KAPITEL
8
Maddocks unterließ es, seine Krawatte zu lösen, obwohl das Verhörzimmer im Gefängnis von Vancouver Island stickig war. Heiß. Eine Betonkonstruktion. Blasse institutionsmäßige Wände. Polizeispiegel. Verschlossene Tür. Ein Wächter in schwarzer Uniform stand vor der Tür, die Beine breit, Schultern gerade, die rechte Hand über dem linken Handgelenk, eine Haltung, die zeigen sollte, dass er auf alles vorbereitet war. Auf dem Namensschild an der Brusttasche stand MORDEN. An seinem Gürtel hingen ein Schlüsselring und ein Schlagstock. Am Tisch gegenüber von Maddocks saß die Inhaftierte, die er befragen wollte – Zina, die transsexuelle Leibwächterin und Assistentin, die bei der Razzia auf der Amanda Rose
vor zwei Wochen festgenommen worden war.
Neben Zina saß ihr Verteidiger Israel Lippmann. Durch den Polizeispiegel schauten Holgersen, der Staatsanwalt, und ein Vollzugsbeamter zu.
Maddocks, Holgersen und der Anwalt waren über die Saanich-Halbinsel zum alten Wilkinson-Road-Gefängnis gefahren, eine Hochsicherheitsanstalt, in der sowohl verurteilte Straftäter als auch Untersuchungsgefangene einsaßen. Lippmann hatte einen Deal vorgeschlagen, wenn seine Klientin in eine andere Anstalt verlegt und die Anklagepunkte
abgemildert werden würden. Wie eine baumelnde Karotte lockten Informationen zur Identität der Barcode-Mädchen das MVPD und die Staatsanwaltschaft.
Es konnte der Durchbruch sein, den sie brauchten, um die Verdächtigen zu finden, die diese Mädchen in die Prostitution verkauft hatten. Menschenhandel hatte meistens mit organisiertem Verbrechen und internationaler krimineller Zusammenarbeit zu tun. Die Barcode-Tätowierungen selbst wiesen auf koordinierte kriminelle Strukturen und Eigentumsbrandmarkung hin.
Maddocks schaute die adlerartigen Gesichtszüge der über zwei Meter großen Gefangenen ihm gegenüber an. Die Haare der Insassin waren militärisch kurz geschnitten und silbern gefärbt. Maddocks hatte kürzlich von Lippmann erfahren, dass Zina sich selbst als weiblich betrachtete. Es war nicht leicht für Maddocks, diesen Menschen, der in Missbrauch, Kidnapping und Frauenhandel verwickelt war, als eine »Sie« anzusehen. Aber er arbeitete daran. Ihre Haut hatte einen seltsam aschfahlen Ton, ihre Augen waren fast farblos. Sie trug Gefängniskleidung – leuchtend rote Hosen, ein rotes Sweatshirt mit VIRECC, BC CORRECTIONS auf dem Rücken. Sie saß seltsam still, in ihrem Gesicht war keine Gefühlsregung erkennbar. Frische lila Prellungen und Schwellungen verunstalteten ihre linke Wange. Eine genähte Wunde zog sich über ihre linke Schläfe. Würgemale umrundeten ihren Hals. Paradox, dachte Maddocks, wo doch eine ihrer Sexarbeiterinnen bei einem schiefgelaufenen Würgespielchen gestorben war.
Bevor sie das Zimmer betraten, hatten Lippmann und der Staatsanwalt die Einzelheiten eines Deals und die Verhörbedingungen ausgehandelt, die für sie akzeptabel waren.
Maddocks drückte den Aufnahmeknopf und schaltete die Kamera und das Aufnahmegerät damit ein. »Verhör beginnt mit der Insassin namens Zina. Ort: Vancouver Island Regional
Correctional Centre. Zeit: 16:45 Uhr, Mittwoch, dritter Januar.« Er schaute Zina in die Augen.
»Für das Protokoll: Kann die Insassin bitte ihren offiziellen Namen nennen?«
»Zaedeen Camus«, sagte sie deutlich, ohne zu blinzeln.
