KAPITEL 41
Eine weibliche Stimme drang durch die Sprechanlage der Bibliothek. »Die Vancouver Library schließt in zwanzig Minuten. Bitte beenden Sie Ihre Aufgaben …«
Aber Angie hörte es kaum. Fest in ihre Beute verbissen, blendete sie die Stimme der Frau aus und tippte rasch eine Reihe von Schlüsselwörtern in eine Suchmaschine ein: MORD, PROSTITUTION, HERAUSGESCHNITTENE ZUNGEN.
Dann drückte sie auf ENTER.
Diverse Links zu Zeitungsartikeln erschienen auf dem Bildschirm ihres Laptops, darunter auch Bezüge auf eine mythische Mordmethode namens »Kolumbianische Krawatte«. Sie ignorierte diese Links und klickte auf einen CBC-Bericht aus Montreal. Letzten Sommer war der nackte und mit Blutergüssen bedeckte Leichnam einer nicht identifizierten Frau auf einem verlassenen Grundstück gefunden worden. Man hatte ihr die Zunge herausgeschnitten. Sie war Tänzerin in einem russischen Nachtclub gewesen, dessen Verbindungen zur Mafia bekannt waren. Es wurde spekuliert, dass dies ein Mafiamord gewesen war, wobei die herausgeschnittene Zunge als eine Art Warnung hatte fungieren sollen.
Angie suchte nach weiteren Informationen zu diesem Mord, fand aber in den Medien nichts mehr darüber. Zugegeben, ihre Suche war sehr oberflächlich, aber es schien in diesem Fall keine Verhaftungen gegeben zu haben, und es wurde auch nicht darüber berichtet, dass man die Tote je identifiziert hatte.
Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Wenn diese Task Force, zu der Maddocks nun gehörte, der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlag, und falls dieser Mordfall in den Zuständigkeitsbereich dieser Task Force fiel, dann war es sehr wahrscheinlich, dass weitere Details – etwa das Barcode-Tattoo – den Medien vorenthalten worden waren.
»Die Bibliothek schließt in zehn Minuten. Bitte begeben Sie sich mit Ihren Büchern zum Ausgang …«
Sie musste sich beeilen. Natürlich konnte sie dieser Spur später von ihrem Hotel aus weiter nachgehen, aber sie konnte einfach nicht aufhören.
Schau nach, wer Belkin vor Gericht vertreten hat.
Eilig tippte sie ANWALT MILO BELKIN.
Dann öffnete sie den ersten Nachrichtenlink der Suchergebnisse – einen Bericht über Belkins Gerichtsverhandlung nach dem Drogenfund. Sein Anwalt war Viktor Abramov von Abramov, Maizel und Dietch.
Sie gab ABRAMOV MAIZEL DIETCH ein.
Überrascht las sie die Ergebnisse auf dem Bildschirm. Dieselbe Kanzlei hatte auch Belkins Mitbeschuldigten im Drogenfall damals, Semyon Zagorsky, vertreten. Offenbar war die Kanzlei berüchtigt dafür, mutmaßliche Angehörige der russischen Mafia in prominenten Fällen in Montreal und anderen Landesteilen, darunter auch Vancouver, zu verteidigen.
Anwälte der russischen Mafia? Ist es das, was Maddocks mir sagen will? Dass Belkin und Zagorsky bekanntermaßen Mitglieder des organisierten russischen Verbrechens sind und dass deren Leute außerhalb des Gefängnisses möglicherweise Zagorskys querschnittsgelähmtes Opfer verbrannt haben?
Hektisch tippte Angie VIKTOR ABRAMOV in das Suchfeld. Sie engte die Suche auf die Achtziger und Neunziger ein. Dann klickte sie auf einen im Jahr 1991 digitalisierten Artikel aus der East Side Weekly über den »Fehler« einer Tänzerin.
Tänzerin aus dem Club Orange B zieht Vergewaltigungsklage zurück
EAST VANCOUVER: Nur wenige Tage bevor der Einwohner East Vancouvers Milo Belkin wegen sexueller Gewalt an der exotischen Tänzerin Nadia Moss vor Gericht hätte erscheinen sollen, erklärte Moss den Medien, dass sie sich bei der Identifikation ihres Angreifers geirrt habe, der sie vergewaltigt und mit einem Baseballschläger schwer verletzt hatte. Er brach ihr die Nase, den Wangenknochen, einen Arm und ein Bein und ließ sie zum Sterben in einer Gasse in der Nähe des Clubs zurück, in dem sie gearbeitet hatte. Moss hätte bei dem Prozess gegen Belkin vor Gericht aussagen sollen, zog stattdessen jedoch ihre Aussage bei der Polizei zurück. Aktivisten in East Vancouver hatten sich des Falls der Tänzerin angenommen und ihr kostenlos einen Anwalt zur Verfügung gestellt.
Allerdings suche die Polizei nicht nach neuen Verdächtigen, so Mediensprecherin Leanne Benton vom VPD.
