KAPITEL
27
Angie blieb vor Jacob Anders’ Schreibtisch stehen. Sie hatte keine Zeit, sich hinzusetzen. Es war 8:11 Uhr. Sie hatte es eilig – sie würde zu spät zur Arbeit kommen.
»Es ist alles hier«, sagte Anders und klopfte auf den Karton auf seinem Schreibtisch. »Wir haben sämtliche Blut- und Haarproben genommen, die infrage gekommen sind, und eventuell haben wir in ein paar Tagen einige DNS-Ergebnisse für Sie. Allerdings liefern uns die Spermaflecken möglicherweise keine Ergebnisse mehr. Wir werden es versuchen, aber es wird etwas länger dauern. Es scheint zwei verschiedene Quellen zu geben.«
»Für das Sperma?«
»Ja.«
»Auf der Strickjacke? Zwei Spender?«
»Korrekt.«
Ein Übelkeit erregender, bitterer Geschmack stieg in ihrer Kehle auf, doch dadurch wurde ihre Entschlossenheit nur noch stählerner. Was auch immer an jenem Heiligabend vor über dreißig Jahren geschehen war, sie würde es herausfinden. Sie würde diese beiden Männer finden.
Tot oder lebendig.
Anders musterte ihr Gesicht intensiv, als er sagte: »Es gab auch einen Laborbericht über die Ergebnisse eines Rape Kits. Offenbar hat man die kleine Jane Doe auf Spuren einer Vergewaltigung untersucht.«
Sie holte tief Luft. »Wie lautet das Ergebnis?«
»Kein Beweis für sexuelle Aktivität, allerdings wurden Beweise für eine frühere vaginale Zerrung gefunden.«
Angies Blick flog zum Fenster. Ihr Herz raste und sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie sah auf den stürmischen Ozean. Das bewies gar nichts. Sie hätte sich auch auf irgendeine andere Weise verletzen können. Aber es bedeutete auch nicht, dass es nicht passiert war. Was auch immer in ihrer frühen Kindheit geschehen war, offenbar war es genug gewesen, um ihre Erinnerungen in einem gnädigen Akt der Selbsterhaltung zu löschen. Eine leere Tafel, auf die ihre Adoptiveltern ein ganz neues Leben und eine neue Identität geschrieben hatten.
»Danke«, sagte sie leise.
»Sämtliche Papiere aus dem Karton wurden erfasst, kopiert und digitalisiert. Auch die Beweismittel wurden katalogisiert und fotografisch festgehalten. Das, was von den Proben übrig geblieben ist, wurde in den Karton zurückgelegt.«
»Und die Fingerabdrücke?«, hakte Angie nach, womit sie die blutigen Finger- und Handabdrücke meinte, die draußen vor der Krippenklappe genommen worden waren.
»Ebenfalls digitalisiert.«
Ein Funke Adrenalin wand sich durch den Knoten der Angst. Diese Abdrücke konnte sie nun durch eine Datenbank laufen lassen.
»Das hier ist Ihre Kopie von allem, was wir jetzt gespeichert haben.« Über den Tisch schob Anders ihr einen Memory Stick hin.
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Jacob«, sagte sie, nahm den Stick und steckte ihn in ihre Brusttasche. Dann umfasste sie mit beiden Händen den Karton.
»Warum nimmt die RCMP die Ermittlungen wieder auf?«
Sie hielt inne und begegnete dem Blick seiner Wolfsaugen. Sie hatte ihm von dem Krippenkind erzählt, aber sie war nicht sicher, ob sie irgendjemandem auch von dem DNS-Treffer mit dem angespülten Fuß erzählen wollte. Es konnte sich immer noch als Fehler herausstellen. Sie unterbrach den Blickkontakt und betrachtete die Unterwasseraufzeichnung des Schweinekadavers, der von einer Wolke Seepocken umgeben war. Der Kadaver kam ihr heute größer, runder vor. Aufgedunsener. Ein Taschenkrebs krabbelte wie eine Spinne auf langen, dünnen Beinen über den Meeresboden auf das Schwein zu. Just in diesem Moment kehrte auch der Krake zurück. Aus der oberen rechten Ecke des Monitors glitt er ins Bild. Er stürzte sich auf den Krebs. Eine Sedimentwolke stob auf, und die Seepocken huschten davon. Angie blieb einen Moment reglos stehen, während sie zusah, wie der Krake das Krustentier erstickte und dann begann, es zu fressen. Sie schluckte, und Jacob Anders’ Worte fielen ihr wieder ein.
