KAPITEL 3
Angie sah Jenny Marsden nach, während diese die dunkle Straße entlangging und schließlich im Nebel verschwand. Die alte Krankenschwester hatte recht – ein Geheimnis konnte einen in Besitz nehmen. Ein Geheimnis war mächtig. Aber nur, wenn seine Enthüllung die eigenen sozialen Beziehungen gefährdete. Und Angie fühlte sich gefährdet. Dieses Geheimnis aus ihrer Vergangenheit stellte sie als Opfer dar. Es gab ihr das Gefühl, verletzlich zu sein. Und die altgedienten Haudegen, mit denen sie bei den Sexualverbrechen und bei der Mordkommission – wohin sie wirklich wollte –zusammenarbeitete, witterten warmes Blut, frische Wunden. Wie ein Rudel Wölfe zielten sie darauf ab, sich gegen ein vermeintlich schwaches Glied in ihrer Gruppe zu wenden. Und es zu töten. Vielleicht irgendeine Art primitiver Urinstinkt, denn ein Rudel war nur so stark – und so schnell – wie sein schwächstes Mitglied. Und für Cops war es überlebenswichtig, dass sie sich auf ihr Rudel verlassen konnten.
Angies Methode, sich als einzige Frau der Gruppe durchzusetzen, war einfach – wenn sie jemand rumschubste oder verarschte, schlug sie ihm hart und direkt auf die Nase, bevor ihr Gegner die Zähne in ihre Schwachstellen versenken konnte. Es funktionierte. Besonders bei frauenfeindlichen Arschlöchern wie Harvey Leo. Und genau deshalb wollte sie nicht , dass diese Sache bekannt wurde. Noch nicht. Besonders nicht, solange die interne Untersuchung gegen sie lief. Außerdem hatte sie wirklich keine Lust, zum Paradebeispiel für Polizeigewalt zu werden. Das MVPD würde sie sang- und klanglos fallen lassen, wenn das geschah, da war sie sicher. Das Department hatte so schon Schwierigkeiten, seinen Ruf wieder aufzupolieren, nachdem während der Spencer-Addams-Ermittlung immer wieder Informationen an die Presse durchgesickert waren.
Als Jenny verschwunden war, ging Angie langsam die Backsteingasse zurück. Wieder blieb sie vor dem schwach erleuchteten Hintereingang stehen. Sie schloss die Augen, fühlte die Kälte, roch den Regen, lauschte auf die Geräusche der Stadt. Sie versuchte, sich zweiunddreißig Jahre in die Vergangenheit zu versetzen, sie versuchte, sich an den Augenblick zu erinnern, bevor man sie in die Babyklappe geschoben hatte.
Nebel und Feuchtigkeit hüllten sie ein. Sie konnte die nassen Backsteine riechen und diesen seltsam metallischen Geruch, den sie mit nahendem Schnee in Verbindung brachte.
Aber keine Erinnerungen regten sich – gar nichts.
Sie ging weiter zur Kathedrale, erklomm die Stufen und zog die schwere Holztür auf. Der Raum dahinter war gewaltig und wirkte feierlich. Kerzen flackerten – kleine Goldzungen aus Licht, die an den Buntglasfenstern und den Schatten leckten. Hinter dem Altar hing eine Jesusstatue, den Kopf unter der brutalen Dornenkrone gesenkt, Hände und Füße ans Kreuz genagelt. Angie versuchte noch einmal, es zu hören – die dünnen, süßen, engelsgleichen Töne des Ave-Maria, des Liedes, das ihre Adoptivmutter an jenem schicksalhaften Heiligabend vor über dreißig Jahren in dieser Kathedrale gesungen hatte. Dasselbe Lied, das ihre Mutter gesungen hatte, als sie gedankenverloren in ihrem Schaukelstuhl in der Mount Saint Agnes Mental Health Treatment Facility auf der Insel vor und zurück gewippt war. Vor zwei Wochen. Als Angie diese Melodie an jenem Tag wieder gehört hatte, da waren dunkle Bilder aus der Vergangenheit aufgestiegen, die bisher in einer Kammer tief in Angies Seele verborgen gewesen waren. Sie vergegenwärtigte sich diese Klänge …
Ave Maria
Gratia plena, Dominus tecum …
Doch dieses Mal erwachten keine Bilder zum Leben. Stattdessen hallten jene seltsamen polnischen Wörter, an die sie sich ebenfalls erst seit Kurzem erinnerte, in ihrem Kopf wider.
