KAPITEL 36
Der Helikopter bremste ab, hob die Nase und sank durch Wolken herab, die sich wie schlafende Drachen um die Berge schmiegten. Auf einmal breitete sich zu Maddocks’ Rechten das Stadtgebiet Vancouvers aus, silbrig schimmernd im Winterlicht und glänzend nass. Auf der anderen Seite des Burrard erstreckte sich das Gebiet von Lonsdale über die Flanken der North Shore Mountains. Jenseits der Schneegrenze gab es nur noch dichte, endlose Wälder, die sich bis hinauf nach Alaska erstreckten.
Durch die Kopfhörer erklang die Stimme des Piloten. Sie setzten zur Landung an.
Während der Helikopter hinabsank, legte ein SeaBus, das Fährboot des Burrard, vom Dock am North Shore ab und fuhr, eine weiße Schaumspur hinter sich herziehend, auf die Stadt zu.
Der Helikopter umkurvte ein gigantisches weißes Kreuzfahrtschiff aus Norwegen, das neben dem berühmten Kongresszentrum vor Anker lag, und steuerte auf den kleinen Heliport in der Nähe eines Bahnbetriebswerks zu. Der Pilot brachte die Maschine mit einem einzigen sauberen Ruck genau in der Mitte des weißen X auf den Boden.
Noch während Maddocks ausstieg und seine Tasche geduckt unter den Rotorblättern hindurchtrug, zog er sein Handy hervor. Er rief Flint an, während er die lange hölzerne Gangway hinuntereilte, die zu dem kleinen Terminalgebäude führte. Vor ihnen, auf dem Parkplatz, stand ein Mountie in Uniform neben einem Streifenwagen. Offensichtlich Maddocks’ Transportmittel nach Surrey.
Sobald Flint abnahm, fragte Maddocks: »Haben sie zugestimmt?«
»Ich musste etwas Überzeugungsarbeit leisten, aber ja, sie haben eingewilligt – niemand aus der Task Force befragt Sabbonnier oder Camus, ohne dass Sie anwesend sind.«
Ein Gefühl des Triumphs erfasste ihn. Ob Sabbonnier oder Camus auch nur noch ein Wort zu irgendjemandem sagen würden, war mehr als zweifelhaft, aber Maddocks hegte schon jetzt einen Groll gegen Sergeant Parr Takumi, den leitenden Ermittler der Task Force, weil er Flint und das MVPD nicht darüber informiert hatte, in welcher Gefahr die Barcode-Mädchen schwebten. Nun war es etwas Persönliches.
Er legte auf, joggte die Stufen zum Parkplatz hinauf und ging auf den Streifenwagen zu. Er stellte sich dem jungen Mountie vor, der ihm die Tasche abnahm und sich seinerseits als Constable Sammi Agarwal vorstellte.
Während ihn Agarwal durch die Stadt und schließlich auf den Highway fuhr, der sie nach Surrey bringen würde, betrachtete Maddocks die urbane Szenerie, die sich vor ihm entfaltete. Seine Brust schien immer enger zu werden. Surrey war einmal seine Heimat gewesen. Hier hatten Sabrina und er geheiratet, und hier hatten sie ihren Traum von einer gemeinsamen Familie begonnen. Ginny war hier geboren worden. Und hier war schließlich alles schiefgegangen.
Seine Stimmung wurde noch finsterer, als er sich daran erinnerte, was Sabrina am Telefon zu ihm gesagt hatte, nachdem er Ginnys Termin verpasst hatte. Ihre Worte hatten ihn tief getroffen und ihm sein Versagen klar und deutlich vor Augen geführt. Er dachte wieder an seine geplatzten Träume von einem frühen Ruhestand, den er gemeinsam mit seiner Frau hatte verbringen wollen. Er dachte an seine naive Vision, eine Jacht zu kaufen und mit Sabrina nach Desolation Sound hinaufzufahren, wo sie auf abgelegenen Inseln campen und angeln würden, während Ginny aufs College ging. Stattdessen hatte Sabrina eine Affäre mit Peter begonnen. Einem Buchhalter mit regelmäßigen Arbeitszeiten, gutem Gehalt, Familienerbe, freien Wochenenden und einer Leidenschaft für die Oper. Wie konnte er mit einer Leidenschaft für die Oper mithalten, verdammt noch mal? Und dann der Schock – Sabrina hatte die Scheidung eingereicht. Warum hatte er das nur nicht kommen sehen?
Nun war er wieder auf dem Festland und Ginny auf der Insel, allein. Während Angie in Victoria am Schreibtisch festsaß. Während seine alte Jacht in der windgepeitschten Marina vermutlich schon wieder mit einem neuen Leck aufwartete. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihm. Genau wie der Regen und die Wolken schien sich auch jenes düstere Gefühl der Vorahnung über ihm zusammenzuballen, das er zum ersten Mal empfunden hatte, als Angie im Nebel verschwunden war. Er würde auch sie verlieren.
Er sah auf die Uhr. In diesem Moment war sie auf dem Weg ins Hansen. Er hatte sie nicht einmal gefragt, in welchem Hotel in Vancouver sie übernachten würde.