KAPITEL 40
Es war ein Spätnachmittag in der Stadtbibliothek Vancouvers. Angie war aus dem Hansen Correctional Centre zurückgekehrt und durchsuchte nun die Mikrofilmkopien der Zeitungsarchive aus dem Jahr 1993. Ihre Gedanken vollführten wahre Sprünge. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Milo Belkin sofort gewusst hatte, wer sie war. Was bedeutete, dass er ihre Mutter gekannt hatte und dass Angie ihr verblüffend ähnlich sehen musste. Sie konnte nicht in Worte fassen, wie sehr sie das getroffen hatte. Es war ein Gefühl der Zugehörigkeit. Zu irgendjemandem. Es bewies, dass sie tatsächlich zu einem Familienstammbaum irgendwo da draußen gehörte. Sie hatte eine Schwester gehabt, die nun Gerechtigkeit brauchte. Es veränderte ihre gesamte Selbstwahrnehmung.
Ihr Ziel war es jetzt, jeden einzelnen alten Zeitungsartikel über Milo Belkins Verhaftung im Jahr 1993 zu finden, über seine kriminellen Verbindungen, über den verstorbenen VPD Officer, den verletzten Passanten und die darauffolgende Gerichtsverhandlung. Danach würde sie mehr über den ausgebrannten Kleinbus mit dem Colt .45 im Handschuhfach herausfinden, den man im Jahr 1998 gefunden hatte.
Sobald sie am Abend in ihrem Hotel war, würde sie sich durch die Beweismittel auf dem Memory Stick arbeiten, den Jacob Anders ihr gegeben hatte, aber das hier hatte Vorrang. Zum Teil wegen der Öffnungszeiten der Bibliothek, aber auch, weil sie Montagmorgen wieder in Victoria sein musste, um eine weitere Woche ihrer Strafe abzusitzen. Sie sah auf die Uhr, nervös wartete sie darauf, dass Anders mit den DNS-Ergebnissen anrief – sie brauchte irgendetwas Zusätzliches zu den Fingerabdrücken, womit sie Belkin weiter unter Druck setzen konnte. Aber dafür war es noch viel zu früh. Diese Ergebnisse konnten noch tagelang auf sich warten lassen. Sie befand sich nun in einem Rennen gegen die Zeit mit Pietrikowski, denn auch er würde bald dieselben Ergebnisse aus seinem Labor bekommen. Und wenn er herausfand, dass sie bereits bei Belkin gewesen war, würde er Maßnahmen ergreifen. Und diese Maßnahmen würden Vedder involvieren, denn Angie hatte ihren Polizeiausweis benutzt, um einen Häftling zu befragen, während sie eigentlich einem ganz anderen Job zugeteilt war. Sie würde knietief in der Scheiße stecken, aber den Schock in Belkins Augen zu sehen … das war es wert gewesen.
Ihr Handy auf dem Tisch neben ihr klingelte, und sie stürzte sich darauf, in der Hoffnung, dass es Anders war. Doch auf dem Display wurde ein unbekannter Anrufer angezeigt. Stirnrunzelnd nahm Angie ab.
»Pallorino.«
»Ich bin’s.«
»Maddocks?« Wärme flutete durch ihren Körper. Sie hatte vorhin versucht, ihn anzurufen, um ihm zu erzählen, wie es bei Belkin gelaufen war, aber sie war wieder direkt auf die Mailbox weitergeleitet worden. »Warum hast du eine andere Nummer?«
»Das ist ein Wegwerfhandy. Für einen persönlichen Anruf.« Er klang knapp, angespannt.