Uciekaj, uciekaj! … Wskakuj do srodka, szybko! … Siedz cicho!
Lauf, lauf! Da rein! Bleib still!
Es war eine Frauenstimme. Hatte die Frau sie angeschrien, damit sie in die Babyklappe kletterte? Damit sie den Mund hielt, sobald sie darin war? Angie dachte an das Geständnis ihres Vaters.
Auf den Fotos in den Medien sahst du genauso aus wie unsere vier Jahre alte Angie, als sie uns genommen wurde. Das rote Haar. Das Alter stimmte. Es war unheimlich, dass sie – ich meine, dass du direkt vor der Kirche gefunden wurdest, in der deine Mutter gesungen hat, wo sie durch ihre Gebete wieder eine Verbindung zu dir aufnehmen konnte … Sie hatte das Gefühl, dass du es warst, Angie. Zurückgekehrt, am Heiligabend, wie ein Kind in der Krippe. Für deine Mutter war es ein Zeichen. Ein sehr mächtiges Zeichen. Sie glaubte, die Engel hätten dich zurückgeschickt und dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssten, um dich zu adoptieren und wieder zu uns nach Hause zu holen.
Sie schüttelte sich bei dieser Erinnerung. Ihre Adoptiveltern hatten sie einfach in die Lücke eingesetzt, die ihre tote Tochter hinterlassen hatte – sie hatten die alte Angie durch die neue aus der Babyklappe ersetzt. Sie hatten ihr sogar denselben Namen gegeben und sie in dem Glauben gelassen, dass sie die alte Angie sei und dass die Wunde an ihrem Mund von dem Autounfall in Italien herrührte, bei dem die alte Angie gestorben war. Da konnte man schon mal eine Identitätskrise bekommen.
Sie verließ die Kirche und ging die Gasse entlang zurück zur Front Street, angelockt vom warmen Licht der Schaufenster. Sie fühlte sich beraubt, leer und kalt, als sie dem Echo ihrer Stiefelabsätze auf dem Pflaster lauschte. Damit einher ging ein Gefühl von Resignation, von einer schweren Besiegtheit. Vielleicht würde sie die Wahrheit nie erfahren. Da die VPD-Akten und die Beweise vernichtet worden und die damaligen Ermittler verstorben waren, blieben ihr für ihre Nachforschungen nicht mehr viele Möglichkeiten.
Vor dem Eingang zur Notaufnahme blieb sie stehen, und ihr Blick kehrte wieder zu dem Starbucks-Schild auf der anderen Straßenseite zurück. Sie betrachtete das Schaufenster und dann die Wohnungen darüber. Schließlich musterte sie die angrenzenden Geschäfte. Dem digitalisierten Artikel, von dem sie Jenny erzählt hatte, waren auch ein paar Fotos beigefügt worden, aufgenommen kurz nach der Schießerei vor der Kirche. Die Polizei hatte den Bereich vor der Kirche abgesperrt und die Zeugen hatten sich neben einer kleinen Menschenmenge auf der anderen Straßenseite versammelt, genau da, wo sich jetzt der Starbucks befand. Nur war es damals kein Coffeeshop gewesen.
