«sie können jetzt rein», sagte der Arzt. «Mr. Weinstein ist bei Bewußtsein und fragt nach Ihnen. Aber bitte nur für ein paar Minuten.»
Damon saß mit Lieutenant Schulter in dem kleinen Wartezimmer neben der Intensivstation des Krankenhauses, in das Weinstein und der von Zalovskys zweiter Kugel getroffene betrunkene Sänger eingeliefert worden waren. Nach dem Sänger hatte bisher niemand gefragt. Bei der Einlieferung hatte man nur noch seinen Tod feststellen können.
Es war ein langer Tag gewesen. Die Schüsse waren kurz nach halb vier Uhr morgens gefallen, und jetzt war es sieben Uhr abends. Verschiedene Kommissare hatten Damon verhört, während Weinstein auf dem Operationstisch lag; dann war Schulter erschienen und hatte den Fall übernommen. Barmherzigerweise hatte die Polizei alle Zeitungsleute vom Krankenhaus ferngehalten, aber Damon konnte sich ausmalen, wie die Titelseiten ausgesehen hatten. Er konnte Sheila erst um ein Uhr in Vermont anrufen, aber sie war bereits unterwegs und mußte jetzt jeden Augenblick eintreffen.
Schulter war überraschend sanft gewesen und hatte darauf bestanden, daß Damon Kaffee und Sandwiches bekam; aber immer und immer wieder forderte er ihn auf, jede Bewegung zu beschreiben, die jeder Beteiligte an der Schießerei gemacht hatte. Eine Blutspur lief, wie Schulter Damon erzählte, von dem Fleck, wo die von Zalovsky benutzte Pistole gefunden wurde, zum Durchlaß und zur Bordschwelle am Waverley Place. Ein Zeuge hatte gesehen, wie ein Mann sich in ein dort geparktes Auto gewor-
fen hatte und davongefahren war. Bedauerlicherweise hatte sich der Zeuge nicht die Nummer des Fahrzeugs gemerkt. Aber noch bedauerlicher war, daß Damon keine Beschreibung seines Angreifers geben konnte, außer daß er von mittlerer Größe, untersetzt und sehr kräftig war, daß er gestrauchelt und fast gefallen wäre, als der Schuß ihn getroffen hatte, daß er sich aber zusammengerissen hatte und davongestolpert war. Die Kugel mußte in seine rechte Seite oder den rechten Arm eingedrungen sein, weil er den Revolver in der rechten Hand hielt und ihn unmittelbar nach dem Treffer hatte fallen lassen.
«Er wird mit einem großen Loch im Körper nicht allzu weit kommen», sagte Schulter. «Und bald - sehr bald -wird er sich einen Arzt nehmen müssen, der ihn zusammenflickt; und zehn Minuten nachdem er die Arztpraxis oder das Krankenhaus verlassen hat, werden wir ihm auf den Fersen sein.»
«Ich wünsche Ihnen alles Glück», sagte Damon. «Und mir auch.» Er war nicht so zuversichtlich wie Schulter.
Weinsteins Knie war getroffen und zerschmettert worden. Er hatte schnell eine Menge Blut verloren, und Schulter staunte, daß er trotzdem noch feuern und seinen Mann in dem schwankenden matten Licht hatte treffen können. Schulter ließ sich von dem Tod des Mannes, der in der Fifth Avenue, am Eingang zu den Washington Mews, Die Lafetten, sie rollen entlang, gesungen hatte, nicht weiter beeindrucken. Dergleichen Vorfälle seien in New York an der Tagesordnung, sagte Schulter. «Das sind eben die durchschnittlichen Verluste», war die von ihm gebrauchte Phrase. Es war offensichtlich, daß Schulter Zuschauer als eine normal gefährdete Gattung betrachtete.
