KAPITEL
19
Auf dem Weg zurück zum Polizeirevier spielte Maddocks die Aufzeichnung von Sophia Tarasovs Befragung noch einmal ab. Holgersen hörte zu und mühte sich dabei ab, einen Nikotinkaugummi aus dem Blister zu nesteln. Sobald er es geschafft hatte, schob er ihn sich in den Mund und sagte: »Wladiwostok also, hm? Puh, bist du sicher, dass ich hier drin nicht rauchen kann, Boss?«
»Hörst du irgendwann auf, mich das zu fragen?«
Er grinste um den grünen Kaugummi zwischen seinen Zähnen herum. »Hört es irgendwann auf, dich zu ärgern?«
»Was weißt du über Wladiwostok?«
»Liegt ungefähr achtzig Kilometer nördlich der nordkoreanischen Grenze – ein Knotenpunkt für japanische Gebrauchtwagen. Und für russische Königskrabben, die meisten davon gewildert und über Südkorea in die USA verkauft.«
Maddocks warf Holgersen einen schnellen, scharfen Blick zu.
»Was’n? Gott, du bist genau wie Pallorino. Denkst du, ich hab keine Ahnung? Ein paar Sachen weiß ich auch, okay? Ich interessiere mich für so was.«
Maddocks musterte ihn noch einen Moment, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der nassen Straße und dem Verkehr. »Nur weiter.«
»Außerdem kenne ich solche Tattoos, wie Tarasov sie beschreibt – eine hellblaue Krabbe. Gehört zu einer Gruppe der Krabbenmafia. Ruskies.«
»Krabbenmafia? Das gibt es?«
»Klar gibt’s das. Weiß jeder.«
»Ich nicht.«
Holgersen zuckte mit den Schultern. »Jeder, der sich für die Seafood-Industrie interessiert oder darin investiert, kennt die. Ich komm aus einer Fischerfamilie – bei uns kennen die alle. Mein Urgroßpapa hat gegen die Ruskies gekämpft, in der Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg, als die Krauts den hohen Norden Norwegens besetzt hatten. Kapierst du?« Er formte die Hände zu Waagschalen, die er auszubalancieren schien. »Fischerei, Kriminelle. Ruskies. Wie schon gesagt, ich interessier mich für so was – is irgendwie Teil meiner Geschichte.«
Wieder warf Maddocks ihm einen Blick zu. »Dein Urgroßvater war also Norweger?«
»Jep.«
»Das erklärt zumindest den Namen Kjel Holgersen.«
»Jep.« Holgersen wandte sich ab, blickte aus dem regenstreifigen Fenster und trommelte mit den Fingern auf seinem knochigen Knie herum. »Mein Opa und mein Pops kamen beide direkt aus Norwegen. Sie sind nach Kanada rübergekommen, nachdem meine Großmutter gestorben ist. Sie hatten Verwandte in einem norwegischen Fischerdorf, ganz oben an der Nordküste, oberhalb von Bella, kurz vor der Grenze zu Alaska. Wollten neu anfangen und so. Ich erinnere mich an meinen Opa, da war ich noch klein. Er hat uns immer Geschichten
über die Ruskies erzählt, oben bei Lappland – schätze ma, deswegen interessiert es mich. Fischerei. Ruskies.«
»Wer ist ›uns‹?«
»Was?«
»Du hast gesagt: ›Er hat uns immer Geschichten erzählt.‹«
»Oh … nee, nur mir eigentlich«, sagte er rasch. »Und meinem Pops. Die Moms hat das nicht so richtig spannend gefunden.«
Maddocks nahm eine kaum wahrnehmbare Veränderung in Holgersens Ton und Körpersprache wahr – er hatte sich in die Karten schauen lassen und versuchte nun, es zu vertuschen. Das weckte Maddocks’ Neugier – wenn man das Motiv verstand, dann verstand man auch den Menschen. »Da kommst du also her, nördlich von Bella?«, bohrte er nach.
Sein Partner ließ das Fenster hinunter, ließ einen plötzlichen Schwall kalter Luft herein, spuckte seinen Kaugummi auf die Straße und schloss das Fenster dann wieder. Ein Ablenkungsmanöver.