Angie spürte ein leises, warnendes Wispern. »Ich habe versucht, dich zu erreichen …«
»Ich war in einem Meeting. Ich wurde einer Interagency Force bei Surrey zugeteilt.«
»Surrey? Was? Was für eine Interagency Force? Warum? «
»Das ist etwas, das sich aus der Ermittlung in Victoria entwickelt hat. Hör zu, ich darf nicht darüber sprechen. Ange – nicht am Telefon. Ich …«
»Etwas, das sich aus dem Barcode-Fall entwickelt hat? Aus der Ermittlung über die Amanda Rose
Er räusperte sich. Im Hintergrund glaubte sie einen Fernseher zu hören.
»Wo bist du, Maddocks? Was ist los?«
»Ich bin in einem Hotel in Surrey. Ich weiß nicht, wie lange ich hier sein werde. Erzähl mir, wie es mit Belkin gelaufen ist.« Sein Tonfall duldete keine Widerworte, und da war eine Schärfe in seiner Stimme, die sie bei ihm noch nicht gehört hatte.
Surrey. Wo Sabrina lebt. Seine alte Heimat – er ist da draußen, während ich zurück auf die Insel an meinen Schreibtisch muss. Das warme Glühen in ihr kühlte ab. »Wo ist Jack-O?«
»Bei Holgersen. Für eine Weile, zumindest bis ich weiß, wie lange das hier dauert. Angie …«
»Du hast Holgersen deinen Hund anvertraut? Warum nicht mir?«
»Weil du nicht da bist, Angie. Und wahrscheinlich mag Holgersen den Hund mehr als du.«
Ärgerlich fuhr sie fort: »Was ist mit Ginny? Ich dachte, du wolltest sie nicht allein lassen?« Sie verfluchte sich dafür, dass sie das wirklich gesagt hatte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, aber sie schien sich nicht bremsen zu können. Auf einmal begriff sie: Ich stecke schon viel zu tief drin. Ich bin eifersüchtig, besitzergreifend. Das ist nicht gut, und das ergibt überhaupt keinen Sinn.
»Ginn geht es gut«, sagte er. »Sie will, dass ich das hier tue – dass ich dem bis zum Ende nachgehe.«
»Also hat es tatsächlich etwas mit dem Barcode-Fall zu tun? Mit Menschenhandel und Sexsklaverei? Auf internationaler Ebene, denn die Barcode-Mädchen stammen alle aus dem Ausland. Deshalb hat man dich einer Interagency Force in Surrey zugeteilt. Wisst ihr inzwischen, wer sie sind?«
»Hör zu, ich habe nicht viel Zeit, erzähl mir von Belkin«, sagte er wieder, harsch, ohne auf ihre Fragen einzugehen.
Sie biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. »Bleib kurz dran.« Sie nahm ihren Laptop und ihre Tasche und ging in eine Nische hinüber, von wo aus sie ihren Notizblock im Blick behalten konnte, den sie vor der Mikrofilmstation liegen gelassen hatte, um sich den Platz freizuhalten. Sie ließ sich in einen Sessel sinken, der für eine gemütliche Lesestunde gedacht war, und beschrieb Maddocks ihr Treffen mit Belkin. Sie sprach leise und betrachtete dabei den Regen hinter den deckenhohen Fenstern der Bibliothek.
»Er hat mich erkannt, Maddocks. Ohne jede Frage. Er wusste sofort, wer ich bin. Was mich zu dem Schluss bringt, dass er meine Mutter gekannt hat und dass ich ihr ähnlich sehe. Er weiß , was damals passiert ist, in dieser Nacht. Seine Fingerabdrücke beweisen, dass er dort war. Es ist alles in seinem Kopf, aber er will nicht damit rausrücken. Ich muss einen Weg finden, ihn zu knacken, damit er mir sagt, wer ich bin und was mit meiner Familie passiert ist. Im Moment hat er eine Scheißangst. Er weiß, dass das, was ich habe, ihn direkt wieder ins Gefängnis schicken könnte, dieses Mal vielleicht wegen Mordes. Lebenslänglich.«
Maddocks schwieg einen Moment, dann sagte er sehr leise: »Die Tätowierung auf der linken Seite seines Halses ist eine hellblaue Krabbe.«
Angie runzelte die Stirn. »Von dem Tattoo habe ich dir doch gar nichts erzählt.«
Er fluchte leise.
