KAPITEL 23
»Da, das ist es«, sagte Holgersen und rollte mit dem Stuhl heran, um Maddocks das vergrößerte Bild einer hellblauen Krabbentätowierung auf seinem Computermonitor zu zeigen. »Ein bekanntes Symbol der russischen Krabbenindustrie, die historisch mit den Unternehmungen des organisierten Verbrechens zu tun hat. Die würden alles tun, und das mit jedem, um an Profit ranzukommen. Knallharte Jungs – die schnippeln einem Körperteile ab, nur um damit was klarzustellen. Diese Truppe kommt ursprünglich aus Wladiwostok, hat sich aber durch die sogenannten Suka-Kriege in Stalins Gulags entwickelt. Steht jedenfalls so in diesem Polizeibericht.« Er nickte zum Computerbildschirm hinüber.
»Suka-Kriege?«, fragte Maddocks nach, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Holgersen, um sich das Tattoo näher anzusehen.
»Ja, oder auch ›Schlampen-Kriege‹. Angeblich haben sich damals einflussreiche Kriminelle in den sowjetischen Arbeitslagern hochgearbeitet und sind ›Diebe im Gesetz‹ geworden. Aber als dann der gute alte Hitler in die Sowjetunion eingefallen ist, hat Stalin verzweifelt nach weiterem Kanonenfutter für den Krieg gesucht, also hat er den Häftlingen in den Gefängnissen und Gulags angeboten, dass man sie freilässt, wenn sie sich dafür seiner Armee anschließen.« Holgersen warf sich einen Kaugummi in den Mund, kaute und sprach darum herum weiter: »Diese Diebe im Gesetz haben ihren Status durch ein System aus Tattoos und Symbolen gezeigt, die auch heute noch von russischen Gangstern verwendet werden.«
Maddocks scrollte zu einer Abbildung eines weiteren Tattoos. Dieselbe Größe. Dieselben Details. Dieses stammte von einem Gefängnisinsassen aus Montreal, der einsaß, weil er Brandbomben auf einen Friseursalon geschleudert hatte, dessen Besitzerin die Ehefrau der rivalisierenden irischen Mafia in Quebec war.
»Die passen zu denen, die Sophia Tarasov beschrieben hat«, bestätigte Maddocks.
»War schon ein Fuchs, dieser Stalin«, sagte Holgersen und nickte dem Bildschirm zu. »Da steht, dass er die Knastis dann, nachdem der Krieg vorbei war, einfach in die Gulags zurückgesteckt hat. Wham bam, vielen Dank auch. Also haben diejenigen, die sich geweigert hatten, für Stalin zu kämpfen, und lieber im Gefängnis geblieben sind, die zurückgekehrten Verräter als Suki, also als Schlampen, bezeichnet, und diese Schlampen sind schnurstracks runter auf den letzten Platz der Gefängnishierarchie gerutscht. Also haben sich die Schlampen eigene Machtpositionen gesichert, indem sie mit den Gefängnisbehörden gemeinsame Sache gemacht haben. So haben sie sich ein hübsches, warmes Plätzchen gesichert, und die bösen Jungs, die es noch ehrlich mit dem Verbrecherdasein gemeint haben, sind noch saurer geworden. Das alles hat zwischen 1945 und 1953 zu einer Reihe von Suka-Kriegen geführt, bei denen täglich ein ganzer Haufen Häftlinge ums Leben gekommen ist. Die Gefängniswärter haben die Gewalt noch angestachelt, weil sie so Verbrecher losgeworden sind und Gefängniszellen leer bekommen haben.« Er spuckte seinen Kaugummi in den Mülleimer.
Maddocks warf ihm einen raschen Blick zu.
»Überdosis Nikotin«, erklärte er, deutete auf seinen Mund und verzog das Gesicht.
»Weiter.«
»Als Stalin dann endlich den Löffel abgegeben hat, wurden etwa acht Millionen Gulaginsassen auf einmal freigelassen. Die Überlebenden der Suka-Kriege haben sich zu einer ganz neuen Art von Kriminellen entwickelt, die nicht mehr an den Ehrenkodex der Diebe gebunden waren – ein Haufen Typen, die sich selbst am nächsten waren und mit der Regierung gemeinsame Sache gemacht haben, wenn es ihnen in den Kram gepasst hat. Die Schwarzmärkte haben floriert. Dann, als die Sowjetunion in den Siebzigern und Achtzigern nach und nach zusammengebrochen ist, haben die Vereinigten Staaten ihre Immigrationspolitik gelockert. Diese Typen haben Russland verlassen und sind nach Israel und in die Vereinigten Staaten ausgewandert – viele sind im Süden Brooklyns wiederaufgetaucht. Brighton Beach – Little Odessa. Von dort aus hat sich das organisierte russische Verbrechen in den Vereinigten Staaten ausgebreitet.«
»Gute Arbeit«, sagte Maddocks, blickte auf die Uhr und stand auf. Er griff nach seiner Jacke. »Flint hat die Einheit für Bandenkriminalität der RCMP im Lower Mainland kontaktiert und ihnen von unseren Barcodes erzählt. Sie haben ihn sofort an einen leitenden Ermittler einer abteilungsübergreifenden Task Force weitergeleitet …«
»Was für eine Task Force?«
»Das hat uns der Ermittler nicht verraten. Offenbar war er sehr vorsichtig. Sie schicken zwei der Mitglieder auf die Insel, damit wir uns morgen Nachmittag persönlich mit ihnen treffen und sehen können, was wir haben.«
Holgersen neigte den Kopf. »Was hat Flint ihnen gesagt?«
»Nur dass wir sechs mit einem Barcode versehene Frauen in unserer Obhut haben, die möglicherweise mithilfe der Hells Angels von Prag aus durch den Port of Vancouver geschleust worden sind. Diese Task Force hat Interesse an einer Kooperation.«
»Kooperation? Du meinst, dass die uns dann auch verraten, woran sie gerade arbeiten? Oder holen sie sich einfach nur das, was wir haben?«
Maddocks zog seinen Mantel über. »Das sehen wir morgen.«
»Jo, langsam. Ich weiß, wie das läuft – das sind Mounties, Feds. Die arbeiten in der Sache sicher schon mit Interpol zusammen, vielleicht auch mit dem FBI, weil die Amanda Rose immerhin an der US-Küste längsgeschippert ist. Und wir sind bloß so ’ne lütte Metro Force. Die ziehen uns den Fall unterm Arsch weg und das war’s dann.«
»Lass uns für heute Schluss machen, okay? Darum kümmern wir uns morgen.« Maddocks schnippte mit den Fingern und rief Jack-O damit aus seinem Körbchen unter dem Schreibtisch. Dann nahm er den Hund auf den Arm.
Holgersen griff nach seiner eigenen Jacke. »Wie wär’s noch mit ’nem Burger und ’nem Bier im Pig?«
»Ich bin mit meiner Tochter verabredet. Wir sehen uns morgen früh.«
Während Maddocks den Raum verließ, stand Holgersen reglos da und beobachtete ihn. Maddocks stieß die Tür auf und fragte sich mal wieder, was diesen Kerl wohl antrieb und wie weit man ihm trauen konnte. Irgendetwas an dem Detective fühlte sich immer irgendwie schief an, und das beunruhigte Maddocks.