KAPITEL 24
Kjel Holgersen stieß die Doppeltür zum Flying Pig Bar and Grill auf, einer Kneipe in direkter Nähe zum MVPD, deren Name eine augenzwinkernde Anspielung auf das Polizistenvolk war, das hier ein- und ausging. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und wartete, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es war gestopft voll hier drin. Colm McGregor, der bullige schottische Besitzer, stand wie fast immer selbst hinter der Bar. Holgersen entdeckte Leos weißen Haarschopf. Der Detective saß tief über sein Glas gebeugt an der Bar aus gehämmertem Kupfer und hatte das Ohr dem Typen auf dem Barhocker neben ihm zugewandt. Als Kjel näher kam, erkannte er den Mann hinter Leo. Kjel war überrascht – er hatte nicht gewusst, dass Leo mit dem forensischen Psychologen Dr. Reinhold Grablowski auf freundschaftlichem Fuß stand.
Kjel näherte sich den beiden und sah, dass Leo dem Psychologen ein DIN A4 großes Blatt zeigte, auf dem offenbar etwas abgedruckt war. Leo faltete den Druck erst einmal und dann noch einmal zusammen und steckte ihn dann in die Brusttasche. Grablowski klopfte Leo auf die Schulter, stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Heya, Doc«, rief Kjel. »Gehen Sie nicht meinetwegen.«
Ein tiefschwarzer Blick durch eine silberne John-Lennon-Brille richtete sich auf ihn. »Detective«, sagte Grablowski mit leichtem deutschem Akzent. Er schenkte Kjel ein raubtierhaftes Lächeln, das die schwarzen Augen jedoch nicht erreichte. »Ich bin spät dran. Genießen Sie den Abend.« Damit schob er sich an Kjel vorbei.
Kjel setzte sich auf den nun verlassenen Barhocker neben Leo. »Wusste gar nicht, dass du und Profiler Grablowski so dicke seid.«
Leo kippte seinen letzten Schluck Whiskey und winkte McGregor, damit dieser ihm nachschenkte. Der Blick des Detectives wirkte unscharf. Er musste heute schon früh mit dem Trinken angefangen haben.
»Ich hatte da was Interessantes für ihn.«
»Was denn?«
Der altgediente Cop sah ihn gereizt an. Er schien zu überlegen, ob er es ihm sagen sollte, was Kjel nur noch neugieriger machte. Er änderte die Taktik und beschloss, später noch einmal darauf zurückzukommen, wenn die Drinks Leos Zunge noch etwas weiter gelockert hatten.
»Deine Hose hast du also wieder sauber gekriegt?«
»Blöde Schlampe, diese Pallorino«, brummte Leo. »Ich hatte noch eine Ersatzhose im Spind.«
McGregor stellte ein frisches Glas Whiskey mit Eis vor Leo ab. Kjel bat ihn um ein Heineken und einen vegetarischen Burger mit Zwiebelringen.
Leo schnappte sich das Glas, nahm einen tiefen Schluck und schwieg. »Wie läuft’s mit der Barcode-Ermittlung?«, fragte er schließlich.
McGregor brachte das Heineken. Kjel trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche. »Ah – geht doch nichts über den ersten Schluck, was?«
Leo musterte ihn.
»Läuft ganz gut«, antwortete Kjel.
»Nur ganz gut?«
»Ja.« Kjel trank noch einen Schluck Bier.
Leo fluchte. »Du bist wenigstens noch dabei. Wenn dein Kumpel-Boss mich nicht auf diesen Obdachlosenmord angesetzt hätte, wäre ich auch noch dran. Schätze mal, Maddocks wollte mich raushaben, weil er es mit Pallorino treibt und weil die was gegen mich hat.«
Kjel hob eine Braue. »Sogar Obdachlose brauchen Gerechtigkeit – irgendjemand muss es machen.«
»Scheiß Pallorino«, fluchte Leo wieder, dann warf er einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. »Willst du was Gutes hören?«
»Über Pallorino?«
»Ja, über Pallorino.«
»Wenn’s mich in Schwierigkeiten bringt, dann will ich’s vielleicht lieber nicht wissen«, antwortete Kjel, die Flasche am Mund. »Ich hab meinen Kaffee lieber in der Tasse, nich auf der Hose.« Er grinste und trank.
»Oder vielleicht bist du auch einfach ein Arschkriecher, hm? Willst beim neuen Boss gut dastehen.«
»Ach, leck mich. Sag schon. Was is es?« Er wusste, dass Leo früher oder später damit rausrücken würde.