Damon sprach es zwar nicht aus, aber es schien ihm doch, daß die versicherungsstatistischen Maßstäbe, nach denen Schulter die Lebenschancen eines jeden Menschen beurteilte, erheblich von den seinen abwichen. In seinem Fall war der Durchschnitt innerhalb der letzten Wochen in übelster Weise ad absurdum geführt worden. Zwar traf es zu, daß der frühmorgendliche Sänger die erste Person gewesen war, mit der er auf dem Weg zu Zalovskys Treffpunkt in eine Art von Berührung gekommen war - falls man das Überholen eines Betrunkenen auf der Fifth Avenue mitten in der Nacht so bezeichnen konnte. Aber Schul-ters Statistik bezog jene anderen Opfer auf Dämons Liste, wie zum Beispiel Maurice Fitzgerald, Melanie Deal, Elsie Weinstein, Julia Larch und Sheilas Mutter, nicht mit ein; auch nicht Manfred Weinstein selber. Damon wußte, daß seine Ideen neurotisch, ja krankhaft waren, aber er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß jede Verbindung mit Roger Damon einen Menschen zum Opfer machen konnte, auch wenn er nicht unmittelbar oder innerhalb der vergangenen zwei Wochen dabei ums Leben gekommen war.
Der Mann, der sein Leben gelassen hatte, war inzwischen identifiziert worden. Er hieß Bryant und war aus Tulsa, Oklahoma, zu einer Konferenz von Versicherungsmanagern nach New York gereist. Damon erinnerte sich an Fitzgeralds Worte: Vertretbare Verluste, und fragte sich, ob Schulter den unseligen Mr. Bryant dazuzählen würde.
Weinstein lag bleich und still im Krankenhausbett; Drainageröhren hingen von ihm herab und Infusionsschläuche waren durch Nadeln mit seinen Venen verbunden. Seine Wangen waren eingefallen, und die regungslose Gestalt unter dem Laken schien geschrumpft, aber seine jetzt tief in die Höhlen gesunkenen Augen waren wach. Er war der einzige Patient im Zimmer.
«Wie geht's dir?» fragte Damon mit gesenkter Stimme.
«Ich atme», erwiderte Weinstein schwach.
«Der Arzt sagt mir, daß du wieder gesund wirst.»
«Ich wette, das erzählt er jedem.» Weinstein versuchte ein kleines Lächeln.
«Auf alle Fälle wirst du in ein paar Monaten wieder gehen können», sagte Damon.
«Wohin?» fragte Weinstein. «Und wie steht's mit dir?»
«Gut», sagte Damon. «Unverletzt.»
«Das Glück der Iren.» Weinstein streckte die Hand aus, um die Damons zu ergreifen. Der Druck war schwach. «Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht. Der Scheißkerl ist entwischt, stimmt's?»
«Ja. Nicht weit, nach Schulters Ansicht. Du hast ihn getroffen. Er kann nicht weit gekommen sein.»
«Ich hätte ihn mit einem Schuß umlegen müssen. Das verdammte dritte Bier», sagte Weinstein bitter. «Und dann bist du auf mich zugerannt und hast ihn gedeckt, so daß ich keinen zweiten Schuß mehr feuern konnte. Dann habe ich wohl das Bewußtsein verloren. Schöner Leibwächter! Wie ein Amateur aus der Provinz.»
«Auf alle Fälle», sagte Damon, «hast du mir das Leben gerettet. Wenn dich das tröstet.«
«Tröstet!» Ein mühsames Lachen kam über die blassen Lippen. «Einen der Burschen, die hinter mir gesungen haben, hörte ich schreien. Ist der auch getroffen worden?»
«Er ist tot...»
«Großer Gott!» Weinstein seufzte. «Hast du wenigstens etwas erfahren? Wer der Schurke ist? Was er verlangt?»
«Nichts», sagte Damon. «Er war äußerst mißtrauisch. Er hielt die beiden singenden Männer für meine Leibwächter, und dann hat er dich gesehen ...»
«Es gibt immer Dinge, die man nicht vorhersehen kann ...» sagte Weinstein mit heiserer Stimme. «Zwei Burschen gehen von einer Party am falschen Ort und zur falschen. Zeit nach Hause. Schicksal!» Er zog seine Hand von Damons Hand zurück. «Tut mir leid, ich kann nicht mehr sprechen. Die haben mich mit allem möglichen vollgepumpt; sie wollen anscheinend, daß ich zwei Wochen lang benebelt bin. Paß auf dich auf! Und mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde ...» Er schloß die Augen und versank wieder in einen betäubten Schlaf.
