KAPITEL
28
»Was?« Maddocks blinzelte ungläubig, als die Person am anderen Ende der Telefonleitung die Nachricht wiederholte. Schließlich legte er auf und sah Holgersen durchdringend an. »Sie ist tot.« Er fühlte sich taub. »Sophia Tarasov ist tot. Das Krankenhauspersonal hat sie um 7:30 Uhr leblos in einer Blutlache in ihrem Bett gefunden. Der Coroner und der Pathologe sind schon unterwegs ins Krankenhaus.«
Holgersen riss die Augen auf und fuhr hoch. »Was?«
Maddocks sprang auf, der Schock pulsierte durch seinen Körper. Er schnappte sich seinen Mantel und streifte ihn über. »Jag ein Team da raus. Sofort. Dann treffen wir uns auf dem Parkplatz.«
»Was … was ist mit den anderen?« Auch Holgersen stand auf.
»Vollkommen verängstigt. Sie sagen kein Wort, aber sie leben.« Maddocks zog seinen alten Hund unter dem Schreibtisch hervor. »Organisier auch die Dolmetscherin«, rief er über die Schulter zurück, während er schon auf die Tür zueilte. »Sag ihr, sie soll sich dort mit uns treffen. Wir wissen, dass mindestens eines der anderen Mädchen Russisch spricht.« Mit Jack-O unter dem Arm lief er auf den Fahrstuhl zu. Seine Gedanken rasten und der Schweiß brach ihm aus. Er drückte auf den Rufknopf,
und während er wartete, wählte er die Nummer von einem der Officer, die als Erste beim Tatort gewesen waren.
»Constable Dutton«, meldete sich eine Männerstimme.
»Hier Sergeant Maddocks«, sagte er, als die Fahrstuhltüren aufglitten. Er drückte den Knopf fürs Erdgeschoss »Ich leite diese Ermittlung. Der Polizist, der das Zimmer der Mädchen letzte Nacht bewachen sollte … Ich will seinen Namen und ich will wissen, wann genau er Dienst hatte. Wenn er noch da ist, dann behalten Sie ihn dort. Wenn nicht, dann schaffen Sie ihn her. Falls ihn ein anderer Polizist bei seiner Schicht vergangene Nacht vertreten hat, dann will ich diesen Officer auch am Tatort haben.«
»Verstanden, Sir.«
Maddocks verließ den Fahrstuhl und eilte zu Flints Büro. Der Schock verwandelte sich in weißglühenden Zorn. Er klopfte an die Tür und öffnete sie.
Flint sah scharf von seinem Schreibtisch auf, und sein Blick landete auf dem Hund unter Maddocks’ Arm.
»Sophia Tarasov«, sagte Maddocks zur Begrüßung. »Man hat sie heute Morgen tot in einer Blutlache in ihrem Krankenhausbett gefunden. Niemand hat irgendwas gesehen. Ich bin mit Holgersen unterwegs dorthin.«
Flint blinzelte und stand dann abrupt auf, mit dieser typischen Haltung, die geradezu »militärischer Hintergrund« schrie. Er versteckte seinen Schrecken gut. »Halten Sie mich vom Tatort aus auf dem Laufenden. Und arbeiten Sie schnell. Das wird nicht mehr lange in unseren Händen bleiben – wir müssen uns holen, was wir können, wenn wir unsere lokalen Fälle erfolgreich abschließen wollen.«
Maddocks hielt den stählernen Blick seines Bosses. »Der Ermittler vom Festland, mit dem Sie gestern gesprochen haben. Von der Task Force …«
»Genau. Die wissen etwas, das sie uns nicht mitteilen, jedenfalls nicht übers Telefon.« Bei diesen Worten wurde Flints Miene eisern.
»Hätte dieses Wissen das hier vielleicht verhindern können?«
Flint sah ihn an. Seine Lippen wurden schmal, und sein Blick wurde kalt und hart. »Zum Teufel, ich hoffe nicht. Aber mein Bauch hält das für möglich.«
Scheiße.
»Ich lasse Sie wissen, was wir am Tatort vorfinden«, versicherte Maddocks und wandte sich zum Gehen.
Draußen fand er Holgersen, der rauchte und wie ein gefangener Gepard neben dem Impala auf und ab lief. Sobald sich Maddocks näherte, warf Holgersen die Zigarette beiseite. Sie stiegen ein und fuhren mit jaulender Sirene los. Die Scheibenwischer waren auf höchste Stufe eingestellt, denn der Regen überschwemmte die Stadt und Teile der Straßen waren bereits geflutet. Fünfzehn Minuten später waren sie beim Krankenhaus.
Maddocks hielt vor dem Eingang, dicht hinter dem Van des Coroners.
»Sieht aus, als wären O’Hagan und Co. schon da«, kommentierte Holgersen mit einem Nicken zum Van. Sie stiegen aus, ließen Jack-O aber bei leicht geöffnetem Fenster im Wagen. Ein uniformierter Polizist stand an der Krankenhaustür, überprüfte ihre Marken und trug ihre Namen auf einer Tatortliste ein. Maddocks und Holgersen eilten den Korridor entlang auf die entsprechende Station zu.