Maddocks’ Herz schlug schneller. Jetzt hatten sie einen Namen, mit dem sie arbeiten konnten.
»Nationalität?«
»Ich bin aus Algier. Meine Mutter war Algerierin. Mein Vater ist französischer Staatsbürger. Ich habe einen französischen Pass. Mein fester Wohnsitz ist in Paris.«
Das erklärte ihren Akzent.
»Und Sie nennen sich Zina?«, fragte Maddocks.
»Ich finde den Namen femininer. Ich ziehe es vor, mich als weiblich zu bezeichnen. Ich unterziehe mich gerade einer Hormontherapie. Eine Operation wird folgen.«
Was sie zum Kern der Sache brachte – dem Grund, warum sie hier waren. Während des Durcheinanders bei der Razzia auf der Amanda Rose
war den festnehmenden Beamten nicht klar gewesen, dass Zina, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren worden war, sich selbst als weiblich verstand. Sie war mit den männlichen Insassen im VIRECC eingesperrt worden. Da sie in ihrer ersten Nacht sexuell belästigt und schlimm verprügelt worden war, befand sie sich jetzt zu ihrem eigenen Schutz in einer Einzelzelle. Lippmann hatte mehrere Beschwerden eingereicht, darunter eine bei der Menschenrechtskommission. Und er hatte einen Transfer in eine rein weibliche Untersuchungshaft gefordert. Dennoch gab es Sicherheitsbedenken hinsichtlich der aktuellen Vorschriften zu Transgender-Insassen und Zinas Transfer in eine weibliche Gruppe. Angesichts Zinas mutmaßlicher Verwicklung in Entführungen, sexuelle Belästigungen, Menschenhandel, Folter, Drogenmissbrauch, Gehirnwäsche und das gewaltsame Einsperren von minderjährigen Frauen an Bord der Amanda Rose
hätte sie es in keinem Gefängnis leicht gehabt. Aber das war der Grund, warum ihre Insassin jetzt bereit war zu reden.
»Wo sind Ihre Ausweispapiere, Ihr Pass?«, fragte Maddocks. »Man hat sie nicht auf der Amanda Rose
gefunden.«
Zaedeen Camus schaute zu ihrem Anwalt. Lippmann nickte leicht.
»Madame Vee hat mich angewiesen, meine Papiere zusammen mit ihren in einen Beutel zu tun, den Beutel zu verschließen, zu beschweren und über Bord zu werfen.«
»Wann hat sie Sie dazu angewiesen?«
»Als die Polizei das Boot stürmte.«
»Wie haben Sie ihn über Bord geworfen?«, fragte Maddocks. »Aus dem Fenster ihres Büros?«
»Korrekt, aus dem Bullauge in ihrem Büro.«
»Beschreiben Sie den Beutel.«
»Ein verschließbarer Beutel. Wasserdicht. Ein kleines orangerotes Logo an der Seite.«
»Wie groß?«
»Es passen fünf Liter hinein.«
»Warum über Bord?«
»Madame Vee fand, dass Schweigen und Anonymität die sicherste Vorgehensweise ist, wenn wir verhört werden. Sie wollte außerdem, dass die Dokumente geschützt sind, falls wir sie später mit einem Taucher wieder heraufholen könnten.«
»War noch etwas anderes in dem Beutel außer den Ausweispapieren von Ihnen und Madame Vee?«
Ihr Blick flatterte. Lippmann bewegte die Hand über seinen Block – ein Zeichen.
»Ja.«
»Was war noch in dem Beutel?«
»Andere Papiere – nur Dinge, die unsere persönliche Identität betreffen.«
Maddocks notierte sich das und die Beschreibung des Beutels. Sie mussten Polizeitaucher unter die Amanda Rose
schicken. »Und wie lauten der offizielle Name und die Nationalität von Madame Vee?«, fragte Maddocks, nachdem er sich zu dieser großen Frage manövriert hatte.