Damon fühlte sich erleichtert, als er die Intensivstation verließ mit ihrer Atmosphäre verhaltener Spannung, den wachsamen Schwestern vor den Bildschirmen, auf denen elektrische Impulse erratische helle Linien zogen und dadurch Leben und Tod der grotesk bandagierten Leiber anzeigten; diese waren ihrerseits durch Schläuche mit ächzenden Geräten verbunden, die er durch offene Türen in anderen Räumen erblickte. Sterblichkeit, dachte er, als er an den geretteten Trümmern der Menschheit in dieser Abteilung vorbeiging, ist hier die Handelsware.
Sheila wartete auf ihn, und mit ihr ein Oliver, der jetzt blasser aussah als je zuvor. Sie hatte Oliver von Vermont aus angerufen, und er hatte sie vom Flughafen abgeholt. Ihr Koffer stand auf dem Fußboden zu ihren Füßen, und die Sorge hatte sich tief in ihr Gesicht gegraben. Sie legte die Arme um Damon, als er ins Zimmer trat, und hielt sich schweigend an ihn geschmiegt. Für Weinstein war an diesem Abend keine weitere Hilfe möglich, und Damon stolperte vor Müdigkeit; so folgten sie denn, mit einer letzten Mahnung an den Arzt, sie im Fall einer Krise in Olivers Wohnung anzurufen - denn Oliver hatte Sheila überredet, dort Quartier zu nehmen -, Lieutenant Schulter durch ein Gewirr von Gängen zu einem rückwärtigen Ausgang, um den Reportern am Hauptportal zu entrinnen. Da Schulter nun einen ermordeten Mann und zwei schwer Verwundete als Beweisstücke vorzeigen konnte, war der gelangweilte Ausdruck, den er bisher für Damons Probleme übrig hatte, einer fast väterlichen Fürsorglichkeit gewichen; und es war nicht mehr die Rede von Irren, die pro Nacht in New York zehntausend obszöne Anrufe machen. Er bestand darauf, mit in das Taxi einzusteigen und zu Olivers Wohnung zu fahren, und er half Damon aus dem Wagen, als sei dieser ein Invalide. «Keine Sorge», sagte er, als sie sich vor der Haustür verabschiedeten, «dieser Bursche wird nicht in dem Zustand sein, Sie weiter zu belästigen. Wenn Sie mich aus irgendeinem Grund brauchen oder wenn etwas vorfällt, was ich Ihrer Meinung nach wissen sollte, dann haben Sie ja meine Nummer. In den nächsten Tagen werden einige Protokolle zu unterzeichnen sein, aber das ist auch alles. Niemand wird die Bundespolizei damit behelligen.»
Dann zu Sheila: «Mrs. Damon», sagte er, «sorgen Sie gut für Ihren Mann. Er ist ein recht beherzter Mann, und er hat einen schlimmen Tag hinter sich.» Er tippte an seinen lächerlichen Hut, stieg wieder ins Taxi und fuhr davon.
Doris Gabrielsen war eine kleine, eher rundliche Frau mit blondem Haar; sie sprach in einer Art Singsang, der alle ihre Sätze gegen Ende stimmlich in die Höhe trieb. Das war eine Angewohnheit, die Damon sonst immer gestört hatte, aber jetzt rührte ihn die offene Anteilnahme an seinem Geschick und die Wärme ihres Willkommens. Im Gastzimmer standen Blumen für sie, und alle Zeitungen waren ihren Blicken taktvoll entzogen. Sie hatte kalten Aufschnitt, Käse und Kartoffelsalat auf einem Büfett angerichtet und kredenzte Damon einen Scotch mit nicht sehr viel Soda, bevor sie sich zum Essen setzten. Sie reichte auch den anderen Drinks, schenkte sich selber ein und hob, bevor sie tranken, ihr Glas mit den Worten: «Auf bessere Tage. Und auf Mr. Weinsteins Gesundheit.»
