KAPITEL
32
Angie verließ das Revier um Punkt fünf Uhr. Sie hatte es eilig und sie war nervös wie ein gefangenes Tier. Sie würde ihr Zuspätkommen an diesem Morgen an einem anderen Tag wiedergutmachen müssen. Auch der Blog Post würde bis Montag warten müssen, denn sie hatte den Großteil des Nachmittags damit zugebracht, die Informationen über Milo Belkin zu lesen, die Stacey Warrington ihr hatte zukommen lassen. Informationen über seine Haftstrafe und die Transkripte seines Prozesses. Seitdem saß sie wie auf Kohlen.
Belkin war im Jahr 1993 im Osten Vancouvers verhaftet worden – vor fünfundzwanzig Jahren –, als die Polizei einem Tipp folgend einen weißen Kastenwagen angehalten hatte, in dem Belkin mit drei weiteren Männern gesessen hatte. Es war zu einer Schießerei gekommen. Ein VPD Cop hatte eine Kugel Kaliber .45 in den Kopf bekommen und war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ein Querschläger, Kaliber .22, hatte einen unschuldigen Passanten in den unteren Rücken getroffen, was eine Querschnittslähmung zur Folge gehabt hatte. Belkin – der am Tatort eine 9-Millimeter-Handfeuerwaffe betätigt hatte – war mit einem Mann namens Semyon Zagorsky – der eine Kaliber-.22-Pistole abgefeuert hatte – verhaftet worden. Die beiden anderen Männer waren in einem nicht identifizierten
schwarzen Chevrolet geflohen, der hinter der Seitenstraße gehalten hatte, nachdem die ersten Schüsse gefallen waren.
Der weiße Kastenwagen war das Fahrzeug eines Blumenlieferdienstes. Zwischen den Blumen hatte die Polizei 50,5 Kilo Kokain, 14,1 Kilo Heroin und 6 Kilo Haschisch gefunden. Man schätzte den Straßenwert der Drogen auf fast neun Millionen Dollar.
Jetzt wusste Angie, warum Voight diese Zeitungartikel aufbewahrt hatte. Darin stand, dass man fünf Jahre nach dem Drogenfund und der Schießerei einen Colt .45 im Handschuhfach eines ausgebrannten schwarzen Chevrolets entdeckt hatte.
Voight hatte vermutet, dass der Wagen und die Waffe mit der Schießerei und dem Drogenfund zusammenhingen. Dass dies das Fluchtauto war und dass dieser Colt den VPD Officer getötet hatte. Voight musste auch vermutet haben, dass Belkin und seine Komplizen irgendwie mit dem Krippenfall und dem dazugehörigen Fluchtauto in Verbindung standen.
War es dieser Colt .45 gewesen, der an Heiligabend vor dem Saint Peter’s Hospital abgefeuert worden war? Waren die beiden Männer mit Angies Mutter und ihrer Zwillingsschwester in diesem schwarzen Chevy-Kleinbus entkommen? War einer von ihnen Milo Belkin gewesen?
Aber falls Voight all das tatsächlich vermutet hatte, dann war er dennoch nicht in der Lage gewesen, Milo Belkin direkt mit dem Krippenfall in Verbindung zu bringen, wie Angie es gerade getan hatte, denn damals hatte es diese Möglichkeit zum Abgleich von Fingerabdrücken noch nicht gegeben.
Es war vollständig dunkel, als Angie zu ihrem Wagen ging. Lichter spiegelten sich in Pfützen. Der Wind blies den Regen seitwärts, und Donner grollte oben in den Wolken. Ein kleiner Zweig traf sie, als sie sich dem Auto auf dem Parkplatz näherte. Abrupt tauchte vor ihr ein Schatten auf.
Sie schnappte nach Luft und wich einen Schritt zurück, instinktiv schoss ihre Hand dorthin, wie sie sonst die Waffe im Holster trug – aber sie war nicht mehr da.
