KAPITEL
7
Angie kroch in ihrem Wagen langsam den kilometerlangen Damm zum Tsawwassen-Fährhafen entlang. Sie wollte rechtzeitig für ihre Verabredung zum Geburtstagsabendessen mit Maddocks zu Hause sein – sie brannte darauf, ihm ihre Neuigkeiten zu erzählen –, aber stürmisches Wetter und starke Windböen hatten die Abfahrt der Fähren verzögert und den Verkehr gestaut. Sie hatte außerdem zu wenig Zeit eingeplant, weil sie zum Starbucks zurückgefahren und Ken Lau gesucht hatte.
Während sie voranschlich, schienen die beiden Kisten mit den Fallakten auf dem Sitz neben ihr eine fast greifbare Präsenz auszustrahlen, lebendig und voller schwelender, spinnwebenverhangener Geheimnisse, mit denen sie sich beschäftigen wollte. Aber sie musste warten. Sie wollte die Siegel in einer sterilen Umgebung öffnen und dabei Handschuhe tragen, falls sich in den Kisten nicht verunreinigte Beweise befanden, die man noch einmal untersuchen konnte. Angies Plan war es, Dr. Sunni Padachaya anzurufen, die Leiterin des MVPD-Kriminaltechniklabors, und sie zu bitten, ihr eine gute Firma mit forensischer Expertise zu empfehlen, um alle Tests durchzuführen, die sie benötigte. Sie war in den letzten Jahren klug mit
ihrem Einkommen umgegangen. Die Entdeckung dieser Kisten war ein Wendepunkt – und das gab ihr neue Hoffnung.
Angie fluchte, als sie erneut gezwungen war, auf die Bremse zu treten. Die Autoschlange vor ihr kam zum Stehen. Ungeduldig trommelte sie mit den Nägeln auf das Armaturenbrett. Windböen ließen ihr Fahrzeug wackeln und trieben wogende Vorhänge aus Regen und Nebel über die Straße. Sie drückte das Telefonsymbol auf dem Armaturenbrett und wählte Maddocks’ Nummer. Sein Telefon klingelte mehrmals, bevor die Mailbox ansprang.
»Hey, ich bin’s noch mal. Ich stehe in der Schlange vor der Fähre nach Hause. Wollte nur Bescheid sagen.« Sie würde sich ihre Neuigkeiten für das Abendessen aufsparen. »Wir sehen uns im King’s Head.« Sie legte auf, aber eine seltsame Leere, weil sie ihn nicht erreichen konnte, mischte sich in die Aufregung darüber, die Kisten und Ken Lau gefunden zu haben.
Angie wartete darauf, dass die Autos sich wieder die Landzunge entlangbewegten, die in den windgepeitschten Ozean hinausragte. Der blutergussfarbene Himmel wurde dunkler und die Wolken hingen immer tiefer – eine weitere Front zog herauf. Ein helles Licht unten am nebligen Strand erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie spähte durch die Regenschlieren, die sich das Fahrerfenster hinunterschlängelten. Eine kleine Gruppe von Menschen drängte sich um das Licht. Es war unnatürlich grell. In dem Moment bemerkte sie den Übertragungswagen der CBC, der an der Straße oberhalb des Strandes parkte. Neugierig griff sie ins Handschuhfach und holte ihr Fernglas heraus – Polizeiangewohnheiten waren hartnäckig. Jemand hielt einen riesigen Regenschirm über eine mollige blonde Frau, die anscheinend von einer Reporterin mit einem langen schwarzen Mantel und einem Mikrofon in der Hand befragt wurde. Die kurzen Haare der Frau wurden vom Wind zerzaust. Sie hielt einen kleinen weißen Hund an der Leine. Sie war nicht nur
mollig, erkannte Angie, als sich die Frau zur Seite drehte – sie war hochschwanger unter ihrer blauen Jacke. Die Schwangere zeigte auf eine Felsnase am Strand. Der Kameramann schwenkte seine Kamera in die Richtung. Während Angie zusah, erfüllte sie eine seltsame Kälte, ein merkwürdiges Gefühl, dass die Dinge näher kamen.
Ihr Handy klingelte und sie erschrak. Schnell drückte sie den Knopf an ihrem Armaturenbrett und nahm den Anruf an, in der Erwartung, dass es Maddocks war.
»Pallorino«, sagte sie, beinahe hätte sie auch noch ihren Dienstgrad genannt.
»Vedder hier«, kam die Stimme. Beim Klang der Stimme ihres direkten Vorgesetzten fühlte sie sich sofort unwohl. Vedder war der Leiter der Abteilung für Sexualverbrechen, wo sie die letzten sechs Jahre verbracht hatte. Er war außerdem zur MVPD-Kontaktperson zwischen ihr und der unabhängigen Untersuchungsbehörde bestimmt worden.
