TREIBGUT
Montag, 1. Januar
»Ty, verdammt! Beweg deinen Hintern hierher!« Betsy Champlain, im achten Monat schwanger, stand am Straßenrand und rief gegen den Wind nach ihrem Sohn, damit er gefälligst von der Wasserkante wegging. Es regnete, die Wolken hingen tief und die Dunkelheit rollte rasch heran, als der Nebel vom Meer ins Landesinnere trieb. Sie konnte ihn kaum noch sehen. Er jagte dem kleinen Malteser nach, hinein ins Zwielicht des dunklen Kiesstrands. Panik flackerte in ihrem Bauch auf.
Sie drehte den Kopf. Hinter ihr entlang des von Menschenhand erschaffenen Damms, der ins Wasser hinausragte, standen die Autos Stoßstange an Stoßstange vor der Anlegestelle der Fähre. Mindestens vier Fähren waren sie schon im Rückstand, wenn nicht mehr. Die meisten der früheren Fahrten zwischen dem Festland und der Insel waren im Laufe des Tages gecancelt worden, wegen des Sturms, der auf dem Jet Stream herangerauscht war, im Kielwasser des Taifuns Shiori, der den Pacific Northwest in eine wahre Wetterwaschküche verwandelt hatte. Außerdem war es der Neujahrstag – ein Feiertag in diesem Teil der Welt. Morgen war also der erste Arbeitstag des neuen Jahres, weshalb alle noch nach Hause zurückkommen wollten. Sie würde es an diesem Abend niemals vom Festland Vancouvers zurück auf die Insel schaffen. Es setzte ihr zu. Sie hätte nicht allein mit beiden Kindern und dem Hund zu ihrer Mutter fahren sollen. Der Fährverkehr war über die Feiertage immer das totale Chaos.
Seit Stunden saßen sie schon im Auto fest, und ihr kleiner Hund Chloe hatte dringend eine Pinkelpause gebraucht, Betsy hatte den Subaru mit heruntergelassenem Fenster in der Schlange stehen lassen, während ihre dreijährige Tochter Emily darin schlief. Dann hatte sie die Straße überquert, um ihren achtjährigen Sohn sehen zu können, der die Hündin ans felsige Ufer hinuntergeführt hatte. Ty hatte vor lauter aufgestauter Energie nicht auf seine Füße geachtet, war zu schnell die Felsen hinabgesprungen, ausgerutscht und hatte die Leine losgelassen. Chloe war geradewegs zum Wasser gesaust. Und Ty jagte seiner Hündin nach.
»Ty! Komm zurück! Sofort! « Betsy war hin- und hergerissen. Sie sah zurück zum Subaru, dann wieder zu Tys kleiner geisterhafter Gestalt, die allmählich im Nebel verschwand. Sie drehte sich um und watschelte so schnell sie konnte zurück zum Auto.
»Emily«, rief sie und rüttelte ihr kleines Mädchen wach. »Aufwachen. Du musst mitkommen.«
Betsy nahm ihr noch halb schlafendes Kind an die Hand und zog sie rennend über die Straße. Vorsichtig stiegen sie über die nassen Felsen zum Strand hinunter. Emily fiel hin und begann zu weinen. Sobald sie am Strand waren, hob Betsy sie auf ihre Hüfte und stolperte den steinigen Uferstreifen entlang auf die Stelle zu, wo Ty verschwunden war. Sie atmete schwer. Sie musste auch pinkeln – ihre Blase fühlte sich an, als würde sie gleich platzen.
»Ty!« Sie konnte ihn nirgends sehen. »Tyson Champlain, du kommst sofort hierher, oder …«
»Aber Ma …« Er tauchte hinter einer Felsnase auf, einen Stock aus Treibholz in der Hand. Die Erleichterung durchfuhr sie scharf wie ein Messerschnitt. »Chloe hat was gefunden, ich schau’s mir nur mal an.« Damit verschwand er wieder.