«Amen», sagte Oliver.
Der Whisky brannte in Damons Kehle, als er hinabfloß, aber nach ein, zwei Minuten trat die Wirkung ein: ein angenehmes Gefühl der Entrücktheit, Traumhaftigkeit, ein Gefühl, das tröstlich war und beruhigend, die Empfindung, daß er nicht mehr für sich verantwortlich sei, daß er sich in anderen, sicheren Händen befand und von der Notwendigkeit erlöst war, eigene Entscheidungen zu treffen.
Er war nicht hungrig, aß aber pflichtschuldigst wie ein gehorsames Kind und trank durstig das kalte Bier, das Doris ihm einschenkte.
Nach der Mahlzeit sagte Damon: «Ich hoffe, ihr entschuldigt mich. Ich bin völlig erschöpft. Ich muß mich ein bißchen hinlegen.»
«Gewiß», sagte Doris.
Sheila folgte ihm ins Fremdenzimmer und kniete nieder, um ihm, der auf der Bettkante saß, die Schuhe auszuziehen. Seit sie ihn im Krankenhaus umarmt hatte, hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt, als hätte sie Angst, daß ein paar Worte einen Gefühlserguß auslösen könnten, den sie bisher in ihrem Innern verschlossen hatte.
«Ruh dich aus, Liebster», sagte sie, nachdem sie die Decke über ihn gebreitet hatte. «Und grüble nicht. Du hast liebevolle Freunde. Ich gehe jetzt mit Oliver nach Hause und packe einen Koffer mit Sachen, die du brauchst.»
Er streckte die Hand aus, um ihre Hand zu ergreifen, zog sie an seinen Mund und küßte sie. Ihr ganzer Leib schien zu erbeben, als sei sie von einem einzigen grunderschütternden Schluchzen ergriffen, aber es kamen keine Tränen. Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Stirn. «Schlaf gut», sagte sie, machte die Lampe aus und verließ das Zimmer.
Damon schloß die Augen und fiel fast unmittelbar in einen traumlosen Schlaf der Erschöpfung.
Als er aufwachte, wußte er zunächst nicht, wo er war, dann sah er Sheila, von einem Lichtstreifen erhellt, der durch den Spalt der etwas geöffneten Tür fiel, an seinem Bett sitzen und auf ihn niederstarren. In der Wohnung war es vollkommen still. Er fühlte sich krank. Er hatte ein brennendes Gefühl hoch in der Brustmitte und wußte, daß ihm gleich übel würde. Er schob sich mühsam aus dem Bett. «Entschuldige mich», sagte er undeutlich mit schlafschwerer Zunge, «ich muß mich übergeben.»
Sheila half ihm und geleitete ihn zur Gasttoilette, deren Tür offenstand und die von einem mildem Licht erhellt war. Er schob Sheila zurück, stolperte in die Toilette und schloß die Tür hinter sich. Er erbrach das gesamte Abendbrot, dazu den größten Teil der Sandwiches und den Kaffee, den er im Lauf des Tages zu sich genommen hatte. Er spülte sich den Mund, bürstete sich die Zähne mit Zahnbürste und Zahnpasta, die Sheila auf dem Regal über dem Waschbecken für ihn hingelegt hatte; darauf wusch er sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, fühlte er sich besser.
«Kartoffelsalat bekommt mir anscheinend nicht», sagte er zu Sheila.
Sie lachte trocken. «Mörder vielleicht auch nicht?» sagte sie.
Unwillkürlich hätte auch er beinahe gelacht. «Wieviel Uhr ist es?» fragte er.
«Halb drei.»