Angie trat einen Schritt zurück, unter den Säulenvorbau, raus aus dem Regen. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche – sie hatte sich ein neues gekauft, da sie ihr Diensthandy mitsamt der Marke und der Waffe hatte abgeben müssen. Sie öffnete das Foto, das sie von dem Artikelbild geschossen hatte. Es zeigte ungefähr zwanzig Menschen mit Mützen und Mänteln, dicht zusammengedrängt. Es schneite und grelle Lichter eines Nachrichtenteams waren zu sehen. Gelbes Absperrband, Polizisten in Uniform. Hinter ihnen erkannte Angie ein Restaurant mit einem grellrosa Neonschild, auf dem »The Pink Pearl Chinese Kitchen« stand.
Sie sah auf. Das chinesische Restaurant war dem Starbucks gewichen. Aber wann? Hatte es dazwischen noch ein anderes Geschäft – oder mehrere Geschäfte – an dieser Stelle gegeben? Diese Informationen könnte sie sich auch aus den Unterlagen über die Stadtplanung und die Geschäftslizenzen holen, bei ihrem nächsten Besuch auf dem Festland. Aber fragen kostete ja nichts. Außerdem konnte sie einen Schuss heißes Koffein und Zucker gebrauchen.
Angie schlug die Kapuze hoch, trat wieder in den Regen hinaus und überquerte die Front Street. Sie betrat den Starbucks.
Es war ruhig zu dieser Abendessenszeit. Nur ein Mann saß allein mit seinem Laptop an einem Tisch ganz hinten, und zwei Frauen, die Angie für Angestellte des Krankenhauses hielt, unterhielten sich in einer Sitzecke aus zwei niedrigen Sesseln. Leise Musik spielte – eine gefühlvolle Jazzmelodie. Sie zog die Kapuze vom Kopf und bestellte sich einen Cappuccino und einen Brownie bei der jungen Frau hinter dem Tresen. Die Frau trug einen Nasenring und einen Silberstecker oben am Ohr. An der linken Seite ihres Halses erstreckte sich ein großes Spinnennetztattoo. Es erinnerte Angie an Netzstrümpfe, die einen dicken Oberschenkel umschlossen – wie ein Rocky-Horror-Kostüm. Angie ging zum Ende des Tresens weiter, wo ihr ein Barista ihren Kaffee machte.
»Wissen Sie, wie lange es diesen Starbucks hier schon gibt?«, fragte sie den Barista.
Er sah auf, runzelte die Stirn und verzog nachdenklich den Mund. »So etwa vier Jahre? Oder vielleicht fünf?« Er wandte sich an seine Kollegin. »Weißt du, wann der Laden hier eröffnet wurde, Martine?«
Martine schüttelte mit unverhohlenem Desinteresse den Kopf.
»Vor etwa einem halben Jahr hatten wir einen Wasserrohrbruch«, erklärte der Barista und konzentrierte sich darauf, Milchschaum auf Angies Cappuccino zu löffeln. »Danach wurde die Innenausstattung renoviert. Deshalb sieht alles so neu aus.«
»Irgendeine Ahnung, was vorher hier war?«
Er sah auf. »Ein chinesisches Restaurant. Den Laden hat es jahrzehntelang gegeben.« Er lächelte. »Das weiß ich aber auch nur, weil der alte Chinese, der das Restaurant so ewig geführt hat, in einem der Apartments oben wohnt.«
Angie horchte auf. »Wissen Sie, wie er heißt?«
»Hey, Martine, der alte Restauranttyp – weißt du, wie der heißt?«
»Ken irgendwer«, antwortete sie. »Ken Ling … Lee. Keine Ahnung.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, schnappte sich eine silberne Milchkanne und begann, sie im Spülbecken auszuwaschen.