Moss, die sich langsam von ihren Verletzungen erholt, arbeitet nun als Barmanagerin im Club Orange B. Reportern gegenüber erklärte sie, wie dankbar sie ihren Arbeitgebern sei, die zu ihr gestanden und ihr diese Position angeboten hätten, die ihr bei ihrer vollständigen Genesung helfen werde.
Belkins Anwalt Viktor Abramov sagte, dass sein Mandant seine Unschuld stets beteuert habe und dass er Moss dankbar sei, weil diese den Mut aufgebracht habe, ihren Fehler einzugestehen.
Angie runzelte die Stirn. Eine Beförderung für Nadia Moss als Bezahlung dafür, dass sie ihre Vergewaltigungsklage zurückgezogen hatte? Sie tippte SQUAMISH GASEXPLOSION FEUER TOT.
Ganz oben erschien ein aktueller Artikel aus der Vancouver Province. Sie öffnete und las ihn.
Paar stirbt bei Hausbrand
SQUAMISH: Die Feuerwehr wurde in den frühen Morgenstunden des vergangenen Mittwochs zu einem Brand in der Valleycliffe-Unterabteilung gerufen. Der Notruf ging um 3:10 Uhr ein, als Einwohner der Eagle Street eine Explosion hörten und daraufhin durch das Fenster sahen, wie das Haus von Stirling und Elaine Harrison vollständig von Flammen eingehüllt wurde. Nachdem das Feuer gelöscht war, fand man die nahezu vollständig verbrannten Leichen des Ehepaars Harrison. Die Polizei wurde aus Arson hinzugezogen, aber bisher scheint es sich Feuerwehrchef Eddie Beam zufolge um einen tragischen Unfall gehandelt zu haben.
Ein Zeuge, der noch versucht hatte, ins Haus zu kommen, sagte aus, dass er Elaine Harrison noch im Garten gesehen habe, doch dann sei sie ins brennende Haus zurückgelaufen, um ihren querschnittsgelähmten Ehemann zu retten.
Angie gab STIRLING HARRISON ein. Ihr Herz machte angesichts der erscheinenden Artikel einen Satz. Dabei ging es um den Drogenfund am 20. November vor fünfundzwanzig Jahren und um Milo Belkins und Semyon Zagorskys Festnahme.
Stirling Harrison war tatsächlich der unschuldige Passant gewesen, der eine Kugel in den Rücken bekommen hatte und von da an für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt gewesen war.
»Die Türen der Bibliothek schließen …«
Hastig las Angie weiter und dabei wurde ihr immer heißer. Kurz nachdem Elaine Harrison die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Mann nie wieder würde laufen können und dass er dadurch seinen gut bezahlten Job als Hydrotechniker verlieren würde, weil er nicht mehr in großer Höhe arbeiten und für die Reparatur und Wartung der Wassertürme der Provinz British Columbia würde sorgen können, schwor sie den Reportern unter Tränen, dass sie und ihr Ehemann bei Semyon Zagorskys Gerichtsverhandlung höchst wirkungsgewaltige Victim Statements abgeben würden.
Elaine Harrison hatte außerdem versprochen, dass sie ihren im Rollstuhl sitzenden Ehemann zu jeder Bewährungsverhandlung schieben würde, die Zagorsky möglicherweise gewährt werden würde, um dem Bewährungsausschuss vor Augen zu führen, wie Zagorsky ihre Lebensgrundlage und ihre Familie in ihrer bis dahin bekannten Form zerstört hatte.
Angie suchte weiter, dann durchfuhr sie ein Schreck.
Semyon Zagorsky war derzeit in der Kelvin Maximum Security Institution in British Columbia inhaftiert. In zwei Tagen würde seine nächste Anhörung vor dem Bewährungsausschuss stattfinden. Und dieses Mal würden seine Opfer – Stirling und Elaine Harrison – nicht anwesend sein. Weil sie tot waren.
Angie gab den Namen SEMYON ZAGORSKY ein.
Ein Nachrichtenfoto aus der Zeit seiner Verurteilung erschien auf dem Bildschirm.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie starrte das Bild an. Sie konnte nicht atmen. Ein hohes Sirren schrillte in ihren Ohren und ihre Sicht verengte sich. Sie wurde in einen schwarzen Strudel gezogen, hinab, hinab … an jenen dunklen Ort ihrer Kindheit, an den Alex sie unter Hypnose geführt hatte. Auf einmal war sie wieder dort, zwischen den hohen Zedern, rennend im Sonnenlicht, durch Löwenzahn, salzigen Wind im Haar. Ihr Kleid bauschte sich wie ein Zelt in der Brise. Aufblitzen des blauen Meeres zwischen den Baumstämmen. Kleine Schuhe vor ihr – sie jagte ihnen nach. Beine, weiß unter einem rosa Kleid mit Rüschen, liefen vor ihr her durch das smaragdgrüne Gras.