»Sir?« Sie ließ das Fenster wieder hoch.
»Können Sie heute am späteren Nachmittag herkommen? Wir haben eine Entscheidung von der Untersuchungsbehörde. Wir würden uns gern persönlich treffen, um das zu besprechen, und auch die Ergebnisse der internen Prüfung des MVPD.«
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Angie nichts sagen. Sie räusperte sich. »Was hat die Untersuchungsbehörde gesagt?«
»Wir müssen das persönlich machen. Vielleicht sollten Sie Ihre Gewerkschaftsvertreterin mitbringen.«
Verdammt.
Ihre Augen brannten. Sie rieb sich über die Stirn. »Ich … ich stehe in der Warteschlange für die Fähre in Tsawwassen«, sagte sie langsam. »Wenn ich die nächste Überfahrt schaffe, könnte ich um kurz nach fünf bei Ihnen im Büro sein. Ich werde Marge Buchanan anrufen und fragen, ob das für sie passt.«
»Bestätigen Sie es mir, sobald Sie Buchanan kontaktiert haben.«
»Vedder, wer ist ›wir‹?«
»Flint und ich.«
Angie fluchte innerlich. Inspektor Martin Flint war der Leiter der Speziellen Ermittlungen, unter die die Abteilung für Sexualverbrechen fiel, sowie die Abteilung gegen Ausbeutung, die Abteilung Hochrisikotäter und die Abteilung Häusliche Gewalt und Terror. Sie war erledigt.
»Sie müssen mir irgendetwas geben – dann kann ich mich wenigstens vorbereiten.«
»Es tut mir leid, Angie.« Dass er ihren Vornamen benutzte, half nicht. Sein Tonfall sagte ihr, dass auch er es nicht einfach fand. Vedder war gut zu ihr gewesen. Er hatte sich bei den vielen Gelegenheiten für sie eingesetzt, bei denen Angie mit den frauenfeindlichen Kerlen in der Truppe aneinandergeraten war. Mit Detective Harvey Leo zum Beispiel. Vedder und sie hatten sich angefreundet – er war einer der wenigen Männer in der Truppe, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hatte, jemand, dem sie vertraut hatte. Das war es jetzt also. Sie hatte vermutet, dass es passieren könnte – dass man sie feuern würde. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Ihre größte Sorge war jetzt, dass die interne Untersuchung ihren Fall an die Strafverfolgungsbehörde weiterleiten würde. Sie konnte angeklagt werden, weil sie unangemessene und tödliche Gewalt angewendet hatte. »Es tut mir wirklich leid wegen dem Zeitpunkt«, fügte er hinzu. »Ich weiß, dass heute Ihr Geburtstag ist.«
Ja, toll, herzlichen Glückwunsch
. »Ich werde dort sein.« Sie legte auf und saß wie betäubt da. Durch die Regenfäden auf dem Fenster sah sie, wie sich die Filmcrew auf die Felsnase zubewegte. Ein Lastwagen hinter ihr hupte. Angie zuckte zusammen. Die Schlange vor ihr hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie zeigte über
die Schulter den Stinkefinger und griff nach dem Schalthebel. Sie fühlte sich nicht mehr in aufgeregter Erwartung, während sie mit dem Verkehr weiterkroch. Sie spürte eine Angst davor, dass das Leben, wie sie es kannte, vorbei war.
Sie kam endlich bei der Ticket-Kabine an und rollte das Fenster herunter. Ein Stoß Meereswind schlug ihr entgegen, salzig und ruhelos.
Ihr Fahrzeug schaffte es als eines der letzten auf die Fähre namens Queen of the North. Die Rampe klapperte, als sie auf das Autodeck fuhr. Es klang endgültig. Als die Rampe hinter ihr hochgezogen wurde, schwenkte ein Mann mit einer knallorangeroten Weste seine Taschenlampe und schickte sie tiefer in die dunklen Eingeweide des Schiffs. Motoren und Metall grollten. Angie parkte, stieg aus ihrem Mietwagen, schloss ab und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Sie ging hoch zur Passagierebene, schob die schwere Tür zum Außendeck auf und lehnte sich gegen den Wind, auf dem Weg zum vorderen Teil des Schiffes. Sie stand da, die Hände auf dem Geländer, hielt das Gesicht in den rauen Wind, und es machte ihr nichts aus, dass der eiskalte Regen ihr ins Gesicht schlug. Auf der anderen Seite des metallgrauen Wassers lag die Insel. Ihr Zuhause. Hinter ihr lag das Festland, ihre unbekannte Vergangenheit. Das Schiffshorn ertönte und das Geräusch der brummenden Motoren veränderte sich, als die Propeller weißen Schaum durch das Meer wirbelten. Das Schiff fuhr aus dem Hafenbecken. Angie fühlte sich, als würde sie gleich eine Schwelle überschreiten.