KAPITEL
26
Freitag, 5. Januar
»Doktor.« Die Krankenschwester nickt dem Mann zu, als er am Empfangsbereich vorübergeht. Er trägt einen weißen Arztkittel mit einem Namenschild an der Brusttasche. Um seinen Hals hängt ein Stethoskop.
Von der russischen Dolmetscherin weiß er, wo sich die Mädchen befinden, in welchem Bereich, in welchem Raum. Er weiß, wie man sich Zutritt verschafft. Er erreicht die Tür und nickt dem uniformierten Polizisten, der auf die Mädchen aufpassen soll, freundlich zu. Kurz erscheint ein fragender Ausdruck auf dem Gesicht des Polizisten, der jedoch von seinem raschen Lächeln und dem entschiedenen Griff an die Türklinke vertrieben wird. Selbstvertrauen. Das ist die Kunst des Betrügers. Es ist 00:49 Uhr, als er den Raum betritt. Vielleicht ist der Officer deshalb müde und unaufmerksam.
Ein kleines Nachtlicht verbreitet hinten im Raum einen schwachen Schein. Offenbar haben die Mädchen Angst im Dunkeln. Aber der Schein ist nicht hell genug, um ihm zu zeigen, was er sehen muss, also zieht er seine kleine Maglite aus der Tasche. Er geht von einem Bett zum nächsten. Eine nach der anderen überprüft er die Patientenkarten an den Bettenden. Ein Mädchen regt sich, als er vorbeigeht. Er lächelt ihr onkelhaft
zu und wartet. Sie dreht sich auf die Seite und schläft weiter. Vermutlich hat man ihnen Medikamente verabreicht, damit sie besser schlafen.
Er findet die Karte, nach der er gesucht hat. Seine Zielperson schläft auf dem Rücken, die Züge entspannt und ruhig unter dem Mantel des Vergessens. Hübsches Ding. Sie muss einen Spitzenpreis erzielt haben. Von der Dolmetscherin weiß er, dass sie es war, die mit dem Leiter der Ermittlung James Maddocks gesprochen hat. Durch sie wird er nun eine Nachricht von seinem Boss übermitteln. Er schlüpft aus seinem Labormantel, legt ihn ordentlich auf einen Stuhl neben dem Bett und zieht sich seine Latexhandschuhe über. Er stellt sich oben ans Bett neben das Kissen, beugt sich hinab und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Vorsichtig versucht er, sie zu wecken. »Sophia«, flüstert er ihr ins Ohr.
Sie seufzt leise, regt sich. Er versucht es noch einmal. »Sophia.«
Sie reißt die Augen auf. Sie sieht ihn. Panik verzerrt ihr Gesicht. Er drückt ihr die Hand hart auf den Mund. »Schhh«, flüstert er und hält seine Maglite hoch wie einen Zeigefinger. Dann sagt er auf Russisch: »Bleib ganz still. Kein Laut, oder ich töte die anderen im Schlaf. Hast du verstanden?«
Ihr Blick fliegt zu den jüngeren Mädchen, man sieht das Weiß um ihre Iris. Sie will die anderen beschützen, begreift er. Das macht es leichter. »Hast du mich verstanden, Sophia?«, wiederholt er auf Russisch, ganz nah an ihrem Ohr.
Sie nickt. Die Panik hat ihre Kampf-oder-Flucht-Reaktion ausgeschaltet. Sie ist betäubt vor Angst. Sie fürchtet um ihr Leben, und das macht sie gefügig. Sie ist gut trainiert. Er nimmt die Maglite zwischen die Zähne, damit er beide Hände benutzen kann. Er holt eine bereits aufgezogene Spritze aus der Brusttasche und nimmt den Schutzdeckel von der Nadel. Dann presst er ihr die Hand aufs Gesicht und drückt ihren
Kopf brutal zur Seite. Sie wehrt und windet sich, sie kämpft darum, unter seiner Handfläche Luft zu bekommen, wodurch die Ader an ihrem Hals deutlich hervortritt. Geschickt sticht er die Nadel hinein und drückt den Kolben der Spritze herunter. Er wartet ein paar Sekunden, bis sie beginnt, sich zu entspannen und zu erschlaffen. Dann lässt er sie los. Ein leises Seufzen dringt durch ihre Lippen.
»Das tut gut, nicht wahr?«, flüstert er und streichelt ihr über die Wange. Ihre Lider sinken herab. Er steckt die Spritze wieder in die Tasche und zieht das Jagdmesser an seinem Gürtel aus der Scheide. Er hat es gründlich geschärft, bevor er hergekommen ist. Allmählich schwindet ihr Bewusstsein, sie treibt davon. Jetzt dauert es nicht mehr lang.
Er drückt ihr die Hand auf die Stirn, damit sie stillhält, dann presst er ihren Kopf fest ins Kissen. Die Maglite noch immer zwischen den Zähnen, leuchtet er auf ihre Lippen. Er schiebt die Finger dazwischen und öffnet ihren Mund weit. Sie beginnt zu würgen, aber er hält ihr den Mund weiter auf. Einen Moment lang erwacht ihr Blick flackernd zum Leben und Angst leuchtet darin auf, aber sie kann sich nicht mehr wehren.
»Du weißt, was mit Mädchen passiert, die reden«, flüstert er.
Dann hebt er das Messer an ihre Lippen.