Zaedeen Camus zuckte zusammen – das erste Anzeichen von Stress bei der Gefangenen. Maddocks hielt ihrem Blick stand. Und ja, in ihren farblosen Augen konnte er Anzeichen von Angst sehen. Die Zuhälterin hatte immer noch Macht über Zina, vielleicht auch über ihre anderen Angestellten. Bis jetzt hatte die mysteriöse Madame der Polizei nichts geliefert. Und weder ihre Fingerabdrücke noch die von Camus waren im System. Ihre Identität zu kennen wäre ein Riesenschritt nach vorn.
»Nur zu«, drängte Lippmann.
»Ihr Name ist Veronique Sabbonnier«, sagte Camus.
»Staatsangehörigkeit?«
»Auch Französin.«
»Wo haben Sie Veronique Sabbonnier kennengelernt?«, fragte Maddocks.
Sie schluckte. »Wir haben uns in Paris getroffen. Sie kam oft in ein Hotel, in dem ich Geschäftsführer war.«
»Wann war das?«
»Vielleicht vor fünf Jahren.«
»Hat Veronique Sabbonnier damals als Zuhälterin gearbeitet?«
Lippmann räusperte sich und sagte: »Diese Frage liegt außerhalb der Parameter unserer Befragungsvereinbarung.«
Maddocks begegnete dem düsteren Blick des Anwalts, ließ einen Moment der Stille entstehen und lenkte dann um. »Wann haben Sie angefangen, für Sabbonnier zu arbeiten?«
»Ich habe sie zwei Jahre später in einem Hotel in Marseille wiedergetroffen, in das ich versetzt worden war. Sie hatte mit
der Amanda Rose
im örtlichen Hafen angelegt. Sie verbrachte vier Monate in Marseille. Ich habe sie in dieser Zeit näher kennengelernt und sie lud mich an Bord der Jacht ein und bot mir dann einen Job in ihrem Club an.«
»Der Bacchanalian-Club?«
»Ja. Am Ende dessen, was Madame Vee ihre Marseille-Saison nannte, fuhr ich mit der Amanda Rose
mit.«
»In welcher Funktion stellte Sabbonnier Sie an?«
Camus sah ihren Anwalt an. Ein weiteres kurzes Nicken von Lippmann.
»Persönliche Assistentin. Türsteherin für den Bacchanalian-Club.«
»Der ein luxuriöser Sexclub war?«
Schweigen.
Maddocks entschied sich für einen Seitenhieb. »Hat Sabbonnier Sie gebeten, Faith Hockings Leiche zu entsorgen, nachdem Hocking bei einem sexuellen Akt auf der Amanda Rose
starb?«
Lippmann lehnte sich abrupt nach vorn. »Diese Frage liegt weit außerhalb der Parameter unserer Abmachung, Detective.«
Maddocks holte tief Luft und ließ ein weiteres langes Schweigen entstehen, damit sich der Druck in dem zu warmen Zimmer erhöhte. Laut den beiden jungen Freiern, die angeklagt waren, Hocking bei einem aus dem Ruder gelaufenen Würgespiel erdrosselt zu haben, war es Camus gewesen, die Sabbonnier gerufen hatte, um aufzuräumen und die Leiche zu entsorgen. Camus hatte angeblich Hockings nackten Körper in eine dicke Plastikplane gewickelt, die gleiche Art Plane, in der später Ginny gefangen gewesen war. Sabbonnier hatte dann angeblich den Tischler und Helfer an Bord der Amanda Rose
Spencer Addams beauftragt, Hockings Leiche in derselben Nacht mit einem Boot hinauszufahren und sie im Meer zu entsorgen. Addams hatte jedoch Hockings Leiche für seine
eigenen nekrophilen Zwecke behalten, bevor er sie schließlich ins Meer warf. Sie war im Gorge angespült worden und wurde Maddocks’ erster Fall in seinem neuen Job bei der MVPD-Mordkommission.
