KAPITEL 4
Mittwoch, 3. Januar
Angie fuhr über die Lions-Gate-Brücke. Ihre Scheibenwischer mühten sich quietschend mit dem weichen Nieselregen ab. Es war 11:30 Uhr und der Verkehr floss störungsfrei dahin. Weit unter der Brücke schimmerte stahlgrau das Wasser des Burrard Inlet. Links von ihr lagen vor den Ufern von Kitsilano und Spanish Banks mehr als zwölf große Tanker im Nebel und warteten darauf, in den Hafen von Vancouver einfahren zu dürfen. Sie würden noch lange warten müssen, denn der Streik der Hafenarbeiter ging nun schon in die zweite Woche. Zu ihrer Rechten lag, an Tagen wie diesem vor allen Blicken verborgen, der weiße Gipfel des Mount Baker in den Vereinigten Staaten. Aber vor ihr, hinter dem gegenüberliegenden Ufer des Burrard, erhoben sich die dicht bewaldeten North Shore Mountains, erhellt von vereinzelten Sonnenstrahlen. Wolken- und Nebelfetzen trieben an ihren grünen Flanken entlang. Oberhalb der Schneegrenze war alles rein und weiß.
Die Witwe des verstorbenen VPD Detective Arnold Voight erwartete Angie am Fuß jener Berge, wo sie nun in einer Einliegerwohnung im Haus ihrer Tochter wohnte. Voight war damals der leitende Ermittler im Krippenfall gewesen.
CBC Radio spielte leise in ihrem gemieteten Nissan Altima, als sie von der Brücke auf den Marine Drive abfuhr. Auch ihren MVPD Crown Vic hatte sie während ihrer Beurlaubung abgeben müssen. Darüber hinaus musste sie an jedem Tag, an dem sie normalerweise hätte arbeiten müssen, im Department anrufen – sie wurde immer noch bezahlt. Sie hatte immer noch einen Dienstplan. Eine Beurlaubung war kein Urlaub, wie ihr Vorgesetzter Sergeant Matthew Vedder klargestellt hatte.
Bei dem Gedanken an die ausstehenden Ergebnisse der Untersuchung wurde ihr ganz anders. Es konnte nicht nur das Ende ihrer Karriere bedeuten, sondern auch einen Eintrag ins Strafregister.
Um sich abzulenken, wählte sie die Telefonfunktion auf ihrem Display und rief noch einmal Maddocks an. Er war bisher der Einzige, dem sie von ihrer Entdeckung, dass sie in einer Babyklappe gefunden worden war, erzählt hatte, und sie wollte ihm berichten, was sie von der Krankenschwester erfahren hatte. Sie hatte am vergangenen Abend versucht, Maddocks aus dem Hotel anzurufen, aber jedes Mal war sie direkt auf der Mailbox gelandet.
Sein Handy klingelte, aber wieder wurde sie zur Mailbox durchgestellt. Angie bog in den Marine Drive ein, während sie Maddocks’ Stimme vom Band lauschte. Sie blieb an einer roten Ampel stehen und hinterließ ihm eine Nachricht.
»Maddocks, hier ist Angie. Ich … Ruf mich zurück, ja? Ich bin auf dem Weg zu Detective Arnold Voights Witwe. Sie lebt am North Shore. Das VPD hat keine Fallakten mehr.« Sie legte auf, ein leeres Gefühl im Bauch. Verdammt, sie vermisste ihn, und das frustrierte sie. Sie wollte niemanden vermissen. Sie wollte niemanden brauchen . Ihr Griff um das Lenkrad wurde fester. Die Ampel sprang auf Grün und sie trat aufs Gas. Später würde sie ihn sowieso sehen – sie hatten fürs Abendessen einen Tisch im King’s Head reserviert, um ihren »Geburtstag« zu feiern, der heute war. Nachdem sie die Babyklappe gesehen hatte, wurde diese Farce nur umso schärfer spürbar, denn niemand wusste, wann sie wirklich geboren worden war und von wem. Die Pallorinos hatten den dritten Januar einfach ausgesucht, weil sie das Gefühl hatten, an diesem Tag, am Anfang eines neuen Jahres, würde auch ihr neues Leben beginnen. Und, hatte ihr Vater erklärt, sie hatten das Datum nicht genau am Neujahrstag wählen wollen, damit sie ihren eigenen besonderen Tag bekam.
Als Angie nach links Richtung Lonsdale abbog, wandten sich ihre Gedanken ihren Adoptiveltern zu – Miriam und Joseph Pallorino. Sie hatten hier am North Shore gelebt, während sie Angie als Pflegekind bei sich aufgenommen hatten, bevor die Adoption zugelassen worden war. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass eine Sozialarbeiterin und eine Psychologin sie mehrmals pro Woche besucht hatten. Auch eine Sprachtherapeutin war gekommen, um Angie dabei zu unterstützen, das Sprechen wieder zu erlernen, und ihr Englisch beizubringen, da man zu diesem Zeitpunkt bereits ahnte, dass sie möglicherweise in einer fremden Sprache erzogen worden war. Oder dass man ihr das Sprechen bisher überhaupt nicht vermittelt hatte.
Uciekaj, uciekaj! … Wskakuj do srodka, szybko! … Siedz cicho!
Instinktiv hatte sie gewusst, was diese Worte zu bedeuten hatten. Lauf, lauf! Da rein!
Mittlerweile glaubte sie, dass sie als Kind zumindest etwas Polnisch verstanden hatte und dass die Stimme, die ihr diese Worte zurief, vielleicht die ihrer Mutter gewesen war oder die einer Frau, die sich um sie gekümmert hatte.
Angie fuhr einen steilen Hügel hinauf, umrundete eine Biegung, bremste ab und überprüfte die Adresse auf einer Säule vor einer abschüssigen Einfahrt. Hier wohnte die Witwe. Angie bog ab und fuhr zu einem blassgrau gestrichenen Farmhaus. Vor der Garage parkte sie ihr Fahrzeug.
Sie war nervös und voller Erwartung, während sie das Haus genauer in Anschein nahm. Gleich würde sie der Witwe des Mannes gegenüberstehen, der vor drei Jahrzehnten nach ihrer Familie gesucht hatte.