»Ja, Wladiwostok also«, fuhr er fort, als hätte es den kurzen persönlichen Austausch nie gegeben. »Wenn man nach Wladiwostok geht und nach gewilderten Krabben fragt, kann man genauso gut in Kolumbien nach Kokain fragen. Dann fackeln sie dein Haus ab oder köpfen dich oder knallen dich in irgendeiner dunklen Gasse ab. Da sind diese verlassenen und illegalen Piratenboote im Hafen. Manche davon gehören zur grauen Fischerflotte – die haben gefälschte Papiere und den ganzen Scheiß, der von den sowjetischen Behörden anerkannt wurde, oder die Ruskiecops sehen und hören nix, wenn sie dafür einen guten Wodka und ein paar Prostituierte kriegen. Aber die schwarze Flotte – tja, das sind mal echte Piraten. Die Crewmitglieder kommen von überall her – Indonesien, China, Russland, dem Sudan. Die schwarzen Schiffe sind in Kambodscha oder Somalia registriert. Aber eigentlich landen
die Ausbeuten der grauen und der schwarzen Flotte in denselben Kanälen. Lebende Krabben, aus dem Japanischen Meer gezogen, kommen von einem Fischerboot auf ein legales Frachtschiff und werden dann nach Südkorea gebracht.«
Wieder kramte er in seiner Tasche nach einem Kaugummi. Der Typ musste immer an irgendwas herumfummeln. Es schien körperlich unmöglich für ihn zu sein, stillzuhalten. Holgersen fluchte, als der grüne Kaugummi aus der Verpackung fluppte und auf dem Boden landete. Er beugte sich um seinen Anschnallgurt herum und tastete im Fußraum danach.
»Hah! Mistdinger, diese Packungen.« Er wischte mit dem Daumen über den Kaugummi und steckte ihn sich dann in den Mund.
»Willst du damit das sagen, was ich glaube?«, hakte Maddocks nach. »Dass die Barcode-Mädchen auf derselben Route transportiert worden sind wie die gewilderten Krabben? Dass man sie zusammen mit Seafood-Importen geschmuggelt hat?«
»Klingt so. Nach dem, was Tarasov dir erzählt hat. Vor einer Weile hat es eine Razzia in Seattle gegeben – bei einem US-Seafood-Händler hat man ein ganzes Warenlager voller Königskrabben gefunden, die der Markierung nach aus China kamen. Aber es waren illegale russische Krabben, die durch Südkorea nach China gebracht wurden, dort hat man sie dann umgepackt und ihnen einen chinesischen Stempel aufgedrückt. Der Händler hat behauptet, er hätte keine Ahnung, woher die Krabben gekommen waren, und die Staatsanwaltschaft hatte nichts gegen ihn in der Hand. Die ganze Sache wurde fallen gelassen. So was passiert ständig.« Er kratzte sich am Kopf und lachte leise. »Krabbenwäsche. In China.«
Maddocks sagte nichts. Seine Gedanken rasten. Das passte tatsächlich zu der Route, die Tarasov beschrieben hatte. Er hielt an einer roten Ampel.
»Wie Geldwäsche«, erklärte Holgersen. »Kapiert?«
»Ja, Herrgott noch mal, ich hab’s verstanden. Wir müssen das Krabbentattoo, das Hansen für uns gezeichnet hat, durch die Datenbanken für Gangsymbole jagen.«
»Klar. Ich würde mal sagen, wenn wir uns anschauen, wie die Krabben- oder Seafood-Importe in den letzten Jahren aus China oder Südkorea in den Hafen von Vancouver gekommen sind, dann haben wir unser Schiff. Aber das zurückzuverfolgen – tja, das wird eine ganz große internationale Sache, und diese Ruskies haben tonnenweise falsche Dokumente von nicht existierenden Regierungsbehörden. Die haben nicht mal eine Definition für organisiertes Verbrechen, so verwoben, wie das mit der Regierung ist.«
»Arbeitet dein Vater immer noch in der Fischereiindustrie?«, wollte Maddocks wissen und kam so darauf zurück, was sein Partner vorhin vermutlich nicht hatte sagen wollen.