Vor der Tür sprach ein Arzt leise mit der Therapeutin, die weiß und hohläugig war vor Schreck. An der Seite stand ein weiterer uniformierter Polizist.
»Wie
konnte das passieren?«, rief die Therapeutin, sobald sie Maddocks sah. »Es gab eine Wache, Herrgott noch mal
– einen bewaffneten
MVPD Officer vor der Tür. Warum? Wer
würde so etwas tun?«
»Wo sind die anderen Mädchen?«, fragte Maddocks sie und griff gleichzeitig in seine Tasche auf der Suche nach einem Paar Latexhandschuhe.
»Der erste Officer vor Ort hat sie in ein anderes Zimmer gebracht. Eine Psychologin ist bei ihnen.«
»Ist die Dolmetscherin schon da?«
»Nein«, antwortete die Therapeutin.
Maddocks wandte sich an Holgersen und zog die Handschuhe über. »Ruf Dundurn oder Smith an – schaff einen von ihnen zu den Mädchen rein.« Holgersen trat beiseite, um die Detectives der Abteilung für Sexualverbrechen anzurufen. »Und sucht mir diese Dolmetscherin.«
Maddocks wandte sich an den Mann im weißen Mantel. »Wer sind Sie?«
»Dr. Tim McDermid. Diese Patientinnen befanden sich in meiner Obhut …«
»Wann haben Sie Ihre Patientinnen zuletzt gesehen?«
»Ich war noch einmal bei ihnen, kurz bevor ich gegen 21:00 Uhr gegangen bin.«
»Wie ging es ihnen da?«
»Gut. Sie waren lebhaft. Sophia war in so guter Verfassung wie noch nie seit ihrer Einlieferung. Ich … ich dachte, sie wäre vielleicht eine der Glücklichen, denen es gelingt, das, was sie erlitten haben, hinter sich zu lassen, um ein wenigstens einigermaßen normales Leben führen zu können. Sie war noch so jung. Ein Teenager.« Die Augen des Arztes schimmerten verräterisch.
Maddocks biss die Zähne zusammen. »Gab es eine Krankenschwester, die in der vergangenen Nacht Dienst hatte?«
»Auf Abruf – die Patientinnen waren mittlerweile so weit, dass sie nachts durchschlafen konnten.«
»Ich will eine Liste von allen, die in der vergangenen Nacht gearbeitet haben. Können Sie mir die besorgen?«
»Ich … Ja, ja, natürlich.«
»Wenn Sie die Liste haben …« Maddocks hob die Hand und winkte einen Polizisten in Uniform vom anderen Ende des Ganges heran. Rasch kam er herübergejoggt.
»Sir?«
Maddocks warf einen Blick auf das Namensschild. »Tonner, begleiten Sie Dr. McDermid hier – besorgen Sie uns die Namen von allen, die gestern im Krankenhaus gearbeitet haben. Rufen Sie alle in der Cafeteria zusammen. Sperren Sie den Bereich ab. Und finden Sie jemanden, der diesen Flügel abriegelt.«
»Sir.«
Holgersen kam herüber, auch er streifte sich Handschuhe über. »Dundurn ist auf dem Weg. Von der Dolmetscherin haben wir immer noch nichts gehört – sie geht nicht ans Telefon.«
Der Officer vor der Tür führte die übliche Prozedur durch, bevor er beiseitetrat und ihnen Schuhüberzieher reichte.
Sobald sie diese übergestreift hatten, wandte sich Maddocks der Tür zu, atmete tief durch und ging hindurch. Holgersen folgte ihm, untypisch still.
Ein Kriminaltechniker schoss Fotos. Ein weiterer suchte nach Fingerabdrücken. Die Pathologin Barb O’Hagan stand neben dem Bett, auf dem Sophia Tarasovs Leiche lag. Von der Hüfte abwärts wurde sie von einer Decke verhüllt. Sie trug ein schlichtes weißes Nachthemd. Ihr Arm hing über den Bettrand hinab, die Handfläche war nach oben gedreht. Das Gesicht war der Tür zugewandt. Blut bedeckte ihren geöffneten Mund und das Kissen. Ihre Augen waren weit offen, aber blicklos. Die weißen Krankenhauslaken waren fast schwarz von ihrem Blut. Es war auf den Fliesenboden getropft. Einer der Techniker hatte gelbe Tatortmarkierungen dort angebracht, wo die Tropfen aufgetroffen waren.
Die Ärztin sah auf. »Morgen, Sarge. Wie geht es uns denn an diesem schönen Tag?«
»Doc«, begrüßte Maddocks sie. Still nahm er die Szene in sich auf.
Es war warm im Raum. Ein weißer Vorhang bewegte sich leicht über einem Lüftungsschacht der Klimaanlage. Draußen regnete es immer weiter. Die anderen Betten waren leer und ungemacht. Eines davon sah aus, als wäre es eingenässt worden.
