21. Kapitel

Friede sei mit dir

Was nützt mir mein Frieden, wenn die Nachbarn Rabatz machen. Fast acht Milliarden Nachbarn insgesamt. Rabatz gegen Links, Rabatz gegen Rechts, Rabatz gegen Alt, Rabatz gegen Jung, Rabatz gegen Frauen, Rabatz gegen Männer, Rabatz gegen Rabatz. Jeder gegen jeden, und alle gegen mich. Rabatz, Rabatz, Rabatz!

Was nützt mir mein Frieden dann?

Und was nützt er mir, wenn mich schon beim Frühstück das klassische »Alles Scheiße«-Gesicht meiner Liebsten empfängt? Und sie dieses Gesicht einfach beibehält, weil es ihr so gut gefällt. Die Frage ist nicht nur rhetorisch, sondern auch ganz allgemein gestellt, denn wenn ich hier konkret weiter Ross und Reiter nennen würde, gäbe es a) alsbald Probleme mit dem Persönlichkeitsrecht und b) noch mehr Rabatz. Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter? Mag sein. Und dass ein Frieden, der selbst in den Schützengräben einer Beziehung nicht untergeht, auch für den Rest der Welt unknackbar wäre, mag auch sein. Sicher dagegen ist: Ich bin nicht Mahatma Gandhi. Der gewaltlose Widerstand will mir einfach nicht gelingen, das Schweigen der Weisen eigentlich auch nicht sonderlich. Wenn ich den Mund halte, damit nicht ein Wort das andere ergibt, mag das am Tisch deeskalierend wirken, im Magen nicht. Der dreht sich um, und wenn er sich ausgedreht hat, ist er verknotet. Frieden geht, vermute ich, anders.

Konstruktives Streiten?

Was immer das ist, das war es heute nicht. Und jetzt liegt sie im Bett, und ich bereue meine Worte. Hat sie auch ihre bereut, bevor sie eingeschlafen ist? Wenn nicht, geht morgen der Rabatz weiter. Mir bleibt die Nacht. Die bleibt mir immer. Darum liebe ich sie. Die Nacht ist eine rabatzarme Zeit, und ich will sie nicht verschlafen.

Neuer Tag, neues Wissen. Ein Freund hat mir erzählt, wie konstruktives Streiten geht. 1. Nicht länger als eineinhalb Stunden. 2. Jeder hat die gleiche Redezeit. 3. Keiner sagt DU! Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Es geht ums Verstehen. Dafür reicht es, sich selbst zu erklären. Das ist der einzige Weg. Der Versuch, den anderen über seine Fehler zu belehren, wirkt dagegen kontraproduktiv. Wie eben. Und ein Frühstück endete in Tränen.

Spazieren gehen. Ich komme in den letzten Tagen häufig dazu. Und wie so oft bei diesen kleinen Fluchten in den (letzten?) Sommer traf ich auch heute zufällig auf F. Und nur der Zufall hat eine Botschaft, das steht schon mal fest. F. kam vom Joggen, wir gingen auf einen Kaffee. Das Beste an unseren Gesprächen ist, dass sie Problemlösungen bringen, ohne dass die Probleme angesprochen werden. Irgendwie verlaufen unsere Small-Talk-Themen immer synchron zu dem, was gerade meine Frage ist. Wir sprachen über Rainer Maria Rilke und Triest, und von dort war es nicht mehr weit bis Marokko und zu den Chamäleons in den Orangenbäumen eines Riads-Innenhofes. Faszinierende Tiere, mit denen ich eins wurde, als ich sie einmal unter dem Einfluss von Opium beobachten durfte. Die Einswerdung war so total, dass ich ihre Gedanken dachte und ihre Gedichte schrieb. Eins davon ist mir bis heute erinnerlich. Und ich trug es F. sogleich vor, sehr langsam vor, man muss es rezitieren, so wie man kurz vor dem Einschlafen spricht, quasi mit Sandmännchenstimme und lang auseinandergezogenen Worten.

»Baum ist Raum.

Blatt ist Bett.

Liebe ist Traum.

Mal da, mal weg.«

Des Chamäleons Weisheit gilt selbstverständlich auch für der Liebe Gegenteil. Auch Streit ist nur ein Traum. Beim Frühstück da, beim Abendessen wieder weg. Einfach so erhoben Lara und ich unsere Gläser und sprachen einen Toast aus: »Friede sei mit dir.« Und sollte es einmal nicht mehr so einfach sein, gibt es seit meinem Gespräch mit F., denn dabei ist er mir eingefallen, immer noch den Plan B. Man tut dem Streit was in den Tee. Also Opium sei mit dir, in diesem Fall.

Andere Frage.

