatte sie vorher auf einen alten Briefumschlag notiert und behielt ihn während des Telefonats in der Hand. Marie begann sofort Ausreden aufzuzählen. Es klingt, als hätte sie seit Tagen Argumente gesammelt, vielleicht hat sie sich auch einen Zettel geschrieben, dachte Alice, schlug die Beine übereinander und nippte an ihrem verwässerten Drink. »Alle Leute haben viel zu tun«, sagte sie streng. »Alle Leute fühlen sich ab und an krank, und alle Leute haben familiäre Aufgaben. Lena, Cora und mir gegenüber hast du dich verpflichtet, jeden zweiten Tag hier aufzutauchen, damit Cora mal Pause machen kann. Das hast du bisher nicht getan.« Sie holte Luft und war überrascht, als Marie in die Stille hinein zugab: »Ja, du hast recht. Entschuldige bitte.« Alice hatte Protestgezeter erwartet. »Ihr Sohn hat sie hier besucht, stand einfach vor der Tür. Sie haben sich kräftig gestritten und sind jetzt beide weggegangen. Er wollte Geld. Mir gefällt das alles nicht. Einmal am Tag muss jemand kommen und ihr auf die Finger schauen.« Marie lachte laut. Alice wusste, dass sie sich anders anhörte, wenn sie etwas wirklich witzig fand. Doch ebenso wie vom falschen Gin Tonic wurde sie von Maries Lachen betäubt. »Sreti ist ein ausgesprochen charmanter Junge. Cora hat ihn oft mitgebracht, wenn sie bei Mutter war.«

Am anderen Ende der Leitung klapperte auf einmal Geschirr, Wasser lief, Marie erledigte nebenbei Hausarbeit. Sicher kochte sie für Götz und Luzie und war enttäuscht, wenn beide zu spät oder gar nicht kamen, nicht unwahrscheinlich an einem Samstagabend. Sie beherrscht die Kunst, das Smartphone zwischen Schulter und Ohr zu klemmen, während sie mit den Händen Gemüse schnippelt. Etwas polterte ins Spülbecken. »Ich mach grade Kartoffelsalat«, erklärte Marie, »Hannah kommt heute Abend aus Tübingen.« Häusliche Plaudereien, wie früher, dachte Alice. Marie räusperte sich: »Alice, ich finde es übertrieben, Cora so zu überwachen. Sie ist doch keine Zuchthäuslerin.« »Weißt du’s?«, fuhr Alice auf. Sie berichtete von der silbernen Teekanne, die Cora bestimmt nur auf der Suche nach dem Stempel poliert hatte, von ihren taxierenden Gängen durch die Wohnung, der ermordeten Schwester Manuela.

»Was? Sie hat dir den Namen verraten? Das nenn ich mal ein Vertrauensverhältnis!« Jetzt klang sie fast eingeschnappt, und Alice wusste, dass sich ihre Unterlippe in diesem Augenblick ganz leicht vorschob, wie bei einem enttäuschten Kind. Alice errötete. »Hat sie das nicht im Chor erzählt, bei ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹«, fragte sie. Marie bestritt das und berichtete, wie Cora ihrer verwirrten Mutter jeden Abend vorgelesen, dazu noch Abendbrot gemacht und auf sie aufgepasst hatte, bis jemand von der Diakonie kam, um sie zu waschen und ins Bett zu bringen. »Sie mag nicht gerade ein Sonnenschein sein, aber ihre Aufgaben hat sie immer gut erledigt.« »War sie geduldig mit deiner Mutter?« Marie stöhnte. »Geduld hat uns allen gefehlt. Ohne diese Tageseinrichtung, eine Art Kindergarten für demente Menschen, wären wir zusammengebrochen. Allein die Fahrerei jeden Tag. Das hat mich fertiggemacht.« Sie sprach weiter von ihrer Mutter, aber Alice unterbrach sie: »Marie, ich muss dringend verreisen, eine geschäftliche Sache, es lässt sich nicht verschieben.« Die Lüge kam so flüssig heraus, dass es sie selbst überraschte. »Und zwar gleich morgen früh. Bis Montag. Am späten Nachmittag wäre ich zurück. Du musst nach Lena schauen. Kann ich mich darauf verlassen?« Sie hörte, wie Marie das Telefon ans andere Ohr legte, dabei leise mit Mignon sprach, die wahrscheinlich die ganze Zeit über zu ihren Füßen gesessen und auf einen Happen gehofft hatte. »Jaha, ich kümmere mich um Lena.« Ihr gedehnter Tonfall hatte etwas Bockiges. Alice hob die Stimme. »Lena geht es wirklich schlecht. Die Schmerzen scheinen ziemlich stark zu sein, das hat die Ärztin ja angekündigt. Durch dieses Tilidin schläft sie fast die ganze Zeit.« Marie versuchte wieder ein Lachen. »Das sind doch beste Voraussetzungen für die Heilung, sie soll sich ja so wenig wie möglich bewegen.« Alice überlegte, ob sie Marie einfach anknurren sollte, sprach aber weiter, als sei die ehemalige Freundin ein aufmüpfiger Azubi. »Marie, du hast dich für diese Aufgabe entschieden. Aber bisher lässt dein Engagement zu wünschen übrig.« »Du nervst mit diesem Verfolgungswahn! Ich werde mich schon kümmern, zum Kuckuck!« Dann klickte es, sie hatte aufgelegt. »Miststück«, sagte Alice leise.

Fred kommt ins Schlafzimmer. An der Art, wie er läuft, sieht sie, dass er betrunken ist. Unsicher geht er vor dem Bett in die Knie, legt seinen Kopf in ihren Schoß. »Lilli, hier sieht es ja aus wie bei Hempels unterm Sofa. Komm, lass uns schlafen gehen.« Sie spürt seine Bartstoppeln durch den dünnen Jeansstoff.