«Zeit, sich auszuziehen. Auch für dich.» Als er sich seiner Kleider entledigt hatte, stieg ihm der Geruch von schalem Schweiß, Angst und der festhaftende medizinische Dunst des Krankenhauses in die Nase. Alles, was er angehabt hatte, warf er auf einen Haufen unter das offene Fenster und legte sich nackt ins Bett. Er bemerkte, daß Doris die zwei Betten im Gastzimmer rücksichtsvoll dichter zu-sammengerückt hatte, weil sie oft bei den Damons zu Gast gewesen war und bemerkt hatte, daß sie zusammen schliefen. Plötzlich fühlte er unglaublicherweise ein übermächtiges Liebesbegehren; und als Sheila im Nachtgewand aus dem Badezimmer kam, sagte er: «Zieh das Zeug aus. Und komm ganz dicht an mich ran.»
Sie machten keinen Gebrauch von dem zweiten Bett und wachten erst spät am Morgen auf.
Eine Woche lang verließ er die Wohnung der Gabrielsens überhaupt nicht. Er fühlte, daß er sich keinem Reporter stellen, keinen Telefonanruf beantworten, keinen Vertrag lesen oder selbst entscheiden könne, was er in einem Restaurant essen wollte. Sheila, die ihre Arbeit wiederaufnehmen mußte, fand Zeit, Weinstein täglich im Krankenhaus zu besuchen, und kam jeden Abend mit beruhigenden Nachrichten über seine fortschreitende Genesung zurück. Oliver erledigte die Arbeit im Büro, aber er erzählte Damon nur, daß alle, mit denen sie irgendwann einmal zu tun gehabt hatten, täglich anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen und ihm beste Wünsche zu übermitteln, verlor aber kein Wort über den Geschäftsgang. Er log auch treulich, wenn man ihn fragte, wo Damon sich befinde, und erzählte allen und jedem, daß er es nicht wisse. «Es ist erstaunlich», sagte er, «wie leicht man jemanden in
New York aus den Augen verlieren kann.» Damon schien er in diesen letzten paar Tagen sichtlich gealtert, und er meinte, in Olivers hellblondem Haar ein wenig Grau entdecken zu können.
Niemand brachte eine Zeitung in die Wohnung, wofür Damon dankbar war. Er hoffte, daß sich seine Stimmung mit der Zeit ändern würde, aber gegenwärtig wollte er gar nicht wissen, wie die Welt zurechtkam, was der Präsident in der jüngsten Rede gesagt hatte, in welchem Land eine neue Revolution ausgebrochen war, welches neue Verbrechen dem CIA in die Schuhe geschoben wurde, wessen Stück am Broadway Premiere gehabt hatte, wie die Zinsen stiegen oder wer gestern morgen gestorben war.
Glücklicherweise hatte die Baseballsaison begonnen, und er sah sich stundenlang, in einer Art Tribünenrausch, Spiele an, ohne für eine bestimmte Mannschaft Partei zu ergreifen; zufrieden, einen überwältigenden Beweis von schneller, jugendlicher Geschicklichkeit und amerikanischer Vitalität auf dem kleinen Bildschirm zu erblicken. Wenn die Nachrichten kamen, stellte er das Gerät ab.
Die anderen taten ebenfalls so, als hätten sie kein Interesse an den Geschehnissen der Welt, und stellten das Gerät nie aufs Geratewohl an. Er nahm ihre Rücksicht stumpf als gegeben hin, wie ein krankes Kind. Wenn er keinem Baseballspiel zusah, hielt er stundenlang ein aufgeschlagenes Buch vor sich in den Händen, ohne jemals eine Seite umzublättern. Doris, die anfangs versucht hatte, lebhaft und lustig und gesprächig zu sein, fügte sich bald der Erkenntnis, daß Damon nichts wünschte, als sich selbst überlassen zu bleiben, und schlich leise und unauffällig im eigenen Haus umher. Tagsüber, wenn die anderen fort waren, brachte sie ihm seine Mahlzeiten auf einem Tablett, so daß er allein für sich essen konnte. Sie hatte auch schnell begriffen, daß es zwecklos war, ihn nach seinen Wünschen für die Mittags- oder Abendmahlzeit zu fragen, und stellte die Mahlzeiten nach eigenem Gutdünken zusammen; auf das Tablett stellte sie dann - abgesehen vom Essen - eine
einzelne Rose in einer kleinen Vase und eine halbe Flasche Wein. In den ersten zwei oder drei Tagen trank er von dem Wein; da er aber davon Sodbrennen bekam, ließ er die Flasche später stehen.
