KAPITEL 44
Sonntag, 7. Januar
Es war Sonntagmorgen, und Kjel Holgersen hatte frei. Da der Großteil der Ermittlung in Sachen Amanda Rose nun mit Maddocks nach Surrey verlagert worden war, ließ der Druck allmählich nach. Wenn Kjel ein Leben oder eine wenigstens halbwegs anständige Wohnung gehabt hätte oder ein Hobby oder so was, dann wäre er vielleicht einfach zu Hause geblieben. Aber all das hatte er nicht. Zu Hause zu bleiben, allein, ohne so todmüde zu sein, dass er nur noch ins Bett fallen konnte, und ohne etwas, das seine Gedanken beschäftigt hielt, war gefährlich – diese Erfahrung hatte er bereits gemacht. Dann stiegen die Schatten aus den Schubladen seines Verstandes hervor. Dann begannen die Dämonen zu tanzen und ihn mit ihren dunklen Versprechen zu locken. Also war er nun hier, um elf Uhr vormittags, hungrig und mit Appetit auf den Sonntagsbrunch des Flying Pig Bar and Grill: Würstchen, Ahornsirup, Speck und eine gewaltige Portion Pfannkuchen. Günstig, mit vielen Kohlenhydraten und viel Fett. Dazu so viel Kaffee, wie man trinken konnte.
Er stieß die Holztüren des Pubs auf und sog den Duft nach brutzelndem Speck und frisch gebrühtem Kaffee in sich auf. Dazu das vertraute Hintergrundsummen der Polizeibar.
»Ganz wie zu Hause, Jack-O, mein Junge«, sagte er und schlenderte zur Bar, um seine Bestellung aufzugeben. Jack-O rührte sich nicht in der Babytrage, in die Kjel ihn gesteckt hatte. Die Trage hing warm vor Kjels Bauch, die Bomberjacke hatte er halb darüber zugezogen. Der Hund wusste, was gut war – vermutlich hatte er Angst, man würde ihn beim leisesten Mucks wieder aus der Trage holen. Das Gefühl des kleinen pochenden Herzens des alten Kläffers – sein warmer dreibeiniger Körper, so vertrauensvoll an ihn gekuschelt –, es versetzte Kjel einen seltsamen Stich. Es rührte an Dinge, mit denen er nicht umgehen konnte, aus Angst, es würde ihn wieder über die Kante treiben. Und dieses Mal hätte er wirklich keine Ahnung, wie er diesen endlos ansteigenden Hügel wieder erklimmen sollte.
»Jo, Colm«, rief er McGregor zu. Der große rothaarige und rotbärtige Schotte kam zu Kjels Ende der Bar herüber, seine Schürze du jour um den strammen Oberkörper gebunden, es war jeden Tag eine andere. Das war sein Tick. Auf der heutigen stand: BRUNCH = VORWAND, UM SCHON AM VORMITTAG MIT DEM SAUFEN ANZUFANGEN.
»Was darf’s sein, Detective?«
»Zweimal das Brunchmenü. Eins davon zum Mitnehmen.«
McGregor wischte sich die Hände an einem weißen Handtuch ab und gab die Bestellung ins System ein. »Haben Sie heute ein Loch im Magen?« Er sah auf und musste dann noch einmal hinsehen. »Was haben Sie denn da?« Mit dem Kinn deutete er auf die Babytrage.
»Der da kriegt die zweite Portion.«
»Ein Baby?«
Kjel beugte sich zur Seite, damit McGregor in die Trage spähen konnte. »Sieht das für Sie wie ein Baby aus?«
McGregor runzelte die Stirn, dann stieß er ein bellendes Lachen aus. »Das ist doch Maddocks’ Hund«, verkündete er in seinem vollmundigen schottischen Akzent.
»Der Boss lässt mich babysitten.«
Der Wirt hob die buschigen roten Brauen. »Da vertraut der Hund Ihnen aber. Dass er so still in dieser Babytrage sitzt.«
»Jeder vertraut irgendwem.«
Kjel drehte sich zur Seite und ließ den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem freien Tisch, während McGregor seine Bestellung durch die Durchreiche in die Küche rief. Da fiel Kjels Blick wieder auf dieses seltsame Paar: Leo und Grablowski. Versteckt in einer Nische ganz hinten im Pub, über ihre Kaffeebecher und halb leer gegessenen Teller vor ihnen gebeugt. Eine finstere Vorahnung überkam Kjel. Misstrauen, Verdacht. Neugier. Er dachte an den Artikel, den Leo ihm gezeigt hatte, darüber, dass Pallorino das Engelskrippenkind war.
Er schlenderte zu der Nische hinüber.
Als er sich näherte, rief Grablowski jemanden über sein Handy an. Leo sah ihm zu, interessiert vorgebeugt.
»Jo«, rief Kjel. »Was geht, Leute? Können wir uns dazusetzen?«
Grablowskis Kopf ruckte nach oben. Er senkte die Brauen und sah Leo scharf an, als wollte er sagen: Schaff dieses Arschloch hier weg. Leo klappte den Mund auf, aber bevor er protestieren konnte, schob sich Kjel schon mit Jack-O auf die Polsterbank neben den ruppigen alten Detective.
»Was zum Teufel ist das denn?«, fragte Leo beim Anblick der Babytrage.