Maddocks versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Arbeitete Spencer Addams, der Tischler, schon auf der Amanda Rose
, als Sie in Marseille angeheuert wurden?«
»Er wurde kurz darauf eingestellt. Er arbeitete während der Mittelmeer-Saisons auf der Jacht und während den folgenden Saisons in Victoria, Vancouver, Portland, San Francisco und in der Karibik.«
»Und woher holte Sabbonnier ihre Sexarbeiterinnen für all diese ›Saisons‹?«
»Einige der Sexarbeiterinnen kamen aus regionalen Clubs oder von Zuhältern in den Städten, in denen wir anlegten – Sabbonnier hat … Abmachungen in vielen Städten. Die Frauen arbeiteten während der Saison, in der die Jacht im Hafen lag. Manche kamen für mehrere Saisons wieder. Aus eigenem Antrieb.«
»Aber einige der Frauen wurden die ganze Zeit über gegen ihren Willen auf dem Schiff festgehalten?«
Stille.
»Okay«, sagte Maddocks. »Kommen wir direkt zu den Barcode-Mädchen, ja? Es wurden sechs junge Frauen an Bord der Amanda Rose
gefunden, als sie an der Uplands-Marina vor Anker lag. Alle haben Barcodes auf den Nacken tätowiert. Alle scheinen minderjährig und aus dem Ausland zu sein. Woher kommen sie?«
»Prag.«
Maddocks sah Camus in die Augen. »Nur ›Prag‹?«
Ihr Adamsapfel bewegte sich. Sie befeuchtete ihre perfekt geformten Lippen. »Prag ist ein Umschlagplatz. Das ist alles, was ich weiß.«
Maddocks bezweifelte, dass das alles war, was sie wusste, aber er würde später darauf zurückkommen, wenn sie bei weiteren Verhören mit Camus und Sabbonnier gründlich nachforschten und dabei idealerweise mit dieser neuen Information Druck auf beide ausüben konnten.
»Ist Prag der Ort, wo dieser sogenannten ›Ware‹ die Barcodes eintätowiert wurden?«
»Soviel ich weiß, ja.«
»Was bedeuten diese Tattoos? Ablaufdatum? Eigentum?«
»Eigentum. Herkunft und Alter der Ware. Und das Datum, an dem das Mädchen zum ersten Mal benutzt wurde. Die Tattoos sind in eine Computer-Datenbank eingespeist worden, um sie verfolgen zu können. Die Mädchen werden gegen eine Gebühr ausgeliehen, normalerweise für einen Zeitraum von zwei Jahren. Sie können nach dieser Zeit zurückgegeben und gegen neue ausgetauscht werden, wenn man das will, gegen zusätzliche Kosten. Madame Vee hat diese neue Art des … Handels, nannte sie es, getestet.«
Galle stieg in Maddocks’ Kehle auf. »Und wem gehört diese Barcode-Ware?«
»Einer russischen Organisation.«
»Welcher Organisation?«
»Ich weiß es nicht. Die Russen haben das Prostitutionsgewerbe in Prag komplett von den Albanern übernommen. Sie bedienen jetzt den britischen Markt. Und die Märkte in Nord- und Südamerika. Mehr weiß ich nicht.«
»Natürlich nicht. Und wo sind die sechs Frauen mit Barcode, die man an Bord der Amanda Rose
gefunden hat, ins Land eingereist?«
»Über den Port of Vancouver. Auf einem Containerschiff aus Korea. Mitglieder der Hells Angels von Vancouver und kollaborierende Hafenarbeiter haben ihre Einreise möglich gemacht.«
Maddocks’ Puls schoss nach oben. Er setzte eine ungerührte Miene auf und blieb ganz gelassen. »Und dann, nachdem die ›Ware‹ im Hafen angekommen war?«
»Anschließend hat man die Barcode-Mädchen in ein Versteck irgendwo in British Columbia gebracht – ich weiß nicht, wo. Vielleicht Vancouver. Danach kamen die sechs zu uns.«
»Wie lange waren sie in diesem Versteck?«
»Ich weiß nicht. Eine Weile. Vielleicht einen Monat.«
»Warum hat man sie dort festgehalten?«
Camus zögerte. Ihr Anwalt nickte. »Sie wurden … in den richtigen Zustand versetzt.«
»Das heißt?«
Camus schluckte und sagte: »Vielleicht ein bisschen aufgepäppelt. Wieder ganz gesund gemacht, während Käufer aus Clubs gesucht wurden, so etwas.«
»Sie haben also im Schiffscontainer gelitten. Wie lang waren sie auf See?«
Lippmann bewegte sich auf seinem knarrenden Stuhl. »Meiner Klientin ist nicht mehr über den Transport der Mädchen ins Land bekannt, als sie bereits erzählt hat.«
Maddocks holte tief Luft und sagte: »Die Hells Angels von Vancouver arbeiten also mit einem russischen Ring des organisierten Verbrechens zusammen, der seinen Sitz außerhalb von Europa hat?«
»Sie hat Ihnen alles gesagt, was sie weiß«, wiederholte Lippmann.