Eine kalte Unruhe strich durch ihre Brust. »Was ist los?«
Ein weiteres Zögern.
»Maddocks, sag etwas.«
»Du musst aufhören, Angie. Sofort. Du musst mit deiner persönlichen Ermittlung Schluss machen. Du musst mir einfach vertrauen – wenn du weitermachst, bist du in Gefahr. Besonders wenn du Belkins Freiheit bedrohst. Und ich spreche nicht nur von deinem Job. Ich spreche von deinem Leben.«
Wow. Angie blinzelte und versuchte, diesen Schlag aus dem Nichts zu verdauen. Seine Geheimnistuerei war dabei nicht gerade hilfreich. Das verschärfte den unheilvollen Klang dieser Warnung nur noch. Und es ärgerte sie – die Tatsache, dass er nicht offen mit ihr war. Sie war eine verdammt gute Polizistin, weil sie ein Rätsel einfach nicht ruhen lassen wollte – nicht ruhen lassen konnte, bis es gelöst war. Je komplexer ein Problem, desto entschlossener war sie, es aus der Welt zu schaffen. Aufgebracht beugte sie sich im Sessel vor.
»Das kannst du nicht mit mir machen. Du kannst mir nicht einfach sagen, dass ich dir bei so etwas blind vertrauen soll. Du kannst mir nicht sagen, dass mein Leben in Gefahr ist, ohne mir zu verraten, warum.«
Stille.
Sie sprang auf, drückte den Arm fest an die Brust und stellte sich vor die regenstreifigen Fenster. »Maddocks, was willst du mir mitteilen? Geht … geht es darum, dass du Zugang zu vertraulichen Informationen bekommen hast, die mit dieser Task Force in Zusammenhang stehen? Irgendetwas über Belkin?«
»Ich meine es ernst, Angie, ich darf nicht darüber sprechen. Aber ich bitte dich, bitte – lass es bleiben. Wenigstens vorerst. Tu das Richtige. Nimm die erste Fähre nach Hause und sei am Montagmorgen an deinem Social-Media-Schreibtisch. Bleib unter dem Radar und … sei wachsam. Schließ deine Tür ab.«
Der Griff um das Handy wurde fester, sie schloss die Augen und holte tief durch die Nase Luft. Ihr Gehirn kämpfte darum, die Fakten zusammenzusetzen. »Okay«, sagte sie dann langsam. »Dann bist du also zu vertraulichen Informationen gekommen, die etwas mit Milo Belkin zu tun haben. Du weißt von Belkins Tattoo, und das ist irgendwie der Schlüssel. Es ist ein Zugehörigkeitssymbol, vielleicht zu einer Gang? Und Belkin und sein Tattoo stehen wiederum irgendwie mit dem Menschenhandel auf internationaler Ebene in Verbindung, denn das liegt deiner Barcode-Ermittlung schließlich zugrunde. Und wegen des internationalen Bezugs und weil globaler Sexhandel üblicherweise das organisierte Verbrechen auf einem hohen Level involviert, war vermutlich bereits eine Interagency-Ermittlung im Gange. Und du bist dieser Ermittlung zugewiesen worden, was bedeutet, dass du höchste Sicherheitsfreigabe bekommen musstest. Richtig?«
Stille.
Das heizte ihre Frustration noch weiter an. Aber es verriet ihr auch, dass sie auf der richtigen Spur war.