»Scheiße, verdammt«, flüsterte Holgersen. »Wie zum Teufel konnte das passieren? Mit fünf anderen Mädchen im Raum und einem Polizisten vor der Tür. Und niemand hat irgendwas gehört oder gesehen?« Er trat an das nasse Bett und schnüffelte. Dann sah er Maddocks an. »Sie hatten panische Angst. Eine von ihnen hat ins Bett gepinkelt. Vielleicht haben sie gesehen, wer es getan hat?«
»Selbst wenn, dann hatten sie zu viel Angst davor, jemanden zu rufen, bis das Krankenhauspersonal heute Morgen um halb acht seine Runde gedreht hat.«
Holgersen fluchte leise. »Wenn sie vorher schon nix gesagt haben, dann machen sie das jetzt ganz sicher nicht mehr.«
Maddocks trat zur Leiche. O’Hagan blickte über den Rand ihrer Brille hinweg auf ihr Thermometer.
»Alphonse lässt schön grüßen«, sagte sie und notierte die Temperatur. »Er hat mich hiergelassen und ist zu einem anderen Fall weitergefahren.«
Charlie Alphonse war der für diese Region zuständige Coroner. Barb O’Hagan arbeitete als eine seiner forensischen Pathologen – eine bärbeißige ältere Frau, die sich leidenschaftlich für die Toten einsetzte. Maddocks war mit ihr während der Addams-Ermittlung gut zurechtgekommen. Angie und sie standen einander recht nahe, und sie beide konnten Harvey Leo nicht leiden.
»Was haben Sie, Doc?«
»Ich wollte die Decke nicht zurückschlagen, bevor Sie die Gelegenheit hatten, sie so zu sehen, wie sie gefunden wurde. Aber ich habe die Temperatur unter ihrem Arm gemessen. Die Leichenstarre ist noch nicht vollständig eingetreten. Wenn man die Temperatur des Körpers und die Wärme im Zimmer bedenkt, dann würde ich das Postmortem-Intervall auf sechs bis neun Stunden schätzen.«
Er sah auf die Uhr. Es war 8:11 Uhr. »Was bedeuten würde, dass sie irgendwann zwischen elf Uhr abends und zwei Uhr morgens gestorben ist.«
»So ist es«, sagte sie und legte das Thermometer zurück in die Tasche auf dem Tisch neben sich. Dann griff sie nach einer kleinen Taschenlampe. »Sie sollten sich da etwas ansehen.«
Sie leuchtete in den Mund der Toten und schob mit einem Holzspatel das geronnene Blut, das sich im Mundraum gesammelt hatte, etwas beiseite.
»Schauen Sie mal da hinein.«
Maddocks beugte sich vor und spähte in den Mund. Er spürte den Schreck im ganzen Körper. Sein Blick traf den der Ärztin.
»Sie hat keine Zunge«, sagte er. Nur ein blutiger Muskelstumpf, glatt abgetrennt.
»Sie wurde ihr herausgeschnitten.«
»Wo ist der Rest der Zunge?«, fragte Holgersen hinter Maddocks.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete O’Hagan.
Maddocks starrte in Sophia Tarasovs Gesicht, auf den blutigen, weit offenen Mund. Verdammt.
»Glauben Sie, daran ist sie gestorben?«, fragte Holgersen weiter. »Ist sie verblutet, weil man ihr die Zunge abgeschnitten hat?«
»Sie könnte auch erstickt sein – ertrunken an ihrem eigenen Blut, wenn ihr Kopf die ganze Zeit so nach hinten geneigt war. Sobald ich sie auf dem Tisch habe, weiß ich mehr.«
Das Unausgesprochene hing dunkel und schwer in der Luft. Maddocks dachte daran, was Tarasov gesagt hatte.
Als ich sie gefragt habe, antwortete sie auf Russisch, dass sie mir die Zunge abschneiden, wenn ich rede. Wie sie uns auch in Prag gesagt haben, wenn wir mit jemandem über die Männer sprechen, die uns dorthin bringen. In Prag war eine Frau ohne Zunge.
»Eine Warnung«, flüsterte Maddocks. »Sophia Tarasov hat eine Grenze überschritten, sie hat sich nicht an die Regeln gehalten. Und irgendjemand hat sie sich geholt, um durch sie eine Nachricht zu übermitteln.«
»Scheiße, wie haben die sie gefunden? Wie sind die hier reingekommen? Woher wussten die überhaupt, dass sie mit uns geredet hat?«
Maddocks schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ein Informationsleck. Oder vielleicht wussten sie gar nicht, dass Sophia Tarasov geredet hat, aber sie wussten, dass wir die Mädchen haben, und sie wollten sichergehen, dass keine von ihnen irgendwann redet.«
»Und sie haben sich einfach so Tarasov ausgesucht? Zufällig?«
»Vielleicht hat sie ihnen früher schon Ärger gemacht – die anderen sind jünger, verängstigter. Und sie alle umbringen … Vielleicht war dafür einfach nicht genug Zeit.«
»Aber die übrigen Mädchen haben es gesehen«, fuhr Holgersen fort, den Blick auf das nasse Bett gerichtet. »Und jetzt glauben sie, dass man sie überall finden wird.«