»Oder alles, was sie erzählen will?«
»Ich wiederhole«, sagte Lippmann. »Wir haben eine vorausgehende, legale Vereinbarung, was offengelegt werden soll.« Der Blick seiner dunklen Augen richtete sich fest auf Maddocks. »Zu diesem Zeitpunkt.«
Ein machiavellistischer Opportunist, dachte Maddocks. Lippmann behielt seine Karten in der Hand, um sie später auszuspielen, auf Kosten von sechs missbrauchten und verängstigten minderjährigen Frauen. »Was ist mit den Pässen der Mädchen?«, fragte Maddocks und verschob damit erneut die Grenzen ihrer Abmachung. »Wir haben Dokumente für die sechs Mädchen mit Barcodes an Bord der Amanda Rose
gefunden – drei israelische Pässe, zwei estnische und einen litauischen. Diese Mädchen sind keine Israelis, Estinnen oder Litauerinnen.« In Wahrheit hatte das MVPD keine Ahnung, welche Staatsangehörigkeit die sechs Mädchen hatten, aber Maddocks improvisierte. »Wir haben diese Pässe außerdem von forensischen Ausweisexperten untersuchen lassen – sie sind gefälscht.«
Stille.
Er lehnte sich nach vorn. »Was ich glaube, ist, dass diese jungen Frauen Pässe aus diesen Ländern bekommen haben, weil genau diese Länder – Israel, Estland, Litauen – zu denen gehören, von denen aus man kein Einreisevisum nach Kanada braucht. Bisher brauchen sie nur ein ETA, eine elektronische Reiseerlaubnis, die man online für ein paar Dollar bekommt. Warum gibt es keinen Eintrag, dass diese Passnummern in dieses Land eingereist sind?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Camus.
»Weil sie für einen zukünftigen Gebrauch bestimmt waren, oder? Für den Zeitpunkt, an dem Sabbonnier mit den Mädchen an
Bord der Amanda Rose
für all diese ›Saisons‹ in die Häfen verschiedener Länder reisen wollte?«
Stille.
»Wo wurden die Fälschungen hergestellt?«
»Weiß ich nicht.«
»Versuchen Sie doch mal zu raten.«
»Vielleicht wurden sie in Tel Aviv gefälscht, von Russen.«
Heißes Adrenalin rauschte durch Maddocks’ Blut. Langsam und ganz ruhig sagte er: »Also, wir haben russisches organisiertes Verbrechen in Tel Aviv, das zusammen mit russischem organisiertem Verbrechen in Prag arbeitet, um Frauen international zu handeln. Und dieser Menschenhandelsring hat auf regionaler Ebene eine Verbindung zu den Hells Angels?«
Stille. Lippmann war jetzt nervös.
Maddocks sagte: »Nachdem die sechs Mädchen in diesem Lagerhaus wieder aufgepäppelt worden waren, haben die Hells Angels von Vancouver sie direkt zu Ihnen und Veronique Sabbonnier gebracht? Für einen Zwischenhändleranteil? Oder hat jemand anderes das Geldgeschäft abgewickelt und Ihnen die Mädchen verkauft und übergeben?«
Rote Flecken bildeten sich auf der seltsam gefärbten Haut über Camus’ scharfen Wangenknochen. Maddocks’ Herz pochte schneller bei dem verräterischen Hinweis. Seine eigene Haut wurde heiß. Ein russischer internationaler Menschenhandelsring mit Verbindungen zu einer prominenten lokalen Bikergang? Wenn er Beweise finden konnte, war das eine Riesensache. Hells Angels waren notorisch schwer dranzukriegen. Er musste Kontakt zu den Einheiten für organisiertes Verbrechen der Royal Canadian Mounted Police auf dem unteren Festland aufnehmen. Interpol und andere internationale Menschenhandelsbehörden mussten auch eingebunden werden. Sein Fall überschnitt sich vielleicht mit anderen Ermittlungen, die bereits liefen.
