KAPITEL
37
Der Wachmann brachte den Häftling in den Raum, in dem Angie an einem Tisch saß und wartete. Milo Belkin war nicht groß – knapp eins siebzig vielleicht –, aber Brust und Oberschenkel waren breit. Der Sechsundfünfzigjährige betrieb eindeutig Kraftsport in seiner Zelle oder draußen auf dem Sportplatz. Er trug ein Gefängnis-Sweatshirt, lockere Hosen und weiße Turnschuhe. Sein graues Haar war kurz geschoren.
»Milo Belkin«, sagte sie, als er eintrat.
Bei ihrem Anblick erstarrte er. Sein Gesicht wurde weiß. Er sah den Wachmann an, so als hoffte er verzweifelt, der Situation entkommen zu können.
Bei dieser Reaktion schlug Angies Herz schneller.
Die Miene des Wachmanns blieb teilnahmslos, als er sich an der Tür aufstellte. Langsam drehte sich der Häftling wieder zu Angie um.
»Ich bin Angie Pallorino«, sagte sie, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Ich bin Officer beim Metro Victoria Police Department.« Maddocks’ Stimme hallte in ihrem Kopf wider, während sie das sagte.
Sag mir, dass du deine Position beim MVPD nicht dazu benutzt hast, dieses Treffen morgen mit Milo Belkin zu bekommen.
Langsam ließ sich Belkin auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder. Er wich ihrem Blick aus, und seine ganze Körperhaltung schrie förmlich nach Ablehnung. Aber er sagte kein Wort. Seine Augen waren dunkelbraun – so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten. Intensive Augen. Sie standen zu dicht um seine große Adlernase beieinander.
Sie spürte die Aufregung.
»Du weißt, warum ich hier bin, oder, Milo?«, sagte sie. »Du hast mich in dem Moment erkannt, in dem du reingekommen bist.«
Der Mann schluckte. Eine Ader trat an seinem Hals hervor und die Muskeln seines Nackens waren angespannt. Auf der linken Seite dieses Stiernackens erkannte sie ein Tattoo – aus ihrem Blickwinkel war es gerade noch sichtbar.
»Woher kennst du mich, Milo?«
Stille.
Sie legte eine Kopie des Kodakfotos, das Jenny Marsden ihr gegeben hatte, auf den Tisch. Dann schob sie es zu ihm. »Sagst du es mir jetzt?«
Er weigerte sich, das Foto anzusehen.
Sie beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto. Er holte scharf Luft. Sein Blick huschte über ihr Gesicht.
Sie berührte die Narbe an der linken Seite ihres Mundes. »Hast du das getan, Milo? Kennst du mich vielleicht noch unter dem Namen Roksana?«
Wieder sah er über die Schulter zu dem Wachmann, der jedoch weiterhin keine Regung zeigte und nur mit ernster Miene geradeaus starrte, die Hände vor dem Körper übereinandergelegt.
»Du hast eine junge dunkelhaarige Frau in jener Nacht des Jahres 1986 über die Front Street gejagt. Im Schnee. Du und mindestens noch ein weiterer Mann. Die Frau hatte zwei
Kinder bei sich, nicht wahr? Eines der Kinder war barfuß. Sie trugen keine Jacken.«
Sein Adamsapfel hüpfte, als er schwer schluckte. Sie schob ihm einen Styroporbecher mit Wasser zu.
»Trockener Mund? Das kann ein Anzeichen von Stress sein. Verursacht meine Anwesenheit dir Stress, Milo?«
Er sagte nichts und griff auch nicht nach dem Wasser. Stattdessen wandte er seine Aufmerksamkeit langsam dem Foto zu. Er starrte es an. Angies Herz schlug sogar noch schneller – er hatte nicht verneint, dass es damals zwei Kinder gewesen waren. Oder dass er sie als Roksana kannte.
Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Was hast du mit dieser Frau und dem anderen Kind getan, Milo? Mit dem kleinen Mädchen, das es nicht
in die Engelskrippe geschafft hat?«
Stille senkte sich dick und schwer in den Raum. Sie konnte ihn riechen – Schweiß, gemischt mit dem einzigartigen Gestank der Angst. Sie wartete. Doch er blieb stumm.
»Das andere Mädchen, ihr Name war Mila, nicht wahr?«
Winzige Schweißtröpfchen erschienen auf seiner Oberlippe, während er weiter das Foto anstarrte.
»Warum mache ich dir solche Angst, Milo Belkin?«
Er weigerte sich nach wie vor, ihr in die Augen zu sehen. Er würde es einfach aussitzen, vermutlich in der Hoffnung, dass sie lieber früher als später wieder ging. Dieser Kerl würde in sechs Monaten entlassen werden. Und sobald er den letzten Tag und die letzte Stunde seiner Strafe abgesessen hatte, konnte ihm nicht einmal der Bewährungsausschuss noch etwas anhaben. Er konnte als freier Mann einfach verschwinden. Auf keinen Fall würde er irgendetwas sagen, das ihn mit einem Verbrechen in Verbindung brachte, das ihm eine ganze Reihe weiterer Anklagen einbringen würde. Sowie noch viele weitere Jahre im Gefängnis.
Angie beugte sich vor und zwang ihn, ihr endlich in die Augen zu sehen. »Also, Milo, ich denke Folgendes: Als du gerade reingekommen bist, da hast du dich vor Schreck fast nass gemacht. Weil ich genauso aussehe wie jemand, den du kennst, stimmt’s?«
An seinem linken Augenwinkel zuckte ein Muskel. Adrenalin flutete Angies Blut. Sie hielt ihre Stimme ruhig und leise. »Ich sehe der Frau ähnlich, die du durch die Straße gejagt hast, abgesehen von der Haarfarbe vielleicht. Ihr Haar war dunkelbraun. Meins ist rot. Wie bei meiner Zwillingsschwester.«
Bei diesen Worten wich der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht. Das Zucken an seinem Auge wurde schlimmer. Er senkte den Kopf und blickte auf die Tischplatte hinab.
