KAPITEL
14
Donnerstag, 4. Januar
Die Tür klickte hinter Maddocks und Jack-O ins Schloss. Angie fuhr sich mit beiden Händen durch das feuchte Haar. Was zum Teufel tat sie denn da? Versuchte sie, dieses zarte Pflänzchen ihrer Beziehung zu sabotieren, bevor es überhaupt eine Chance bekam zu wachsen? Bevor er
sie verlassen konnte? Sie war nicht fair zu ihm – das war ihr Problem. Die Tatsache, dass er immer noch an ihrem gemeinsamen
Fall arbeitete, während sie auf der Bank saß, obwohl sie ihm das Leben gerettet hatte – das war allein ihre Schuld, nicht seine. Das musste sie sich klarmachen. Sie hatte sich ihr eigenes Grab geschaufelt, denn sie hätte durchaus Ginny und ihn retten können, ohne bei Spencer Addams’ Erschießung die Kontrolle zu verlieren.
Trotzdem rieb Maddocks mit seiner mitfühlenden, ruhigen und souveränen Gegenwart nur noch Salz in die Wunden. Sie fühlte sich unzulänglich, wie eine Versagerin.
Du musst nicht alles allein machen.
Tja, schon, aber manche Dinge muss man eben doch allein machen. Man kommt allein in die Welt und man geht auch allein wieder. Letzten Endes bist es doch nur du.
Angie griff nach ihrem Glas und kippte den letzten Schluck herunter. Dann strich sie ihr Haar zurück und band es mit
einem Haarband zusammen. Sie schnappte sich ein frisches Paar Latexhandschuhe und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Kartons mit den Beweismitteln zu.
Sie legte die Tüte mit dem Teddybären beiseite und hob die nächste Tüte heraus. Darauf stand, dass sie einen lila Frauencardigan beinhaltete. Angie hielt inne, als sie eine Heftmappe entdeckte, die seitlich im Karton steckte. Sie legte den noch verpackten Cardigan auf den Tisch, griff nach der Mappe und schlug sie auf. Ganz vorn entdeckte sie ein Verzeichnis der Dinge, die dieser Karton enthalten sollte.
Sie überflog die Liste.
Ein Teddybär. Ein Mädchenkleid. Ein Set Mädchenunterwäsche. Ein lila Frauenpullover. Getrocknete und vakuumverpackte Blutproben. AB0-Blutgruppenanalysen, Proben der organischen Flecken auf dem Pullover, gerahmte Dia-Positive der Haarbeweise – einige kurze aschblonde Haare und einige lange dunkle Haare. Fotografien von blutigen Finger- und Handabdrücken am Tatort. Bilder von überpuderten Teilabdrücken. Fotos von Jane Does Prellungen und der Wunde am Mund. Die Ergebnisse des Rape Kits. Ballistische Berichte. Während sie las, wurde ihr immer heißer. Das war ein Durchbruch.
Wenn wirklich Haare da drin waren, dann hatte ein Forensiker aus den Achtzigern vielleicht entscheiden können, ob es einen Treffer gab oder nicht, aber heutzutage konnte man selbst Haarproben von nur zwei Millimetern Länge auf mitochondriale DNS testen und mit der DNS bekannter Individuen vergleichen. Man hatte sogar schon vierzig Jahre alte Haare erfolgreich getestet.
Und konservierte Blut- und Spermaproben – wenn man die Beweismittel korrekt aufbereitet und verwahrt hatte, dann konnte man vielleicht sogar ein DNS-Profil daraus gewinnen. Am besten sollte sie einfach nichts mehr öffnen. Falls es
tatsächlich konservierte biologische Beweismittel in diesen Kartons gab, dann musste sie diese sofort in die Hände eines guten forensischen Labors geben, ohne sie noch weiter zu kontaminieren. Gleich am nächsten Morgen würde sie Dr. Sunni Padachaya anrufen. Die Leiterin des forensischen Labors des MVPD war dafür bekannt, immer schon früh bei der Arbeit zu sein und erst sehr spät wieder zu gehen. Einmal hatte sie Angie anvertraut, dass sie, abgesehen von der Laborarbeit, einfach kein Leben habe. Angie verstand das, weil es neben ihrer Arbeit im Grunde auch nicht viel gab. Weshalb es sie auch so tief traf, auf Bewährung zu sein und ihre Karriere gefährdet zu sehen.