Entnervt stieß Betsy die Luft aus, rückte Emily auf ihrer Hüfte zurecht und suchte sich vorsichtig einen Weg über die mit Seepocken überwachsenen Felsen. Sie ging um die der See zugewandten Seite des Felsens herum. Es herrschte Ebbe, das Wasser hatte sich weit zurückgezogen und entblößte eine ausgedehnte Schlammfläche, mit Schleim und braunem Schaum gefleckt. Neben den filigranen Schaumgebilden lagen Seetangknäuel, so dick wie ihr Arm, und anderes Treibgut, das der Sturm angeschwemmt hatte. Ein salziger Geruch nach Fäulnis und totem Fisch stieg ihr in die Nase.
Ty hockte im Sand und stieß etwas mit seinem Stock an. Chloe knurrte und versuchte, das Ding von ihm wegzuzerren. Ungewöhnlich für die Hündin.
Betsy runzelte die Stirn. Ein ungutes Gefühl sickerte ihr in die Knochen.
»Was ist das, Ty?«
»Ein Schuh.«
Betsy setzte Emily ab, nahm sie an die Hand und trat näher, um sich das Ding anzusehen. Hier unten war der Nebel noch dichter. Emily hatte zu weinen aufgehört und betrachtete interessiert das Geschehen.
»Da ist was drin«, sagte Ty und versuchte, gleichzeitig Chloe beiseitezuschieben und den Inhalt des Schuhs mit dem Stock zu untersuchen.
Das erinnerte Betsy an etwas, und ihr wurde eiskalt. Eine Nachrichtensendung über abgetrennte Füße in Sneakers, die überall an der Küste British Columbias und Washingtons angeschwemmt worden waren. Seit dem Jahr 2007 waren es schon sechzehn. Der Rest der Körper fehlte.
»Lass es!« Sie packte ihren Sohn an der Jacke und riss ihn zurück. »Nimm Chloe an die Leine – jetzt! Zieh sie von dem Schuh weg.«
Bei der Schärfe in ihrem Ton machte Ty ganz runde Augen. Dieses eine Mal gehorchte er sofort und ohne Widerworte. Er schnappte sich die Hundeleine.
Gemeinsam starrten sie den Schuh an. Er war hellviolett unter dem Schlamm und dem Seetang, der ihn umwickelt hatte. Klein. Kurz. Ein knöchelhoher Sneaker mit einer dicken Luftpolstersohle.
Betsy drehte sich zu der Fahrzeugschlange um, die sie nun durch einen Regenvorhang nur noch verschwommen sehen konnte. Was sollte sie tun? Zurückrennen und gegen Autofenster klopfen, damit ihr irgendjemand half? Wobei denn? Die Polizei. Sie musste es der Polizei sagen.
»Halt deine Schwester fest, Ty«, sagte sie und tastete in ihrer Jackentasche nach dem Handy. »Und mit der anderen Hand hältst du dich an meiner Jacke fest. Lasst nicht los, ihr beide nicht.«
Er ließ nicht los.
Betsy hatte noch nie den Notruf gewählt. Zum Glück war es nie nötig gewesen. Aber … war das hier wirklich ein Notfall? Oder würde man sie für albern halten? Ihr Blick huschte zurück zu dem Schuh, der da im Schlick lag. Es war eindeutig etwas darin – wie bei den Bildern, die sie in den Nachrichten gesehen hatte.
Sie wusste auch von den Streichen. Man hatte einen Laufschuh mit einer teilweise skelettierten Tierpfote darin gefunden. Andere Schuhe waren mit rohem Fleisch ausgestopft worden. Aber die Polizei würde trotzdem davon erfahren wollen, auch wenn es ein Streich war. Oder?
»Mom?«
»Sei still.«
Mit zitternden Fingern wählte sie 9-1-1.