»Mila!«, rief sie. »Stopp, Mila, warte …« Ein Kinderlachen. »Beeren, Beeren, schwarze Beeren … Körbe … zwei kleine Kätzchen …«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Kleinen!« Die Männerstimme ließ die Szene einfrieren. Alles wurde grau. Dann tauchte aus dem Grau eine Schachtel auf. Eine Schuhschachtel. Mit einer großen helllila Schleife. Riesige Hände hielten die Schachtel, mit Haaren auf den Handrücken. Eine Krabbe auf der Innenseite eines Handgelenks. Eine hübsche Krabbe. Eine hellblaue Krabbe, wie eine Spinne. Und auf einmal sah sie die Unterwasseraufnahmen in Jacob Anders’ Labor. Der Krake kam herabgerauscht. Stürzte sich auf den Taschenkrebs. Tötete und verschlang ihn in einer aufsteigenden Wolke aus Schlick und Seepocken.
Die Angst schloss sich wie eine Schlinge um Angies Hals. Langsam, ganz langsam sah sie von der blauen Krabbe auf der weißen Haut auf, ganz nach oben. In die Augen des Mannes, der ihr die Schachtel mit der lila Schleife hinhielt. Funkelnde Augen. Blau wie die Krabbe. Strahlend blau. Freundlich. Gütig. Sie sah tief in die scharfen, leuchtend blauen Augen … und genau in das Gesicht, das ihr nun vom Computerbildschirm entgegensah.
Eine Hand senkte sich auf ihre Schulter. Eine Stimme donnerte in ihren Ohren, in ihrem Kopf. »Für meine Mila, und ein dazu passendes Paar für Roksana.« Sein Lächeln war breit und groß. Es wärmte ihr Herz. Aber … auf einmal rannte sie vor ihm weg. Panik im Bauch. Der Wald und das Sonnenlicht und das Meer wirbelten kaleidoskopisch um sie herum, zogen sie fort … und da war Schnee um sie herum … Sie rannte … Sie sah diese Schuhe durch den Schnee rennen … Heim, heim, heim, ich will heim … »Alex, hol mich HEIM!«
Uciekaj, uciekaj! … Wskakuj do srodka, szybko! … Siedz cicho! Ein Silberblitz, Schmerz … Angie schrie …
»Ma’am. Ma’am.« Die Hand auf ihrer Schulter schüttelte sie fester. »Ist alles in Ordnung?«
Sie blinzelte und ihr Blick fuhr nach oben. Es war der Bibliothekar. Ein junger Mann. Dunkelhaarig. Mit besorgter Miene. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Ich … ich, Gott, nein.« Sie sprang auf. Ihre Haut war feucht. Sie konnte ihren eigenen Schweiß, ihre Angst riechen. Sie klappte den Laptop zu und begann blind, ihre Sachen zusammenzusammeln. »Mir geht’s gut.«
»Sie haben geschrien.«
»Ich … es tut mir leid.« Rasch steckte sie den Laptop in ihre Umhängetasche, zusammen mit dem Notizblock und den Akten. Dann hängte sie sich die Tasche über die Schulter. »Es tut mir wirklich leid. Ich muss eingeschlafen sein, und ich hatte einen schlimmen Albtraum.« Sie griff nach ihrem Mantel und eilte die Treppe hinab auf den Ausgang zu. Mit hochrotem Gesicht stieß sie die Türen auf.
Sobald sie draußen war, blieb sie stehen, ließ sich vom Regen das Gesicht kühlen und spürte den Wind, der an ihrem Haar zog. Bebend holte sie Luft, dann wischte sie sich mit dem Ärmel über den Mund.
Er war es. Der Mann, den sie unter Hypnose gesehen hatte. Ein Mann mit einem Krabbentattoo, das genauso aussah wie das von Milo Belkin. Nur dass er es am Handgelenk trug. Es war Semyon Zagorsky, der ihr – und vielleicht auch ihrer Schwester – diese Schuhe gegeben hatte. Als Geschenk. Mit einer lila Schleife. Auch Zagorsky, Belkins Komplize, wusste, wer sie war. Offenbar hatte sie ihm so sehr am Herzen gelegen, dass er ihr Geschenke gemacht hatte. Sie hatte seine Augen gemocht. War er mit Belkin in jener Nacht bei der Krippe gewesen? Der zweite Mann vielleicht? Aber auch wenn nicht, musste er doch wissen, was vorgefallen war, angesichts seiner Bekanntschaft mit Belkin in den darauffolgenden Jahren.
Konnte er ihr Vater sein?
Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie morgen früh nicht sofort nach Kelvin hinausfahren würde. Dieser Mann, Mafiaverbindungen hin oder her, war Teil ihrer Vergangenheit, und er könnte ihr Vater sein. Sie musste ihm ins Gesicht sehen. In diese blauen Augen. Und selbst wenn er ihr nichts verriet, dann würde sie sich bei seinem Anblick vielleicht an etwas erinnern.