Holgersen versetzte ihm einen prüfenden Blick. »Nein«, antwortete er langsam. »Du weißt ja, wie das mit diesen alten ressourcengestützten Gemeinschaften ist – die Fischereiindustrie in meinem Heimatstädtchen hatte unter den internationalen Fischereipraktiken und den Lachsfarmen zu leiden. Mein Pops hat seinen Job verloren. Der ganze Ort ist einfach verreckt. Alle, echt alle sind abgehauen – ist jetzt wie in einer Geisterstadt da oben.«
»Wo ist dein Vater jetzt – und der Rest deiner Familie?«
Holgersen zuckte abwehrend mit den Schultern und wechselte das Thema. »Da und dort. Und weißt du was? Tarasov hat uns gerade Sabbonnier und Camus auf dem Silbertablett serviert. Wenn sie aussagt, dass Camus und Sabbonnier wissen, wo sich dieser Verwahrungsort befindet, und wenn sie sich die sechs Mädchen dort von diesem großen Maskenmann besorgt haben, dann geht’s mit der Zuhälterschlampe und ihrem Bodyguard ja
so was von aaabwärts, Mann.« Er machte eine dazu passende Handbewegung, wie ein sinkendes Flugzeug.
Maddocks bog auf den Parkplatz des Polizeireviers ein. »Sie wird nicht aussagen. Nicht vor Gericht. Aber wir haben das Ergebnis der Befragung. Das können wir verwenden.«
»Wie meinst’n das?«
»Ich habe ihr versprochen, dass sie nicht aussagen muss.« Er stellte den Wagen ab und sah auf die Uhr. Fast halb elf vormittags.
Würde Angie in den sauren Apfel beißen und um elf hier auftauchen, um ihren Dienst anzutreten?
Der Gedanke machte ihn nervös. Aber jetzt musste er Flint erst einmal von dem Durchbruch mit Tarasov berichten. Holgersens Theorie über die Krabben war ebenfalls einen Versuchsballon wert. Falls da etwas dran war und wenn man Camus’ Andeutungen über die russische Verbindung zu den Hells Angels bedachte, dann würde dieser Fall nicht lange in den Händen des MVPD bleiben. Aber ganz egal, welche Behörde Anspruch darauf erhob, Maddocks war entschlossen, weiter an den Ermittlungen beteiligt zu bleiben. Für die Mädchen, die allesamt jünger waren als seine Tochter.
Für Sophia Tarasov, die so verdammt mutig war.
Und ja, für Ginny. Vielleicht war das nicht angebracht, aber Maddocks brauchte Gerechtigkeit, Vergeltung für sein Kind. Für sein Empfinden würde das die Waagschalen wieder ausbalancieren – er schuldete es seiner Tochter, nachdem sie der Täuferfall fast das Leben gekostet hatte. Der Täuferfall hatte sie hierhergeführt. Er würde es zu Ende bringen.
Was ihn daran erinnerte, dass er Ginny an diesem Nachmittag zu ihrer Sitzung bringen musste, und er hatte ihr danach ein Abendessen versprochen. Er stieg, gefolgt von Holgersen, aus dem Auto und aktivierte per Knopfdruck die Zentralverriegelung. Dann klappte er den Kragen gegen den
heranwehenden Regen hoch und steuerte das Polizeigebäude an. Sein Partner hielt mit seinen langen Beinen mühelos Schritt.
»Wenn die anderen Barcode-Mädels auch zu reden anfangen, dann kriegen wir Tarasov irgendwann vielleicht doch dazu, vor Gericht auszusagen.«
»Ja. Warum jagst du nicht schon mal das Krabbentattoo durch die Datenbanken und schaust, ob es sich als Symbol der russischen Krabbenmafia identifizieren lässt? Und sieh zu, was du über mögliche Verbindungen nach Wladiwostok rauskriegen kannst. Ich komme zu dir, sobald ich Flint auf den neuesten Stand gebracht habe.«
Als Maddocks das Revier betrat, ließ sich Holgersen zurückfallen und stellte sich unter das Vordach, um sich eine Zigarette anzuzünden. Wieder einmal kam Maddocks der Gedanke, dass ihn der merkwürdige Detective musterte und beurteilte, und er setzte seine Sprache und seine Nikotingewohnheit als Nebelwand ein. Als Puffer vor dem, was auch immer er zu verbergen hatte.