Der Barista reichte Angie ihren Cappuccino. »Wie gesagt, er wohnt oben. Kommt jeden Nachmittag um zwei her, pünktlich wie die Maurer. Liest seine Zeitung und trinkt eine Green Tea Latte. Er sitzt immer da drüben in der Ecke, wenn der Tisch frei ist.«
»Dann ist er morgen also vermutlich auch hier?«
Der Barista schnaubte. »Nach dem Typ kann man die Uhr stellen.«
Aufgeputscht von dem Adrenalin trug Angie ihren Kaffee und ihren Brownie zu einem Tresen, der die gesamte Fensterseite zur Front Street entlanglief. Sie setzte sich auf einen der Barhocker dort und nippte an ihrem Kaffee, während sie ein weiteres Mal das Foto auf ihrem Handy betrachtete. Wenn der alte Restaurantbesitzer schon im Jahr sechsundachtzig hier gearbeitet hatte oder jemanden kannte, der es getan hatte, dann war er vielleicht ihr erster Zeuge. Ein Ausgangspunkt. Früh am nächsten Morgen hatte sie eine Verabredung mit der Witwe eines der alten Detectives am North Shore. Bis zwei Uhr nachmittags könnte sie wieder in der Stadt sein und sich hier nach dem ehemaligen Restaurantbesitzer umsehen. Falls er nicht kam, würde sie eben mit den Aufzeichnungen der Stadtverwaltung beginnen und dort vielleicht seinen Namen und seine Adresse ausfindig machen. Oder sie würde eben alle Wohnungen über dem Starbucks abklappern.
Mit neuer Energie biss Angie in ihren Brownie und rief Maddocks auf dem Handy an. Während es klingelte, kaute sie und genoss den sofort einsetzenden Zucker-Schokoladen-Rausch. Ihr Anruf landete auf der Mailbox. Angie legte auf und schluckte langsam. Auf einmal war der Bissen staubtrocken in ihrem Mund. Er war mit dem Fall der Barcode-Mädchen beschäftigt. Sie wusste es. Ihr Fall – oder jedenfalls sollte es zumindest zum Teil ihr Fall sein. Maddocks’ und ihre Ermittlungsarbeit war es gewesen, die über den Täuferfall zur Entdeckung und Rettung dieser jungen Frauen mit den Barcode-Tattoos geführt hatte. Ein leicht bitterer Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Sie hatte Maddocks das Leben gerettet, und nun arbeitete er an einem der größten und spannendsten Fälle, die es beim MVPD seit Jahrzehnten gegeben hatte. Und im Hinblick auf die internationalen Verwicklungen würde er sich sicher noch ausweiten. Während sie von der Seitenlinie aus zusah und um ihre Karriere bangte.
Angie nahm einen Schluck Kaffee, während sie ihre Aufmerksamkeit dem gewaltigen Krankenhausbau auf der anderen Straßenseite zuwandte. Durch ihre eigene Reflexion im Fenster betrachtete sie das Gebäude. Vom Regen verschleiert duckte es sich gegen die unheilvoll wirkende Steinkathedrale. Ein Ort, der sie an Dickens denken ließ. Unzählige Galerien und Gänge voller Schmerz und Geheimnisse. Der Ort, an dem sie verlassen worden war. An dem ihr Leben als Angie Pallorino begonnen hatte. An dem ihre Erinnerungen ausgelöscht worden waren. Während sie noch das Gebäude betrachtete, verwandelten sich die Regentropfen in Schneeflocken. Sie schwebten herab wie schwerelose Silberblätter und setzten sich auf Dächer, geparkte Autos und den kalten Bürgersteig.
Ein unwirkliches Gefühl erfasste sie – zwei Identitäten lagen vor ihr. Das Kind davor und die Angie danach. Nun folgte die Angst. Sie fächerte irgendwo tief in ihr auf, in den Kellergewölben ihrer Seele, stieg aus der Vergangenheit empor, bahnte sich ihren Weg hinauf in die Gegenwart wie eine Fremde. Angie schüttelte sie ab. Denn nun gab es nur noch einen Weg – den nach vorn.
Was ironischerweise bedeutete, dass sie zuerst zurückkehren musste.