»Detective Pallorino«, erklang eine Stimme mit deutschem Akzent. »Wie geht es Ihnen?«
Sie blinzelte in die Dunkelheit. »Grablowski? Sind Sie das?«
»Können wir uns unterhalten?«, fragte der Profiler und trat einen Schritt vor, sodass das Licht der Parkplatzbeleuchtung auf sein Gesicht fiel. Er trug einen langen doppelreihigen Regenmantel mit tiefen Taschen und einem breiten Gürtel. Seine übliche Fischgrätenstichmütze schützte seinen Kopf vor dem Regen. Seine runden Brillengläser schimmerten im Dunkeln.
»Worüber?« Auf einmal hatte sie ein ungutes Gefühl. »Haben Sie hier draußen auf mich gewartet?«
»Ich weiß, dass Sie jetzt um fünf Uhr Feierabend haben – Degradierung und so. Kann ich Sie zu einem Drink im Pig überreden? Dort können wir miteinander sprechen.«
»Ich habe es ziemlich eilig.« Sie ging weiter zu ihrem Nissan. »Ich muss heute Abend die letzte Fähre nach Vancouver kriegen. Das wird warten müssen.«
»Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.«
Da lag etwas in seiner Stimme, das sie argwöhnisch, aber auch neugierig machte. Sie blieb stehen und drehte sich wieder zu ihm. Was auch immer der forensische Psychiater ihr zu sagen hatte, sie traute ihm nicht. Da war etwas Dunkles an diesem Mann, der sich berufsmäßig in die Gedanken von Monstern vertiefte und der so begierig darauf war, von ebenjenen Monstern zu profitieren, um sich in der akademischen Welt einen Namen zu machen.
Wieder krachte der Donner in der Ferne. »Was will ich nicht?«
»Ich weiß, dass Sie die Jane Doe aus dem Engelskrippenfall sind.«
Es war, als würde ihr ein kalter Stein in den Magen fallen. Ein Klingeln erklang in ihren Ohren. »Ich … weiß nicht, wovon Sie da reden.« Sie wandte sich ihrem Nissan zu, den Schlüssel in der Hand, aufsteigende Panik im Bauch. Woher
wusste er das? Irgendjemand musste es ihm gesagt haben. Aber wer
? Warum?
Sie entriegelte das Auto. Er trat hinter sie. »Ich weiß auch, dass Ihre DNS zu der des kleinen Fußes passt, der bei Tsawwassen angespült wurde.«
Ihr Herz begann zu rasen.
Jacob Anders? Maddocks? Jenny Marsden?
Sie hatte sonst niemandem davon erzählt, dass sie das Krippenmädchen war. Und sie hatte auch niemandem von dem DNS-Treffer erzählt – nur Jacob Anders. Sie fuhr zu Grablowski herum. »Wo haben Sie das gehört?«
»Meine Quelle ist vertraulich.«
»Wer
? Raus damit!«
Er wich zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Kein Grund, so aggressiv zu werden, Detective. Wir alle wissen von Ihrer Neigung zur Gewalt. Ich habe lediglich ein Angebot bezüglich dieser Breaking News. Geben Sie mir das Exklusivrecht an Ihrer Story – erlauben Sie mir, Sie zu interviewen, während sich die Ermittlungen der RCMP weiterentwickeln. Das ist der Stoff für ein packendes True-Crime-Buch. Es hat einfach alles – vielleicht kann ich uns sogar einen Filmdeal besorgen.«
Uns?
Wut schlug über ihr zusammen. Sie trat ganz dicht an den Psychiater heran. »Ein Angebot? Damit Sie
Geld aus meinem
Leben schlagen können? Obwohl Sie mir nicht einmal verraten wollen, woher Sie diese Information haben? Sie können mich mal, Grablowski.« Damit drehte sie sich wieder zum Auto um und öffnete die Fahrertür. Er umfasste den Türrahmen.