»Ich hab in dem kleinen Überwachungszimmer neben Verhörraum B gesessen, und da kommt auf einmal Pallorino mit einem RCMP Officer und mit dieser Frau vom Coroner’s Office in Burnaby reinmarschiert.«
»Sie is in den Verhörraum gekommen?«
»Ja. Und die Audioüberwachung war eingeschaltet.«
Kjel hielt Leos Blick. »Die Audioüberwachung war … einfach … an?«
»Ja. Ja, irgendjemand hat sie angelassen.«
Allmählich wurde er misstrauisch. »Und was hast du so ganz zufällig im Überwachungsraum gemacht?«
Leo griff in seine Jackentasche und zog ein flaches Silberfläschchen heraus.
»Willst du mich verarschen? Hey, Mann, Leo – willst du noch kurz vor der Rente mit ’nem Arschtritt gefeuert werden oder was? Warum erzählst du mir das? Ich will nicht wissen, dass du bei der Arbeit becherst, Mann. Scheiße.«
»Ich erzähle dir das, damit du nicht denkst, dass ich ihr nachgeschlichen bin, um sie auszuspionieren.«
Kjel musterte den alten Detective. Da war noch mehr. Ganz sicher. Leo gab ihm diese Information als eine Art Test.
»Und?«, fragte Kjel leise. »Was hast du gehört?«
»Pallorinos DNS passt zu der von dem kleinen Fuß, den sie bei Tsawwassen gefunden haben.«
Kjel hielt inne, die Flasche auf halbem Weg zum Mund. »Was?«
»Ja, echt. Der Mountie und die Frau vom Coroner-Büro sind vorbeigekommen, um ihr zu sagen, dass sie einen Treffer haben und dass sie zum Beweis noch eine Probe von Pallorino haben wollen. Es läuft eine Ermittlung wegen diesem Fuß, und Pallorino ist Teil der Ermittlung.«
»Du willst mich doch verarschen?«
»Warum sollte ich?«
»Pallorino hat aber noch zwei Füße – echte Füße. Ich meine, ich hab ihre Füße jetzt zwar noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber …«
»Ein Zwilling vielleicht«, fuhr Leo fort. »Pallorino ist adoptiert. Sie wurde im Jahr 1986 in die Babyklappe beim Saint Peter’s Hospital in Vancouver gelegt, da war sie vier. Der Mountie hat sie darüber befragt. Ich hab’s später nachgelesen.« Er zog das Stück Papier wieder aus der Brusttasche – das Papier, das er zuvor Grablowski gezeigt hatte. Er faltete es auseinander und legte es auf den Tresen. »Hab ich aus dem Internet ausgedruckt.«
Kjel zog es zu sich heran und las den Artikel. Eine düstere Vorahnung überkam ihn. Er sah auf und begegnete Leos Blick. »Wie lange hast du denn im Überwachungsraum gesessen, bis du das alles gehört hast?«
»Lang genug.«
»Und du hast das da Grablowski gezeigt?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Warum denn, Herrgott noch mal?«
»Pallorino hat ihm den Buchvertrag versaut, weil sie den Täufer umgelegt hat. Der Doc musste die dicke Vorauszahlung zurückgeben, weil persönliche Interviews mit Spencer Addams Teil des Vertrags waren. Er wollte direkt mit dem Täufer darüber sprechen, wie er auf dem schwimmenden Bordell um die Welt gesegelt ist und dabei all die Frauen vergewaltigt hat. Und darüber, wie er aufgewachsen ist. Über seine Mutter, seinen Vater, dieses ganze abgefahrene Religionszeug. Also dachte ich, Grablowski hätte so als Ausgleich gern den Vortritt bei der Lösung des geheimnisvollen Zwillingsfalls. Eine von ihnen wurde mit aufgeschlitztem Mund während einer Schießerei an Heiligabend in die Engelskrippe gestopft, von der anderen findet man über dreißig Jahre später einen Fuß, der im Meer herumgetrieben ist.« Er nahm noch einen Schluck Whiskey und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und das Engelskrippenkind wird später Polizistin und arbeitet bei den Sexualverbrechen? Und dann knallt sie einen Serientäter ab? Sie erinnert sich an nichts, bis – wumm – dieser Fuß auftaucht? Sag mir, dass das nicht buchreif ist. Und wer könnte das besser schreiben als Grablowski, der als Profiler an dem Fall des Killers mitgearbeitet hat, den Pallorino dann später erschossen hat?«
»Und du hast es auf eine Beteiligung an dem Buch-Deal abgesehen?«
»Das Geld brauche ich nicht. Aber, hey, wenn ich es schon unter die Nase gehalten kriege, dann sage ich bestimmt nicht Nein.« Er leerte sein Glas und stellte es etwas zu fest wieder auf dem Tresen ab. »Pallorino ist jedenfalls das Krippenkind, und sobald das bekannt wird, hat sie sowieso keine Kontrolle mehr über die Geschichte. Da kann man Grablowski genauso gut einen kleinen Vorsprung geben.«