»Die Hand- und Fingerabdrücke bestätigen, dass Belkin damals die blutige Krippenklappe angefasst hat, Maddocks. Er war dort. Er kannte meine Mutter. Er weiß, was mit meinem Mund passiert ist. Sieben Jahre nachdem man mich in der Krippe gefunden hatte, wurde Belkin mit Drogen im Wert von neun Millionen Dollar in einem Kastenwagen gefasst. Es kommt zu einem Schusswechsel. Auch in diesem Bereich ist das organisierte Verbrechen vertreten. Aber Belkin redet nicht – er hat seine Komplizen nie verraten, von denen einer einen VPD Cop erschossen hat. Willst du mir sagen, dass Belkin – oder die Gruppe, zu der er gehört – damals im Jahr 1986 auch in den Sexhandel verwickelt war? Dass meine Mutter vielleicht eine der verschleppten Frauen war …« Es traf sie mit voller Wucht. Sie drückte sich die Hand an die Stirn. »Mein Gott, Maddocks, ich erinnere mich an polnische Worte. Eine Frau hat mir auf Polnisch zugerufen, dass ich in der Krippe bleiben und still sein soll. Wir waren Ausländer.« Sie fluchte, als die möglichen Puzzleteile auf einmal an die richtigen Stellen rückten. »Als das Phantombild von mir durch sämtliche Medien ging, hat sich niemand gemeldet. Niemand in dieser Stadt, nicht einmal in diesem Land, hat mich als Teil seiner Familie beansprucht. Vielleicht waren wir nicht legal im Land – das würde diese Grabesstille erklären, oder? Das würde auch erklären, warum ich das Englisch der Krankenschwestern nicht verstehen konnte … warum mein Leben vielleicht so schlimm war, dass mein Verstand meine frühkindlichen Erinnerungen einfach gelöscht hat, aus purem Überlebenstrieb.«
Nun fluchte auch Maddocks. Angie hörte, dass er umherging, dann wurde eine Tür geschlossen. Der Fernseher im Hintergrund wurde auf einmal leiser. Als Maddocks wieder sprach, klang seine Stimme gedämpfter, ruhiger. »Angie, ich werde dir nichts erzählen, das nicht schon bekannt ist. Und der Grund dafür, dass ich dir überhaupt etwas sage, ist der, dass du dich unbedingt zurückziehen musst, was du, wie ich weiß, aber nicht ohne solide Argumente tun wirst.« Er zögerte, dann fuhr er fort: »Wenn du nach Victoria zurückkehrst, aufs Revier, dann wirst du sicher hören, dass eines der Barcode-Mädchen im Krankenhaus ermordet wurde, während sie unter Polizeischutz stand …«
»Was? Welches von ihnen?«
»Die Älteste. Sie war die Einzige, die mit mir gesprochen hat. Sie hat mir eine Aussage gegeben und wurde in der kommenden Nacht in ihrem Krankenhausbett ermordet. Ihr wurde bei lebendigem Leib die Zunge herausgeschnitten.«
Angie schluckte, ihr war übel.
»Dann ist diese Interagency Task Force unter der Schirmherrschaft der RCMP angerauscht gekommen und hat die Zuständigkeit für sich beansprucht – sie haben O’Hagan die Leiche vom Tisch geklaut, unsere Forensiker rausgeschmissen und sich sämtliche Beweise unter den Nagel gerissen.«
Ihr Herz schlug schneller. »Wie hängt Belkin da mit drin?«
Er räusperte sich. »Hör zu, ich kann nicht …«
»Maddocks, tu mir das nicht an. Gibt es irgendetwas, das du mir sagen kannst – irgendetwas, das ich vielleicht auch selbst herausgefunden haben könnte?«
»Angie …«
»Herrgott noch mal, komm schon, bitte! Gib mir irgendetwas. Ich werde nämlich auf keinen Fall einfach ohne gute Gründe einen Rückzieher machen, Maddocks.«
Ein weiterer Fluch. Ein kurzes Schweigen. Dann sagte er leise: »Davon werden die Medien berichten – es wird öffentliches Wissen werden: Ein Paar in Squamish ist vor drei Nächten bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Das Feuer wurde sehr wahrscheinlich durch eine Propangasexplosion ausgelöst.« Er hielt inne. »Der Mann war querschnittsgelähmt, und sein Name war Stirling Harrison. Er war der unschuldige Passant, der bei der Drogenschießerei im Jahr 1993 festgenommen wurde, bei der man Belkin in Gewahrsam genommen hat.« Eine weitere Pause. »Schau nach, wer Belkin vor Gericht vertreten hat.«
Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, um diese Bruchstücke zu einem sinnigen Bild zusammenzusetzen, aber es gelang ihr nicht. Noch nicht. Allerdings konnte sie darüber recherchieren.