»Wir teilen den Gewinn. Fifty-fifty.«
»Nehmen Sie die Finger von meinem Auto, bevor ich Sie Ihnen breche«, knurrte sie durch zusammengebissene Zähne. Ihre Augen brannten. »Und wenn Sie damit an die Öffentlichkeit gehen, dann verklage ich Sie, bis Ihnen der Arsch auf Grundeis geht.«
»Ich bin nicht der Einzige, der über diese Information verfügt, Detective. Aber ich werde sie vor den Medien zurückhalten, wenn Sie sich bereit erklären, mit mir an diesem Buch zu arbeiten. Und sobald sich die Story verbreitet, werden die Leser die Veröffentlichung des Buches kaum noch erwarten können. Stellen Sie es sich nur mal vor.« Er machte eine Geste, so als wollte er eine leuchtende Werbetafel in die Dunkelheit malen. »Das mysteriöse Mädchen aus der Engelskrippe wurde im Alter von vier Jahren von ihrer Zwillingsschwester getrennt. Ohne etwas über ihre Vergangenheit zu wissen, wächst sie zu einer aggressiven Polizistin in der Abteilung für Sexualverbrechen heran. Erbarmungslos und leidenschaftlich in ihrem Drang, all die verletzten Frauen und Kinder dort draußen zu retten, ohne auch nur zu ahnen, was sie überhaupt dazu getrieben hat, Polizistin zu werden. Sie gerät blitzschnell in Wut. Sie macht keine Kompromisse. Sie ist die bisher noch unbekannte Polizistin des MVPD, die einen grausamen Triebtäter und Mörder gejagt und brutal erschossen hat. Dessen Profil ich, der Autor, erstellt habe. Und dann findet sie heraus, dass sie eine Zwillingsschwester hat – oder hatte. Was ist aus dieser Schwester geworden, Detective Pallorino? Was ist mit Ihnen passiert an jenem Heiligabend des Jahres 1986? Das
ist die Reise, auf die wir unsere Leser mitnehmen sollten.«
Ein Zittern setzte in ihrem Bauch ein. »Ist das eine Drohung? Sie werden mich der Presse gegenüber als diejenige preisgeben, die den Täufer erschossen hat? Obwohl ich nicht einmal während der internen Untersuchung öffentlich benannt wurde?
Sie werden die persönliche Geschichte meiner
Vergangenheit veröffentlichen?«
Er schwieg. Hinter seinen reflektierenden Brillengläsern konnte sie seine Miene in der Dunkelheit nicht lesen. Aber sein Schweigen sagte alles. Sie war geliefert. Ob sie nun kooperierte oder nicht – es würde jedes Detail
herauskommen, so oder so.
»Schlafen Sie doch eine Nacht darüber oder zwei.« Er hielt kurz inne. »Aber denken Sie daran, ich kann dieser Geschichte gerecht werden. Ich habe ein besonderes Interesse an Zwillingen. Es war eines meiner akademischen Fachgebiete. Lesen Sie sich einmal meine früheren Veröffentlichungen zum Thema Kryptophasie durch.«
»Was?«
»Zwillingssprache. Es ist eine Idioglossie – eine idiosynkratische, private Sprache, die nur von einer Person erfunden und gesprochen wird oder nur von sehr wenigen Personen, üblicherweise Kindern. Wenn diese Sprache nur zwischen Zwillingen verwendet wird, nennt man das Kryptophasie. So etwas kann bei einer verzögerten Kindheitsentwicklung entstehen oder bei reduzierter verbaler Stimulation und Interaktion mit den Sprachmodellen von Erwachsenen. Vielleicht hatten Sie sogar eine besondere Sprache mit Ihrer Zwillingsschwester, Detective.«
Eine Erinnerung blitzte auf.
Komm spielum dum Wald … Komm runter dem …
Auf einmal sah Angie sie. Das kleine Mädchen aus ihren früheren Halluzinationen. Sie schimmerte in blassrosa Licht. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, aber sie hatte langes rotes Haar, und sie streckte die weiße Hand nach ihr aus … Eine singende Stimme füllte Angies Ohren …
Zwei kleine Kätzchen … zwei kleine Kätzchen …
Das kindliche Geträller erhob und brach sich in einer grässlichen Kakophonie, als würde jemand alle Klaviertasten gleichzeitig drücken.
Sie schüttelte sich. Sehr leise sagte sie: »Ich frage Sie ein letztes Mal – wer hat Ihnen das gesagt?«
»Sie haben ja meine Nummer.« Er rückte seine durchnässte Mütze gerade. »Passen Sie auf sich auf, Detective Pallorino.«
Sie starrte ihm nach, während seine Gestalt im dunklen Nebel verschwand. Sie zitterte. Kälte. Nässe. Sie stieg in ihr Auto und rieb sich fest über das nasse Gesicht. Sie würde denjenigen umbringen, der diese persönlichen Details an diesen Widerling weitergegeben hatte. Und nun war es heraus und sie konnte den Geist nicht zurück in die Flasche sperren.