Auf einmal fühlte sie sich tief erschöpft. Alles verschwamm ihr vor den Augen und sie sah auf die Küchenuhr. Fast zwei Uhr morgens. Sie legte den Hefter zurück, gefolgt von dem Pullover und dem Teddybären. Dann zog sie sich die Handschuhe aus und warf sie in den Mülleimer. Mit etwas Glück würde sie noch ein paar Stunden schlafen können. Sie legte den Riegel an ihrer Wohnungstür vor und löschte die Lichter im Wohnzimmer. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer und holte ihre Uniform ganz hinten aus dem Schrank. Sie hängte sie an die Schranktür, setzte sich aufs Bett und starrte sie an: schwarze Hose, schwarzes Shirt, die Marke am Ärmel, das Namensschild über der linken Brust, auf dem PALLORINO stand.
Das letzte Mal hatte sie die Sachen an einem schwülheißen Julitag vor über sechs Monaten getragen. Beim Begräbnis ihres früheren Partners Hash Hashowsky. Bei der Erinnerung an das reiterlose Pferd, an dessen Steigbügel man symbolisch Hashs Stiefel befestigt hatte, wurde ihr ganz eng um die Brust. Ein Meer aus uniformierten Officers, einige in Schwarz, einige im Rot der Mounties, waren dem Pferd gefolgt, begleitet von den klagenden Klängen schottischer Dudelsäcke und dem Schreien der Möwen. Der Verkehr in der Innenstadt war zum Erliegen gekommen. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wischte sie
wütend fort. Er war ihr Mentor gewesen. Ihr Freund. Sie hatte Hash wie einen Vater geliebt. Er hatte sie nie belogen und enttäuscht wie ihr Adoptivvater. Und nur der Himmel wusste, wer ihr biologischer Vater sein mochte. Ihr kam ein Gedanke – was hätte Hash ihr angesichts der Probezeit geraten, zu der man sie verdonnert hatte?
Er hätte gesagt, dass sie sich den Arsch abgearbeitet hatte, um eine verdammt gute Polizistin zu werden, und dass es dumm wäre, das alles jetzt wegen einer zwölfmonatigen Disziplinübung wegzuwerfen. Angie holte tief Luft und straffte die Schultern. Sie umfasste fest ihre Knie. Und Maddocks hatte recht – wenn sie ihre Strafe schluckte und beim MVPD blieb, dann würde sie Zugang zu den Datenbanken der Polizei haben, der ihr andernfalls verwehrt bliebe.
Sie würde einfach einen Tag nach dem anderen angehen. Außerdem musste sie sich morgen erst um elf Uhr vormittags melden, genug Zeit also, um vorher noch ihre Beweismittel in ein privates Labor zu bringen. So konnten die Forensiker wenigstens schon mit der Arbeit an den Proben beginnen. Allein der Gedanke, dass sie bald Ergebnisse haben würde – neue Hinweise –, würde sie während dieses ersten Tags aufrecht halten. Und wenn sie am Abend nach Hause zurückkehrte, würde sie sich Detective Voights Fallnotizen und das andere Material vornehmen.
Angie putzte sich die Zähne, kroch ins Bett und schaltete die Nachttischlampe aus. Während sie in die Dunkelheit des Schlafes hinüberglitt, vernahm sie aus der Ferne ein Geräusch. Eine Frauenstimme. Sie sang. Leise und sanft, wie ein Wiegenlied …
Ah-ah-ah, ah-ah-ah,
byly sobie kotki dwa.
A-a-a, kotki dwa,
szarobure, szarobure obydwa.
Ah-ah-ah, ah-ah-ah,
Es waren einmal zwei kleine Kätzchen.
Ah-ah-ah, zwei kleine Kätzchen,
beide gräulich braun.
Ach, pij, kochanie,
jesli gwiazdke z nieba chcesz-dostaniesz.
Wszystkie dzieci, nawet le,
pogrone s we nie,
a ty jedna tylko nie.
Oh, schlafe, mein Schatz.
Wenn du einen Stern vom Himmel willst, dann hole ich ihn dir.
Alle Kinder, auch die bösen,
schlafen tief und fest,
nur nicht du …
Sie sah einen dunklen Raum. Eine geschlossene Tür. Einen schmalen Streifen violettes Licht, der durch ein Gitterfenster hoch oben nahe der Decke fiel. Sie lag auf einem Bett. Und jemand hielt ihre Hand. Kühle Haut. Weich. Es war ein schönes Gefühl. Eine andere Hand strich ihr das Haar aus der Stirn …
Ach, pij, bo wlanie
ksiyc ziewa i za chwil zanie.
A gdy rano przyjdzie wit
ksizycowi bdzie wstyd,
ze on zasnl, a nie ty.
Oh, schlafe, denn der Mond gähnt und ihm fallen bald die Augen zu.
Und wenn der Morgen kommt,
wird er sich sehr schämen, weil er eingeschlafen ist und nicht du …