»Und als du die Narbe an meinem Mund gesehen hast, da hast du es gewusst, oder? Du weißt genau, wer ich bin. Gerade eben hast du den Eindruck gemacht, als hättest du einen Geist gesehen, und genauso war es auch. Weil ich zurückgekommen bin, um dich heimzusuchen, Milo Belkin. Damit …«
Sie legte eine Kopie des Tatortfotos auf den Tisch, auf dem die blutverschmierte Außentür der Engelskrippe zu sehen war. Daneben legte sie noch ein weiteres Foto – die Nahaufnahme eines verschmierten Handballenabdrucks, mit deutlichen blutigen Fingerabdrücken an der Tür.
»Hier, Milo.« Sie schob ihm beide Fotos unter die Nase. »Ob du mir erzählst, was passiert ist, oder nicht, das hier ist der Beweis dafür, dass du in jener Nacht dort warst. Du hast die Frau und ihre Kinder gejagt. Du hast vor der Krippe mit der Frau gerungen, während sie darum gekämpft hat, beide Mädchen hindurchzuschieben, wo sie in Sicherheit gewesen wären. Du hast geschossen – mit einem Colt .45 vielleicht. Du bist in einem schwarzen Chevrolet-Kleinbus entkommen.«
Da blickte er ihr ins Gesicht.
»Du hast mir den Mund aufgeschlitzt. Mein Blut war an deinen Händen, als du die Krippenklappe angefasst und versucht hast, mich wieder herauszuziehen. Aber dann haben die Kirchenglocken zu läuten begonnen und Menschen sind aus der Kathedrale geströmt. Vielleicht hast du auch in der Ferne die Sirenen gehört. Und da hast du dir die Frau und das andere Kind geschnappt und bist abgehauen. Zu dem Chevy, der am oberen Ende der Gasse an der Rückseite des Krankenhauses gewartet hat. So bist du vom Tatort geflohen.«
Er hob die Hand und wischte sich langsam über die Oberlippe.
»Alle alten Beweismittel vom Tatort werden gerade mithilfe moderner Technik ein weiteres Mal getestet«, fuhr sie ruhig fort. »So haben wir den Treffer mit deinen Fingerabdrücken bekommen, die du auf der Krippenklappe hinterlassen hast. So haben wir dich gefunden, weil deine Fingerabdrücke als verurteilter Verbrecher im System sind. In ein paar Tagen werden wir auch DNS-Ergebnisse zu den Spermaspuren haben, die man auf einer lila Strickjacke gefunden hat, die neben dem Mädchen in der Krippe lag. Wenn diese DNS zu deinem Profil passt, das wir ebenfalls in der nationalen DNS-Datenbank überführter Straftäter haben, dann landest du gleich noch einmal vor Gericht, Milo Belkin. Aber dieses Mal« – sie schob ihm das letzte Foto zu, das mit dem kleinen lila Turnschuh, der am Strand angespült worden war – »wegen Mordes.« Sie hielt inne. »Lebenslänglich.«
Er sah das Foto an und riss die Augen auf. Seine Lippen teilten sich. Sein Atem ging schneller.
»Das sind die Überreste des Fußes meiner Schwester, immer noch in diesem Schuh. Du weißt genau, was mit ihr passiert ist. Und mit unserer jungen Mutter.«
Seine Augen begannen zu tränen, während er weiter das Bild des schmutzigen kleinen Schuhs anstarrte. Und er stritt
ebenfalls nicht ab, dass die dunkelhaarige Frau die Mutter der beiden Mädchen war. Es war, als hätte jemand ein Feuer unter Angie entzündet.
Sie beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich werde dich jagen, Milo Belkin. Ich werde tun, was ich tun muss, um herauszufinden, was in jener Nacht geschehen ist. Ich werde dich kriegen. Ich werde deinen Arsch an die Wand nageln für das, was du meiner Mutter und meiner Schwester angetan hast.«
»Wache«, sagte er, ganz leise, den Blick noch immer auf dem Foto des abgetrennten Fußes in dem kleinen Schuh.
»Und ich habe nicht nur weitere Beweise im Ärmel, ich fange außerdem allmählich an, mich zu erinnern. An Dinge aus jener Nacht. Aus der Zeit davor. Und darüber hinaus führt die RCMP eigene Ermittlungen wegen dieses kleinen angespülten Fußes durch. Mich haben sie bereits mit dem Krippenfall in Verbindung gebracht, also ist es letztendlich besser für dich, wenn du jetzt gleich mit mir redest.«
»Wache«, knurrte er, dieses Mal laut, und sprang auf. »Bringen Sie mich raus. Sofort.« Als er sich abwandte, sah Angie das Tattoo an seinem Hals. Eine blassblaue Krabbe.
Der Wachmann sah sie an, und sie nickte. Der Häftling wurde hinausgeführt.
Während Angie ihn gehen sah, hämmerte ihr Herz gegen ihre Rippen. Sie konnte kaum atmen. Sie hatte gerade einem Mann in die Augen geblickt, der ihre Vergangenheit kannte. Sie hatte frisches Blut an ihm gerochen, warm und roh in ihrer Nase. Wie ein Pitbull mit einem roten, fleischigen Knochen in den Fängen würde sie jetzt auf gar keinen Fall mehr lockerlassen.