Verschwiegenheit und Diskretion – beides ist in unserer Branche unerlässlich.
Sie befeuchtete die Lippen und sagte: »Haben Sie in den Nachrichten von dem abgetrennten Kinderfuß gehört, der vor etwa fünf Tagen angespült wurde?«
»Habe ich.«
»Die DNS dieses Fußes stimmt offenbar mit meiner überein. Der VPD Detective meines Krippenfalls hat mein DNS-Profil an die Identification and Disaster Response Unit des Coroner’s Office weitergegeben, bevor er in Rente gegangen ist. Die beiden Proben passen zusammen.«
Kurzes Schweigen folgte darauf. Als Anders weitersprach, hatte sich sein Tonfall subtil verändert. »Das ist interessant. Ich nehme an, dass ein weiterer DNS-Test den Treffer bestätigen soll?«
»Korrekt.«
»Wird es dadurch Probleme geben?« Er nickte zu dem Karton. »Mit der RCMP.«
»Nicht für Sie. Die Beweise haben mir gehört. Ich habe sie einem privaten Labor zu Testzwecken übergeben. Nun, da man mich darum gebeten hat, übergebe ich das, was nicht benutzt wurde, an die RCMP.« Sie hob den Karton an und verzog leicht das Gesicht, da ihr verletzter Arm schmerzte. »Vielen Dank noch einmal – ich muss zur Arbeit.«
»Wir melden uns.«
Doch als Angie an der Tür war, drehte sie sich noch einmal um. »Die DNS von eineiigen Zwillingen – sie ist nicht absolut identisch, oder?«
»Eineiige Zwillinge entstammen demselben befruchteten Ei, sie teilen sich also dieselbe DNS. Was es unmöglich macht, die DNS von eineiigen Zwillingen mithilfe einer Standard-STR-Analyse zu unterscheiden. Während der Entwicklung der Zwillingsembryos im Uterus teilen sich die Zellen immer weiter, und die Replikation der DNS jedes Zwillings ist nicht perfekt. Kleine Fehler oder Variationen tauchen auf, sodass sich die DNS der Zwillinge bei der Geburt geringfügig voneinander unterscheidet. Und im Laufe des Lebens werden die Zwillinge unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt, was wiederum zu Veränderungen in der DNS-Replikation führt. Diese Variationen können mithilfe einer neueren DNS-Technik, dem Einzelnukleotid-Polymorphismus, ausfindig gemacht werden, da sie dem Untersuchenden eine komplette DNS-Sequenz des untersuchten Stranges bietet.«
»Wenn man also die Veränderungen aufgrund von Umwelteinflüssen bedenkt, dann könnte sich meine eigene jetzige DNS möglicherweise von der DNS meiner Kindheit unterscheiden?«
»Theoretisch …« Das Telefon auf seinem Schreibtisch begann zu klingeln. »Da muss ich rangehen«, sagte er und griff nach dem Hörer. »Ich rufe Sie an, sobald die ersten Ergebnisse reinkommen.«
»Vielen Dank noch mal.«
Angie verließ das Büro und eilte zum Ausgang. Mit dem Karton in den Händen stieß sie die Tür auf. Wind und Regen trafen sie mit voller Wucht, als sie in die kalte Luft hinaustrat. Sie schirmte den Karton mit dem Körper ab und steuerte ihren Mietwagen an. Sobald sie darin saß, ließ sie den Motor an und drückte sofort aufs Gas. Ihr Puls raste. Selbst ohne Verkehr würde sie nun zu spät zur Arbeit kommen.
Vedder und Co. würde das nicht gefallen, aber sie brauchte ihren Job jetzt unbedingt, damit sie die nötigen Tests durchführen konnte. Sobald sie heute einen Moment Zeit fand, würde sie die Finger- und Handabdrücke durchs System laufen lassen.