KAPITEL 30
»Es ist alles da drin«, erklärte Angie an Officer Pietrikowski gewandt, der im Empfangsbereich des MVPD stand und ihre Kartons übereinandergestapelt in den Händen hielt. »Ich musste die Kisten erst aus einem privaten Labor holen. Ich hatte angefangen, eigene Tests an den alten Beweismitteln durchführen zu lassen.«
Er öffnete den Mund, aber sie hob rasch die Hand.
»Bevor Sie mir jetzt sagen, dass ich irgendetwas verunreinigt habe, diese Kartons wurden in einem privaten Keller aufbewahrt, wo sie mehrmals geöffnet wurden. Das Labor, das ich ausgesucht habe, hat Erfahrung im forensischen Bereich. Falls irgendetwas verunreinigt sein sollte, dann jedenfalls nicht durch mich oder das Labor. Außerdem haben Sie ja mein DNS-Profil, für den Fall, dass Sie mich ausschließen müssen. Oder einbeziehen.«
Pietrikowski blieb unbeeindruckt. »Wir melden uns«, sagte er mit grimmiger Miene, als er den Empfangsbereich verließ und mit der Schulter die Ausgangstür aufstieß. Sobald er das Gebäude verlassen hatte, eilte Angie zurück an ihren Schreibtisch und griff nach ihrem Handy. Es war Mittagspausenzeit, und das Büro für Öffentlichkeitsarbeit war leer. Sie wählte die Nummer von Stacey Warrington, ViCLAS-Technikerin der Abteilung für Sexualverbrechen. ViCLAS stand für Violent Crime Linkage Analysis System. Stacey war immer Angies Kontaktperson gewesen, wenn es um irgendetwas in Bezug auf die Datenbanken ging.
»Stacey, ich schicke dir gleich ein paar Dateien auf den Computer – Fingerabdrücke. Kannst du mir einen Gefallen tun und sie für mich durchlaufen lassen?«
»Hey, Angie, ich dachte, sie haben dich für eine Weile in die kuschelige Social-Media-Abteilung gesteckt.«
»Haben sie auch. Das hier ist für einen alten Fall, an dem ich immer noch arbeite – die Fingerabrücke sind über dreißig Jahre alt. Ich habe bei einem Labor in Auftrag gegeben, dass die Papillarleistendetails von blutigen Abdrücken am damaligen Tatort digitalisiert werden. Nur wenn du Zeit hast. Als ein Gefallen. Ich schulde dir was.«
»Jaja, schon gut. Schick sie gleich rüber. Ich habe gerade ein Zeitloch in meinem Terminplan. Ich kann das sofort erledigen.«
Angie klappte ihren privaten Laptop auf, den sie mit zur Arbeit gebracht hatte. Sie schob den Memory Stick in einen der USB-Ports und lud die Dateien von Anders hoch. Sie hängte die erste Fotoserie an und drückte auf SENDEN. »Kommt gerade.«
Officer Pepper betrat das Büro und zog sich den Mantel aus. »Wie läuft es mit dem Blog Post?«, fragte sie und hängte ihren Mantel auf.
»Prima.« Angie wählte die nächste Fotoserie aus und schickte auch diese ab.
»Brauchen Sie Hilfe? Irgendwelche Fragen?«
»Ich komme zurecht, danke«, antwortete Angie, ohne aufzublicken.
»Der Post muss heute noch vor Feierabend raus – am Wochenende muss er online sein.«
»Ja, verstanden.« Als würde es irgendjemanden interessieren, ob ein Blog Post des MVPD am Freitag oder erst am Montag online steht. Trotzdem schloss sie die Akten, sobald die Fotos durchgegangen waren. Sie schaltete den Computer ein und öffnete das Dokument, das ihren Entwurf enthielt. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, war gedanklich aber schon bei den Ergebnissen.
Um 15:23 Uhr summte das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Ein interner Anruf. Sie stürzte sich auf den Hörer.
»Angie, hier ist Stacey. Wir haben einen Treffer. Er ist im System.«
»Im Ernst?«
»Du klingst überrascht.«
»Nein. Nein.« Schauer liefen ihr über die Haut. »Es ist also ein Er ? Die Abdrücke gehören zu einem Mann?«
»Das eine Set, ja.«
Angie warf Officer Pepper einen Blick zu, die sie aufmerksam im Auge behielt. »Wer ist er?«, fragte Angie leise.
»Er heißt Milo Belkin.«
»Dann hat er also eine Akte – und er lebt noch?«
»Und er sitzt. Er ist im Hansen Correctional Centre inhaftiert, wegen einer Reihe von Anklagen von strafbarer Fahrlässigkeit mit Todesfolge bis zu illegalem Waffenbesitz und Besitz von Rauschgift mit der Absicht, es zu vertreiben. Er hat noch sechs Monate vor sich. Er scheint seine Strafe voll absitzen zu müssen.«
»Kannst du mir die Details weiterleiten – und alles, was du sonst noch über seine Haftstrafe und die Anklagen herausfinden kannst?«
»Verstanden. Sieht aus, als wäre er auch vorher schon mal verurteilt worden – wegen sexuellen Missbrauchs und Körperverletzung. Aber er wurde freigesprochen, als sich die Klägerin auf einmal geweigert hat, gegen ihn auszusagen, und alle Klagen fallen gelassen hat.«
Auf einmal war Angie sehr aufgeregt. Einer der Männer, die diese Frau durch die Gasse gejagt hatten. Er lebte. Und er würde noch mindestens sechs Monate lang nicht weglaufen können. Das war es. Das war ihr Durchbruch. Sie strich sich übers Haar, fast unfähig, noch länger am Schreibtisch sitzen zu bleiben. »Okay, danke – und schickst du mir auch alles, was du über diese früheren Anklagen herausfinden kannst?«
»Kein Problem.«
Sie legte auf und ballte triumphierend die Hand zur Faust.
»Mit dem Blog Post läuft es gut, oder?«, fragte Pepper.
»O ja«, antwortete Angie lächelnd. Fast zitternd vor Aufregung suchte sie die Nummer des Hansen Correctional Centre heraus und rief an, um sich bestätigen zu lassen, dass ein Mann namens Milo Belkin tatsächlich dort inhaftiert war. Sie vereinbarte einen Besuch bei Belkin am Nachmittag des nächsten Tages. Die Hansen-Gefängnisanstalt befand sich auf dem Lower Mainland. Morgen war Wochenende. Sie konnte noch an diesem Abend die Fähre nehmen, in Vancouver in einem Hotel übernachten und gleich am nächsten Morgen zum Hansen rausfahren.
Das – genau das war es, warum sie diesen Social-Media-Schreibtischjob unbedingt behalten musste. Sie hatte die Wochenenden frei und sie konnte weiterhin die Polizeikarte ausspielen, wenn sie ihren Verdächtigen befragte. Und wenn Belkin seine Haftstrafe tatsächlich voll absitzen musste, dann erfüllte er eindeutig nicht die Bedingungen für eine Bewährung – er war irgendjemandem also ein Dorn im Auge.
Und nun würde sie mit Milo Belkin abrechnen.