Noch beunruhigender war die Frage, wer aus dem sehr kleinen Kreis von Eingeweihten ihr das angetan hatte.
Sie ließ den Motor an. Da traf sie ein Gedanke – sie musste es ihrem Vater sagen. Das mit ihrer DNS und dem Kinderfuß. Wenn all das in den Nachrichten auftauchen würde, dann musste ihr Vater vorbereitet sein. Die Reporter würden ihn verfolgen. Das Geheimnis, das er und ihre Mutter all die Jahre gehütet hatten, würde allen Freunden und seinen Kollegen an der Uni enthüllt werden. Außerdem würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre Mutter zu schützen, die das alles – ihrer Demenz und Schizophrenie wegen – furchtbar aufregen könnte. Besonders wenn die Reporter versuchen würden, an sie heranzukommen.
Angie rammte den Gang hinein und raste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Scheißescheißescheiße.
Wütend schlug sie aufs Lenkrad. Was würde das für ihre derzeitige Stelle bei den sozialen Medien bedeuten? Für ihre Probezeit? Wenn ans Licht kam, dass es bei der internen Untersuchung um sie
gegangen war. Dass sie es gewesen war, die in einem Anfall blinder Wut ihr komplettes Magazin in Spencer Addams’ Gesicht
verschossen hatte. Nicht gerade passend für die freundliche Polizistin von nebenan, die im Social-Media-Bereich arbeitete.
Vielleicht hatten Sie sogar eine besondere Sprache mit Ihrer Zwillingsschwester, Detective?
Sie drückte auf einen Knopf auf ihrer Konsole und verband ihr Handy via Bluetooth mit dem Autoradio. An einer roten Ampel blieb sie stehen und wählte die Nummer von Alex Strauss.
Sobald ihr alter Freund und Mentor abhob, sagte sie: »Alex, ich bin’s, Angie. Du musst mich noch einmal in die Vergangenheit bringen – du musst mich wieder hypnotisieren. Noch heute Abend, falls du kannst, morgen früh muss ich schon in Vancouver sein.« Sie begriff, dass ihr nicht genug Zeit blieb, um erst bei ihrem Vater vorbeizufahren, sich anschließend mit Alex zu treffen, dann bei sich zu Hause ihre Sachen zu packen und noch die letzte Fähre zu erwischen. Sie würde morgen also um fünf Uhr aufstehen und stattdessen die erste Fähre nehmen müssen. So hätte sie immer noch genug Zeit – gerade noch –, um mittags im Hansen Correctional Centre zu sein.
»Bist du sicher, Angie?«, vergewisserte sich Alex.
»Todsicher.«
»Es könnte riskant sein – beim letzten Mal bist du unter Stress geraten. Ich musste dich früher wieder zurückholen, weißt du noch? Und das Zurückkommen ist dir nicht leichtgefallen.«
Sie strich sich über das nasse Haar und erinnerte sich an das Grauen an jenem dunklen Ort in ihrem Kopf, an den Alex sie gebracht hatte. Sie war nervös. Aber sie musste es tun. Alles, was sie erlebt hatte, alles, was sie gefühlt und gesehen, woran sie sich erinnert hatte, stand nun auf einmal in einem anderen Kontext, nach dem, was sie von Tranquada erfahren hatte.
Komm spielum dum Wald … komm runter dem …
Es könnte tatsächlich ihre Schwester sein, von jenseits ihres nassen Grabes. Sie suchte nach Hilfe – sie war zu ihr gekommen.
Mit einer besonderen Sprache, in der sich nur sie beide verständigt hatten. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen.
»Ich muss noch einmal zurückgehen, Alex. Tiefer. Nicht nur für mich …«
Nun tat sie all das für jemand anderen – für ein kleines Mädchen, das endlich Form annahm. Das änderte alles.
»Für meine Zwillingsschwester.«