»Ich kenne dich, Angie. Ich weiß, dass du auf stur stellen und das Ding auf deine eigene Weise durchziehen willst, aber ich lehne mich hier weit aus dem Fenster. Ich erzähle dir das alles, weil …« Noch ein Fluchen, dieses Mal fast brutal. »Weil ich glaube, dass ich dabei bin, mich in dich zu verlieben, okay? Und du bist mir wichtig , verdammt noch mal. Ich will dich bei mir haben, in meinem Leben – ich will dich sicher in Victoria wissen, wenn ich zurückkehre. Ich will dich, ich will, dass du nach deiner Probezeit noch da bist. Ich will …« Seine Stimme wurde heiser. »Ich will den Frühling und den Sommer mit dir verbringen, Angie. Ich will mit dir kajaken. Ich will aufs Meer rausfahren – an dem alten Boot arbeiten, auf Deck grillen, mit dir und Ginny. Ich will den Herbst und den nächsten Winter mit dir verbringen, verdammt. Ich will eine normale Beziehung haben, wenn sich alles wieder beruhigt hat. Ich will sehen, ob das hier funktionieren kann. Du musst am Leben bleiben.«
Der Schock traf sie schwer. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Sein Traum. Der Traum, den er zu retten versucht. Sein altes Holzboot, Familie … seine Vision von einer Reise die Küste hinauf. Er will mich dabeihaben.
»Sei für mich da, okay? Ich bin es auch für dich.«
Angie konnte nicht sprechen – die Worte steckten ihr in der Kehle fest.
»Ich vertraue dir«, sagte er leise. »Ich vertraue darauf, dass du das Richtige tust.«
Ich könnte seine Karriere zerstören, wenn ich auf die vertraulichen Informationen reagiere, die er mir gegeben hat.
Sie drückte sich die Hand auf den Mund. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Seine Worte, so voller ungezähmter Gefühle, waren wie aus dem Nichts gekommen. Ihr war schwindlig, es hatte ihr den Atem verschlagen, und sie konnte nicht denken. Diese Worte hatten ihr alle Schutzschichten geraubt. Ein Strudel der Gefühle toste in ihrer Brust – Zärtlichkeit, Angst, Trauer, Wildheit. »Ich … ich muss gehen, Maddocks«, sagte sie rasch und legte auf.
Da stand sie. Regentropfen liefen über die Glasscheibe und der Himmel wurde allmählich dunkler, während der abendliche Nebel herankroch. Ein Abgrund – sie fühlte sich, als würde sie am Rand einer Schlucht balancieren, während sich unter ihr ein schwarzer Schlund auftat, und nun hatte er sie gebeten, sich vorzubeugen und sich in das Ungewisse fallen zu lassen.
Vertrau mir.
Er sprach nicht nur von dem Fall. Er hatte sie aufgefordert zu springen, aber sie wusste nicht, ob sie das konnte. Sie wusste nicht einmal, wer sie sein wollte. Ob sie überhaupt jemand sein konnte, solange sie nicht wusste, wer sie wirklich war. Ihr ganz eigenes Selbstgefühl war ihr entrissen worden, als sie erfahren hatte, dass sie in dieser Krippe gefunden worden war. Und dann gleich noch einmal, als man ihr gesagt hatte, dass sie ein Zwilling war. Wie konnte sie ihn lieben, aus vollem Herzen, solange sie nicht heil und ganz war?