Camus schwankte plötzlich auf ihrem Stuhl. Abgesehen von den roten Flecken schien ihr alles Blut aus dem Gesicht gewichen zu sein, sie sah grau aus.
»Okay, das reicht, Sergeant Maddocks«, sagte Lippmann, sprang auf und winkte der Wache hinter ihnen. »Wir sind hier fertig. Meine Klientin braucht medizinische Hilfe und Ruhe.
Wir werden die schriftlichen Protokolle unterschreiben, wenn Sie damit fertig sind.«
Maddocks blieb sitzen, während der Wachmann die Tür zum Verhörzimmer aufschloss und Lippmann und seine Klientin hinausführte.
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete er lange und kontrolliert aus. Er fing gerade erst an. Und jetzt hatte er Blut geleckt.
Maddocks verließ das Gefängnis mit Holgersen, mit Kopien von Zaedeen Camus’ unterschriebener Aussage in der Hand. Draußen war es dunkel. Kalt. Ein leichter Nebel senkte sich herab.
Holgersen blieb unter dem Säulendach neben einem der beiden Steinlöwen am Eingang des Gefängnisses stehen. Er holte ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Also, das ist mal eine irre Story«, sagte er und versuchte umständlich, sich eine Zigarette aus dem Päckchen zu angeln. »Wenn wir eine Verbindung zwischen den Hells Angels, den Hafenarbeitern und dem russischen Mob beweisen können.«
»Ja.« Maddocks nickte in Richtung der Zigarette. »Brauchst du lange dafür?«
»Nur ’n paar schnelle Züge, Boss. Wenn ich schon nicht in deinem Auto rauchen kann und so.« Er zündete die Zigarette an und blies einen Schwall Rauch in die Nacht.
Maddocks schaute hinaus in den Regen, ungeduldig wegen dieser Verzögerung durch seinen Partner. »Flint fragt gerade bei den Abteilungen für organisiertes Verbrechen auf dem Festland nach. Er fühlt vor, ob schon jemand anderes auf Prostituierte mit Barcodes gestoßen ist.«
»Nur gut, dass wir die Details über die Tattoos vor der Presse geheim gehalten haben nach dem Einsatz auf der Amanda Rose
.« Holgersen nahm einen langen Zug und sprach durch den Rauch, während er ausatmete. »Trotzdem tippe ich drauf,
dass diese Angels und Russen ihren Lieferkanal dichtgemacht haben, jetzt, wo alle von der Razzia auf der Amanda Rose
wissen. Selbst wenn diese Details zurückgehalten werden, wissen sie sicher, dass wir ihre Mädchen gefunden haben, und sie werden ihre nächste Barcode-Lieferung in ein anderes verdammtes Kaninchenloch verschwinden lassen.«
Maddocks’ Magen krampfte sich vor Anspannung zusammen. Er sah auf die Uhr. 18:30 Uhr. Seine Verabredung mit Angie im King’s Head war um halb acht. Holgersen und er mussten die ganze Saanich-Halbinsel runter zum Revier des MVPD in Victoria fahren, wo sein Vorgesetzter, Inspektor Martin Flint, auf die Aussage wartete.