Er äußerte sich weder bei Doris noch bei Sheila darüber, daß er seinen Zustand jetzt für ein psychisches Leiden hielt; und obwohl Oliver die kleine Bar im Wohnzimmer mit Damons bevorzugtem Whisky aufgestockt hatte, rührte dieser die aufgereihten Flaschen nicht an. Sheila gab keinen Kommentar zu dieser plötzlichen Abstinenz.
Wenn er nachts oder während seines langen täglichen Nachmittagsschlafes träumte, erinnerte er sich beim Aufwachen nicht mehr an den Traum. Er schlief jede Nacht in dem kleinen Bett mit Sheila im Arm, wie ein Tier, das zur Winterszeit im Körper eines Artverwandten Wärme sucht. Sheila berichtete ihm, nach der ersten Woche sehe es so aus, als könne Weinstein in etwa zwei Monaten - allerdings an Krücken und mit Gipsverband - das Krankenhaus verlassen. Im Lauf der langen Gespräche, die sie täglich mit Weinstein führte, habe sie sich sehr mit ihm angefreundet und könne den Gedanken nicht ertragen, daß er nach Hause zurückkehre und wieder allein lebe, und daß niemand ihn in dem großen leeren Haus versorge. Sie hätte ihm gesagt, wenn er imstande sei, das Krankenhaus zu verlassen, würde sie ihn und Damon zu ihrem Haus in Old Lyme fahren, wo er völlig genesen könne und Damon sich nicht den Fragen und Beileidskundgebungen seiner Freunde und den Anforderungen seines Berufes auszusetzen brauche. Zuerst, erzählte sie Damon, habe Weinstein gesagt, das käme gar nicht in Frage, er habe sich jahrelang selbst versorgt und wolle ihnen nicht zur Last fallen, bloß weil er seine Pflicht vernachlässigt und Damon so schlecht beschützt hätte. Aber Sheila hatte ihm gesagt, seine Pflicht sei noch nicht beendet - Weinstein könne ja seinen Revolver mitnehmen, für den Fall, daß Zalovsky Freunde hatte, die ihn unbedingt rächen wollten, oder auch, falls Zalovsky selber auftauchen sollte - trotz Schulters zuversichtlicher Prophezeiung, daß Zalovsky, tot oder lebendig, nicht mehr imstande sein würde, weiteren Schaden anzurichten.
Sheila fragte Damon nicht, ob er ihren Plan für gut oder schlecht hielt, und Damon stellte weder Fragen noch machte er Vorschläge. Er fragte auch nicht nach dem Zustand von Sheilas Mutter. Er war in der Selbstsucht des Kranken gefangen wie in einem Gehäuse; und obwohl er wußte, daß er sein Leben schließlich selbst wieder in die Hand nehmen mußte, war die Zeit dafür noch nicht gekommen.
Zartfühlend machte Sheila keinen Versuch, ihn aus der hermetischen Lethargie zu reißen oder ihn aufzuheitern. Seine Nerven - das war seine Erkenntnis, und er nahm an, daß es auch die ihre war - waren noch zu sehr aufgerauht; und er konnte an den stillen Tagen und in den dunklen Nächten seinen Gespenstern ebensowenig entrinnen wie den zahlreichen Toten und Verwundeten. Obgleich er sich Mühe gab, möglichst gelassen und umgänglich zu erscheinen, wußte nur er allein um die Anstrengung, die ihn dies kostete und daß ein einziges falsches Wort ihn in Tränen oder Wut ausbrechen lassen würde. Sheila durfte nicht wissen, wie sehr er von dem Gefühl gepeinigt wurde, daß noch nichts entschieden sei; von seiner Vorahnung des Bösen, einer Ahnung, daß alles, was bisher geschehen war, nur als Vorspiel diene, als rätselhafte, zynische Andeutung von künftigem Unheil und Verhängnis.