Was nützt mir mein Frieden, wenn mich ein Virus nervt? Viel, solange es mich nicht erwischt. Autoren gehören zu den Privilegierten einer Pandemie, weil für sie ein Lockdown nur eine Schreibklausur ist und Homeoffice ein modernes Wort für des Dichters stilles Kämmerlein. Aber es gibt ja auch Reiseschriftsteller, und die nervt es durchaus, wenn alle Grenzen zu sind, überall die Quarantäne winkt und man unterwegs in den Masken anderer Länder liest statt in ihren Gesichtern. Keine Hotels, Ausgangssperren, Kontaktverbot, was nützt mir bei dem Zirkus mein Frieden, wie lange wird er sich halten, wann wird er verschwinden, und wie soll ich ihn wiederfinden? Reisen war für mich immer die zuverlässigste Möglichkeit, mit mir und der Welt in Einklang zu kommen. Außerdem war es auch immer die zuverlässigste Flucht vor Rabatz aller Art, solange man sich unterwegs vom World Wide Web fernhielt. Da gibts kein Entrinnen vor dem Rabatz, und wenn dann Rabatz in Hass umschlägt, Hass gegen Links, Hass gegen Rechts, Hass gegen Hass, was nie den Hass minimiert, sondern immer nur mehr Hass, Hass, Hass produziert, dann rette sich, wer kann. Hass ist tausendmal infektiöser als jede Coronamutation. Warum nur sind die social media zu social assholes geworden? Warum ist Facebook kein Peacebook? Und was kann ich tun, um das zu ändern?

  1. Nie betrunken posten.
  2. Nie posten, wenn ich schon was getrunken hab.
  3. Mich auf Safari-Videos konzentrieren.

Shitstorm ist der Durchfall des Internets, aber die Serengeti bleibt davon unbefleckt. Löwen schmusen mit Menschen, Elefanten rüsseln durchs Seitenfenster, Affen grimassieren allerliebst. Das geht immer. Natürlich gibts auch Mord und Totschlag. Krokodile beißen Wasserbüffel, Hyänen hängen an Giraffenbeinen, und alle fürchten Warzenschweine, aber keiner meint es persönlich, alle machen nur ihren Job für das ökologische Gleichgewicht von Mutter Natur.

Einmal sah ich ein Häschen, an das sich ein hungriger Jaguar anschlich. Nach diesem Video wusste ich, dass ich nie wieder irgendwo in der freien Wildnis entspannt werde pinkeln können. Von einer Großkatze im Anschleichmodus sieht man nichts, hört man nichts, fühlt man nichts, kurz, ahnt man nichts, weil der Jaguar das wirklich gut kann. Immer nur ein paar Samtpfoten weiter durch das hohe Savannengras in Richtung Häschen, in Richtung Unschuld, in Richtung Gottes süßester Vegetarier auf Erden und dann wieder innehalten, aber keineswegs pausieren, die Bestie platzt fast in ihrer Langsamkeit, und ihre Augen glühen. Das Häschen mümmelt derweil vor sich hin und schaut in die andere Richtung. Könnte man es warnen, würde ich es sofort tun, so süß ist es. Und der Jaguar schleicht sich näher ran, näher und näher. Das Häschen hebt den Kopf und stellt das Mümmeln ein. Spürt es die Gefahr? Sieht nicht so aus. Es mümmelt weiter. Aber als der Jaguar endlich in die Puschen kommt und mit einem Sprung vor Ort eintrifft, verblüfft ihn des Häschens Hüpftechnik. Es katapultiert sich nach rechts raus und schaltet dann für den weiteren Fluchtverlauf ins Hakenschlagen um. Ein guter Jaguar kennt seine Grenzen. Er ist nur schneller geradeaus und gibt sofort auf. Happy End in der Wildnis schafft Frieden im World Wide Web.

Aber wie geht Happy End im weltweiten Wahnsinnsverkehr? Und Happy End für wen? Das müsste man als Erstes diskutieren, denn da herrscht ein heilloses Durcheinander. Schon ich allein habe drei Verkehrsteilnehmer in mir, die miteinander verfehdet sind. Als Fußgänger betrachte ich jeden Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig als natürlichen Feind, aber wenn ich selbst Fahrrad fahre, nervt mich jeder Fußgänger, der sich darüber beschwert. Das Einzige, was sie eint, ist ihr Hass auf den Autofahrer, aber der ist ja auch in mir, und wenn er grad in Papas Benz sitzt und ihn ein Fahrradfahrer oder Fußgänger provoziert, fährt der Mittelfinger aus. Wenn ich nur ein klein bisschen cleverer wäre, wüsste ich, dass ich mir grad selbst den Fick-dich-Finger zeige, nur ein bisschen zeitversetzt. Dasselbe gilt für den Krieg in der reinen Automobilisten-Welt. Auch deren Archetypen sind allesamt ein Teil von mir. Das Arschloch, das mir in der Dunkelheit mit Fernlicht entgegenkommt. Das bin auch ich manchmal. Der Penner, der noch langsamer als ich fährt. Ist mir auch schon passiert. Der Wichser, der mich nicht die Spur wechseln lässt, der Asoziale, der auf der Fahrbahn parkt, der Drängler, der zu nah auffährt, der Überhöfliche, hinter dem es nicht weitergeht, weil er, nach Liebe hechelnd, allen vor ihm die Vorfahrt gibt, der Mailchecker, der nicht mitkriegt, wenn die Ampel auf Grün umspringt, der Nicht-Blinker, der Sonntagsfahrer, der Rächer der Rentner, das bin alles auch ich. Alle Archetypen des nervenden Autofahrers sind durch Raum und Zeit verstreute Identitäten meines Ichs, sogar die Frau am Steuer. Zu der werde ich auf Frauenparkplätzen.

Also Friede sei mit allen, die so sind wie ich. Friede sei mit dir in mir.