»Ich hab ja gehört, dass die am Hafen von Vancouver so eine riesige Röntgenmaschine haben, mit der sie die Schiffscontainer durchleuchten, die jeden Tag reinkommen«, sagte Holgersen und schnippte Asche auf den Boden. »Aber sie können nur so drei oder vier Prozent überprüfen, diejenigen, die man als verdächtig einstuft. Anscheinend entscheiden die vom Zoll, welche geprüft werden sollen. Sie bekommen Informationen, bevor die Schiffe einlaufen, und sie nehmen nur Schiffe ins Visier, bei denen ungewöhnliche Aktivitäten an Bord gemeldet werden. Wie kommen die an diese Infos, frag ich mich? Jeden Tag kommt irgendein Scheiß durch diese Häfen.« Er schaute hinauf zu den schlossähnlichen Türmen und Zinnen und nickte in Richtung der Fassade des historischen Gefängnisses. »Sieht aus wie eine mittelalterliche Burg, findest du nicht? Würde man von drinnen nie denken. Der Justizvollzugsbeamte hat mir gesagt, dass sie es ›Wilkie‹ nennen, weil es an der Wilkinson Road liegt. Seit über hundert Jahren in Betrieb. War mal die Colquitz-Provincial-Anstalt für geisteskranke Straftäter.« Er wackelte mit dem Fingern an seiner Schläfe. »Klapse.«
»Tu mir einen Gefallen«, sagte Maddocks, dem der Geduldsfaden riss. Er kramte seine Schlüssel aus der Tasche
und hielt sie Holgersen hin. »Geh schon mal vor zum Auto. Du kannst fahren. Ich komme gleich nach – muss nur einen persönlichen Anruf machen. Und im Auto wird nicht geraucht.«
Holgersen schaute von den Schlüsseln zu Maddocks. »Pallorino?«
»Welchen Teil von ›persönlich‹ hast du nicht verstanden, Holgersen?«
Er zuckte beiläufig mit den Schultern und nahm einen weiteren schnellen Zug, bevor er die Zigarette mit dem Absatz austrat. Den Stummel hob er auf und ließ ihn in eine Tüte fallen, die er aus der Tasche zog. »Wann steht die Entscheidung der internen Untersuchung an?«, fragte er, verschloss die Tüte und steckte sie wieder ein.
»Keine Ahnung.«
»Pallorino weiß noch nichts?«
»Soviel ich weiß, nicht. Jetzt geh schon«, sagte Maddocks.
Holgersen schaute Maddocks noch einen Moment lang an. Dann nahm er die Schlüssel und eilte die Stufen hinab, überraschend flink mit seinen großen Füßen. Er schlug den Kragen seiner dunkelgrauen Jacke hoch, schob die Hände tief in die Taschen und lief davon in den Regen. Als er außer Hörweite war, wählte Maddocks Angies Nummer.
Er fluchte leise, als er wieder auf die Mailbox umgeleitet wurde. Er hatte bereits vor der Befragung von Camus versucht, sie anzurufen. Er hinterließ eine Nachricht.
»Angie. Wir spielen hier Telefonfangen – ich musste einen Abstecher zum örtlichen Gefängnis machen.« Er unterließ es zu erwähnen, warum er hergekommen war. Oder mit wem. Seine fortlaufende Untersuchung mit Holgersen, ihrem Juniorpartner von den Sexualverbrechen, entwickelte sich allmählich zu einem Minenfeld zwischen ihnen beiden. »Ich bin jetzt auf dem Rückweg nach Victoria, aber es kann sein, dass es knapp wird mit unserem Treffen um halb acht. Wenn du vor mir dort
ankommst, trink etwas auf meine Rechnung, bitte. Ich komme, sobald ich kann.«
Er legte auf und ging zu seinem Impala. Holgersen saß hinter dem Steuer, der Motor wärmte auf und die Heizung lief. Jack-O döste auf seinem Schaffell auf dem Rücksitz. Bis jetzt hatte sich niemand beschwert, dass Maddocks den Hund mit zur Arbeit brachte. Damit würde er sich erst beschäftigen, falls und wenn es passierte.
Während sie die Halbinsel hinunterfuhren, wurde der Regen stärker. Maddocks’ Gedanken wanderten zu Angie und der Entscheidung der internen Untersuchung. Er überlegte, welche Auswirkungen das auf ihre beginnende Beziehung haben könnte. Kalte Unruhe schlich sich in seinen Magen.