»Notrufzentrale, um welchen Notfall geht es?«
»Ich … ähm, ich …« Auf einmal blieb ihr die Stimme in einem Schleimklumpen in der Kehle stecken. Sie räusperte sich. »Ich habe einen Schuh gefunden. Ich glaube, da ist ein Fuß drin. Ich glaube, er ist vom Sturm angetrieben worden.«
»Von wo rufen Sie an, Ma’am? Wo sind Sie?«
»Am Strand neben der Dammstraße beim Tsawwassen Fährterminal. Etwa … auf halber Höhe, würde ich sagen.«
»Von welcher Nummer aus rufen Sie an?«
»Von meinem Handy.« Sie gab ihre Nummer durch.
»Und wie heißen Sie, Ma’am?«
»Betsy. Betsy Champlain.« Auf einmal war der Druck auf ihre Blase unaushaltbar. Sie brauchte unbedingt eine Toilette. Aus irgendeinem Grund musste sie plötzlich mit den Tränen kämpfen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Nase, schniefte.
»Sind Sie in Sicherheit? Ist sonst alles in Ordnung?«
»Ja. Ja, ich bin hier draußen mit meinen Kindern und meinem Hund. Im Regen. Mein Hund hat den Schuh gefunden, und es sieht aus, als wäre da eine alte Socke drin und noch etwas. Ich weiß, dass es solche Streiche gibt, aber …«
Oben auf der Dammstraße erwachten Automotoren zum Leben und Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Die Reihe der Autos rührte sich. Irgendjemand hupte hinter ihrem abgestellten Subaru.
»Oje, ich muss zurück zu meinem Auto – die Schlange vor der Fähre fährt weiter.«
»Ms Champlain, Betsy, können Sie bitte bei dem Schuh bleiben? Ich habe die RCMP schon verständigt. Ein Streifenwagen befindet sich ganz in Ihrer Nähe. Die Polizisten werden gleich bei Ihnen sein.«
»Mein Auto steht in der Schlange. Sie hupen …«
»Wir setzen uns mit den Fährbetreibern in Verbindung und sorgen dafür, dass der Verkehr um Ihr Auto herumgeleitet wird. Betsy?«
»Ich bin noch dran. Ich warte.« Sie hielt inne. »Ich … weiß von den abgetrennten Füßen«, sagte sie leise, und wieder huschte ihr Blick zu dem kleinen lila Turnschuh. »Aber dieser hier … das ist kein Erwachsenenschuh.« Sie zog ihre Kinder enger an sich. »Es ist ein Kinderschuh. Größe fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig.«
»Steht die Größe darauf?«
»Nein. Aber er ist ungefähr so groß wie die Schuhe meiner Tochter.«
Betsy legte auf. Sie zitterte. Der Regen lief ihr weich über die Wangen. Sie setzte sich auf den Felsen und drückte ihre Kinder eng an sich. Zu eng. So eng, weil sie auf einmal wusste, dass sie das Kostbarste in ihrem Leben hier in den Armen hielt. Sie starrte den Kinderschuh im Schlamm an. »Ich … ich liebe euch, meine Kleinen.«
»Es tut mir leid, Mom.« Tränen glänzten in Tys großen braunen Augen. »Es … es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe.«
Sie wischte sich schniefend über die Nase. »Es ist nicht deine Schuld, Ty. Es ist nicht deine Schuld. Ist schon okay.«
»Wem gehört der Schuh?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wo ist denn der Rest von ihr?«
Betsy blickte hinaus auf die Bucht, hinter der durch den Nebel kaum wahrnehmbar das Festland zu sehen war. Point Roberts in den Vereinigten Staaten. Hinter ihr kroch der Verkehr über die Dammstraße, die sich über einen Kilometer weit ins Meer erstreckte, bis zu den Anlegestellen der Fähren, nur knapp fünfhundert Meter vor der US-amerikanischen Grenze. Jedes Mal, wenn die Fähren vom Festland nach Vancouver Island übersetzten, durchquerten sie US-amerikanisches Gewässer.
Dieser kleine Schuh könnte von überallher kommen. Vielleicht ist er von einem Boot gefallen? Oder beim Sturm vom Land ins Meer hinausgerissen worden?
»Ich weiß es nicht«, sagte sie noch einmal. »Sie finden sie schon.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht, Ty.«