Ebensowenig erzählte er Sheila, daß er sich jetzt immer häufiger nach den kargen Mahlzeiten, die er herunterwürgte, erbrechen mußte. Ganz gewiß hatte Doris, die sich behutsam von ihm fernhielt, keine Ahnung davon, daß ihr Hausgast an mehr litt als an den Nachwirkungen des erlittenen Schocks.
Eins nach dem anderen, dachte Damon dumpf. Wenn ich die Energie aufbringe, diese Wohnung zu verlassen, dann suche ich insgeheim einen Arzt auf, erzähle ihm, daß mein Blut und meine Knochen zuschanden werden
und daß ich nun endlich der ärztlichen Diagnose bedarf.
Das kam schneller, als er erwartet hatte, und nichts war mehr länger zu verheimlichen.
Am Morgen des achten Tages nach dem Schußwechsel wachte er früh in einem Anfall lähmender Magenschmerzen auf. Mühsam, mit dem Versuch, Sheila nicht aufzuwecken, kroch er aus dem Bett; tief gekrümmt, sich mit den Fingerknöcheln auf den Boden stützend, um nicht zu stürzen, schleppte er sich zur Toilette. Unwillkürlich entrang sich ihm ein Stöhnen. Er wankte in die Toilette, hatte aber weder den Willen noch die Kraft, die Tür hinter sich zu schließen. Er blickte nicht auf, als er Sheilas Hand auf seiner Stirn fühlte, von ihr gestützt wurde und sie sagen hörte: «Keine Sorge, Liebster, ich bin bei dir.»
Bald darauf war auch Oliver im Badezimmer. Damon schämte sich seiner Nacktheit, konnte aber nicht aufblik-ken, um festzustellen, ob Sheila einen Schlafrock trug. Olivers Stimme klang weit entfernt wie das Echo in einem leeren Gang, als er fragte: «Welche Telefonnummer hat dein Arzt?»
Auch Sheilas Stimme war kaum kenntlich, als sie antwortete: «Er hat gar keinen.» Damon registrierte eine zwanzig Jahre alte Beschwerde in ihrer Stimme. «Und mein Arzt ist Gynäkologe.»
Irgendwie kam das Damon komisch vor, und wie er da über die Toilette gebeugt stand, hörte er sich lachen.
«Dann rufe ich unseren Arzt an», sagte Oliver. «Hoffentlich ist er nicht verreist.»
«Nicht nötig.» Damon spürte plötzlich, wie der Schmerz verging und seine Kehle nicht mehr von Krämpfen gepackt war. «Alles in Ordnung.» Er richtete sich auf und zog sich würdevoll seinen Schlafrock an, der an der Toilettentür hing. «Ich habe mir ein bißchen den Magen verdorben, weiter nichts.» Er warf einen Blick auf Sheila, war dankbar, daß sie Zeit gefunden hatte, ihren Schlafrock anzuziehen, blickte aber gleich wieder weg, weil der Ausdruck ihrer Augen und ihres Mundes ihn ängstigte. «Ich will mich wieder hinlegen und noch ein bißchen schlafen.»
«Sei nicht so verflucht spartanisch», sagte Sheila, als sie seinen Arm ergriff und ihn zurück zum Bett brachte. Als er wieder lag, fühlte er, wie sich seine Muskeln entkrampften, sein Magen sich beruhigte und der Stachel des Schmerzes verging. Er lächelte Oliver und Sheila, die auf ihn herabblickten, ermutigend an. «Mir geht's wieder prima», sagte er. «Ehrlich gesagt, habe ich einen furchtbaren Hunger. Könnte ich vielleicht etwas Orangensaft und Toast und Kaffee kriegen?»
Der Arzt war ein großer, gutaussehender alter Mann namens Brecher. Er hatte graues Haar und eine energischsachliche Manier, die Vertrauen einflößte. «Nun, ein bißchen Ruhe», sagte er, «und ein paar Tage milde Kost, etwas Maalox vor den Mahlzeiten und keine Grübeleien» - dazu machte er eine strenge Miene, als ob das Grübeln eine der schlimmsten Krankheiten sei, denen er in den vielen Jahren seiner Praxis in New York begegnet war - «dann sind Sie wieder so gut wie neu.»