Sie musste erst ihre andere Hälfte – ihre Zwillingsschwester – finden. Sie musste jenen dunklen Schatten suchen und entlarven, der sie heimsuchte, wann immer sie in den Spiegel blickte – die Besitzerin dieses kleinen verlorenen Fußes.
Wieder kam ihr ein altes Gedicht in den Sinn, wie so oft, wenn sie auf der Suche nach einer anonymen Eroberung in ihren Stammclub gekommen war.
Zerbrochenes Gesicht
Im Spiegel,
du bist meine Schmach …
eine Sünderin
Nein. Da war keine Sünderin im Spiegel. Meine Schwester. Meine verlorene Hälfte. Meine DNS. Irgendwo dort draußen.
Auf einmal heulte der Wind durch die Steinsäulen vor dem Gebäude, und der Regen schlug hart gegen das Fenster. Im Klagen des Windes hörte sie wieder jenes leise Wispern.
Komm … komm spielum dum Wald. Hilfe. Hilf mir, Roksana.
fleuron
Maddocks starrte sein Abbild im Badezimmerspiegel seines Hotels an. Er hatte die Hände auf den Waschtisch gestützt. Vor ihm, neben dem Waschbecken, lag das Handy. Im Nebenraum murmelte der Fernseher vor sich hin. Er hatte das Revier verlassen, um Angie ungestört anrufen zu können. Er hatte behauptet, noch etwas erledigen zu müssen. Diese Worte und Gefühle waren einfach so, wie mit eigenem Willen aus seinem Mund gekommen, und nun konnte er sie nicht mehr zurücknehmen oder ungehört machen. Er hatte all das nicht sagen wollen, aber er meinte es ernst – er würde es nicht ertragen, sie zu verlieren. Er konnte die Verantwortung, sie nicht zu warnen, nicht schultern. Wie Takumi, der ihn nicht davor gewarnt hatte, in welcher Gefahr Tarasov und die anderen Barcode-Mädchen schwebten.
Aber war es genug?
Würde er es bereuen, nicht härter vorgegangen zu sein? Nicht mehr Druck ausgeübt zu haben? Ihr nicht mehr Informationen gegeben zu haben? Oder weniger? Würde er dafür bezahlen, dass er bei Operation Ägis nichts von dem erzählen würde, was er von Angie erfahren hatte? Dass Milo Belkin mit dem Krippenfall aus dem Jahr 1986 in Verbindung stand. Mit dem Verschwinden eines kleinen polnischen Mädchens, eines Mädchens, das eine Zwillingsschwester gehabt hatte, deren Fuß letzte Woche bei Tsawwassen angespült worden war. Und dass Angie Pallorino, ihre Schwester und ihre Mutter möglichweise Opfer des russischen Menschenhandelsrings gewesen waren, zu dem Belkin und seine Komplizen gehörten.
Würde es negativ auf ihn zurückfallen, wenn er Ägis nicht sagte, dass sich Angie mit Belkin getroffen hatte?
Er fuhr sich mit beiden Händen übers Haar und rief sich in Erinnerung, dass Belkin seit Jahrzehnten im Gefängnis saß. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er aktiv in etwas verwickelt war, das mit Ägis in Verbindung stand. Es war schlicht und einfach seine Zugehörigkeit zum organisierten Verbrechen, die Angie in Gefahr brachte – die Tatsache, dass die Mafia auf die Ihren aufpasste und aus diesem Grund möglicherweise schon Stirling Harrison und seine Frau getötet hatte.
Außerdem, falls Pietrikowski seine Sache richtig machte, dann würden ihn die DNS-Beweise aus Voights altem Fall ohnehin schon bald zu Belkin führen.
Maddocks musste einfach darauf vertrauen, dass Angie auf ihn hörte – dass sie die Hinweise, die er ihr gegeben hatte, verstehen und die Gefahr erkennen würde. Dass sie sich wegducken und stillhalten würde.