Damon war froh, daß Oliver so gescheit war, einen vernünftigen praktischen Arzt der alten Schule zu haben, statt eines neumodischen Technikers, der seine Patienten eilends ins Krankenhaus beförderte und sie der kompletten Skala medizinischer Torturen aussetzte, einschließlich des Besuchs von Spezialisten, von denen jeder entdeckte, daß der arme Leidende genau von jener Seuche befallen war, die er seit seinem Abgang von der Universität stets so fachmännisch diagnostiziert hatte. Damon dankte dem Arzt überschwenglich und versicherte ihm, daß er sich im Augenblick besser fühle als in den ganzen letzten Monaten, während Sheilas Ausdruck immer grimmiger wurde und der Unglaube in ihren Augen sichtbar war wie eine im Wind wehende Fahne. Erleichtert durch die Versicherung des Arztes, daß seine Krankheit nicht bedeutend sei, und
durch die maßvolle Behandlung, die er verschrieben hatte, löste sich die Wolke, die über Damons Seele geschwebt hatte wie der Morgennebel im Sonnenschein, und er fand es sogar an der Zeit, der (wie er jetzt beschämt annehmen mußte) hypochondrischen Schwäche ein Ende zu machen. Er brannte darauf, auf den Beinen und unter Menschen zu sein und sich zu vergewissern, daß sein Geschäft unter Olivers unsicherer, wenn auch hingebungsvoller Leitung nicht in Schutt und Asche versank.
Als der Arzt gegangen war, kam Sheila, die ihn zur Tür begleitet hatte, mit noch finsterer Miene zurück.
«Du benimmst dich wie ein Kind», sagte sie zu Damon, «wie ein kleiner Junge auf dem Spielplatz, dem man auf die Nase geschlagen hat, so daß sie fürchterlich blutet, und der behauptet, es tue gar nicht weh. Was weißt du schon von dir - du schaust ja nicht mal in den Spiegel, außer wenn du dich rasierst. Vielleicht kannst du einem Arzt etwas vormachen, aber deine Frau kannst du nicht für dumm verkaufen. Es tut weh, und je eher du's zugibst, desto besser. Du bist krank, und alle Spiegelfechterei der Welt kann mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Wir sprechen darüber, wenn ich heute abend von der Arbeit komme.»
Mit tiefdunklen, gewittrigen Augen verließ sie das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Bewundernswerte Frau, dachte er, als er sich gegen die Kissen zurücklegte. Recht oder unrecht, sie äußert ihre Meinung ohne Rückhalt.
Aber als Sheila am Nachmittag von ihrer Arbeit zurückkehrte, sprachen sie nicht über seine Symptome. Ihre Augen waren rot und geschwollen, als hätte sie stundenlang geweint. Gregor Khodar hatte in der Schule angerufen, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie in ihrer Wohnung zu erreichen. Ebba Khodar war an diesem Morgen durch eine in einem geparkten Auto versteckte Bombe getötet worden, als sie in Rom auf der Straße an einer Bank vorüberging. Nichts war mehr von ihr vorhanden, das noch kenntlich gewesen wäre und das eine Beerdigung gelohnt hätte, hatte Gregor Sheila erzählt.
In dieser Nacht mußte Damon im Bett, wo er die nach einer Dosis Schlaftabletten in gnädigem Tiefschlaf liegende Sheila umschlungen hielt, an Lieutenant Schulter und seine durchschnittlichen Verluste denken. Der Lieutenant hatte nicht daran gedacht, die Stadt Rom in seine Statistik einzubeziehen.
Während Sheila in dem verdunkelten Zimmer in seinen Armen schlief, ließ Damon endlich seinen Tränen freien Lauf. Welche Warnungen, fragte sich Damon in seiner Qual - Qual um seinen Freund und um sich selbst -, hatte diese liebe und einfache Frau unbeachtet gelassen?