Kjel grinste ihn an. »Hast du ’ne Ahnung, wie kalt es da draußen ist? Da is Winter. Der kleine dreibeinige alte Mann hier mag’s nich, wenn’s kalt is. Und an der Leine is er auch nich mehr der Schnellste. Also hab ich ihm eine Trage besorgt.«
»Eine Babytrage ? Willst du mich verarschen?«
»Eine ergonomische Babytrage. Hab ich im Bergsteigerladen gekauft. Sauteurer Goretex-Kram. Gut für Mamis Rücken und so. Und für die Haltung von dem Baby.«
»Es ist ein Hund, Holgersen. Du kannst ja nicht mal die Arm- und Beinlöcher benutzen.«
Kjel neigte den Kopf Grablowski zu, der sich auf seinem Platz zur Seite gedreht hatte, in dem Versuch, Holgersen aus dem Gespräch, das er via Handy zu führen versuchte, auszuschließen.
»Er telefoniert. Macht dir das was aus?«, fragte Leo.
»Er kann doch woanders telefonieren …« Mitten im Satz hielt Kjel inne, um zu lauschen.
»Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance«, sagte Grablowski gerade mit dem Rücken zu Leo und Kjel. »Noch können Sie bei dem Deal einsteigen … Ja. Ja, ich weiß, dass das Ihre Lebensgeschichte ist, Detective, aber sie wird veröffentlicht werden. Wenn nicht von mir, dann von irgendjemand anderem. Auf diese Weise haben Sie wenigstens die Kontrolle darüber …«
»Sie können mich mal, Grablowski.«
Kjel hörte ihre Stimme, laut und deutlich, als sie Grablowski anschrie. »Pallorino?«, frage er Leo leise.
Leo zuckte mit den Schultern. Aber da war ein kleines Funkeln in den Augen dieses Mistkerls.
»Ich habe heute Morgen Gerüchte gehört, als ich kurz auf dem Revier vorbeigeschaut habe«, sagte Kjel. »Ich hab gehört, sie wurde gefeuert.«
Leo schnaubte. »War auch Zeit. Das war für Grablowski der letzte Schubser. Jetzt muss er sich keine Sorgen mehr darüber machen, dass das MVPD ihm keine Aufträge mehr gibt, weil er eine Polizistin bloßgestellt hat. Jetzt ist sie nämlich eine in Ungnade gefallene Ex-Polizistin.«
»Hast du was damit zu tun, dass man sie abgesägt hat?«
»Schön wär’s.«
»Was war’s dann?«
»Keine Ahnung.«
Kjel musterte ihn. »Du musst doch was wissen.«
»Ehrlich, keine Ahnung.«
In abgehacktem Tonfall sprach Grablowski in sein Handy: »Na gut. Ich lasse Ihnen noch bis Mitternacht Zeit, auf den Zug aufzuspringen. Das offizielle Buchangebot ist am Freitag eingetroffen. Gestern habe ich mich mit meiner Agentin getroffen. Am Montag werden wir unterschreiben, mit Ihnen oder ohne Sie. Außerdem habe ich ein Angebot von DayLine TV vorliegen. Dort läuft diese Serie über ungeklärte Kriminalfälle, und sie haben Interesse an einem Podcast plus regelmäßiger Updates und Interviews, während die Ermittlung voranschreitet. Mein Publizist wird sich am Montag mit meinem Buchvertrag an die Medienvertreter wenden.«
Kjel hörte Pallorinos scharfe Antwort durchs Telefon: »Wenn Sie meine Geschichte veröffentlichen, dann breche ich Ihnen das Genick, Sie Arschloch.«
Kjel lächelte. Das Mädel hatte Mumm.
Grablowski legte auf und drehte sich auf seinem Sitz wieder nach vorn. Sein Gesicht war gerötet. Er nahm die Brille ab, polierte sie mit einer Serviette und schob sie sich dann wieder auf die Adlernase.
Die Kellnerin kam mit Kjels Kaffee.
»Oh, ist das süß«, gurrte sie und streckte die Hand aus, um Jack-O, der nun aus der Babytrage herauslinste, den Kopf zu tätscheln. Der Jack Russel bleckte die Zähne und knurrte. Die Kellnerin riss die Hand zurück.
Kjel zuckte mit den Schultern, musste aber zugeben, dass ihn die trotzige Haltung des Hundes ein wenig stolz machte. »Er is alt. Was kann man da sagen, hm?«
»Tja, Sie mag er jedenfalls.«
»Ja.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, das sie erwiderte. Es ließ ihre Augen hübsch aufleuchten und färbte ihre Wangen rosa. »Den Rest bringe ich Ihnen gleich.«
»Der Hund steht mir irgendwie, was?«, fragte er an Leo gewandt, während er der Kellnerin nachsah.
»Ja. Klar. Macht dich zum reinsten Frauenmagnet.«
Kjel achtete gar nicht darauf und richtete den Blick stattdessen auf Grablowski. »Dann geht’s Ihnen bei diesem Buchdeal über Pallorinos Story gar nicht nur ums Geld, es gefällt Ihnen auch, was?« Er trank einen Schluck Kaffee.
»Stimmt.«
Kjel ließ die Tasse auf halbem Weg zwischen Mund und Tisch in der Luft hängen. »Sie sind immer noch stinkig, weil Sie Ihnen den Buchvertrag über Spencer Addams vermasselt hat. Ist es das?«
Grablowski schob sich das Handy in die Brusttasche. »Das Vergnügen mal beiseitegelassen, dieser Deal ist viel besser als der erste. Sie wäre gut beraten, wenn sie mitmacht.«
»Scheiße, es is ihre Geschichte.«
»Aber sie wird ihr aus der Hand genommen werden. So hätte sie wenigstens einen gewissen Einfluss über Richtung und Inhalt der Berichterstattung.«
»Und außerdem darf sie dann mit Ihnen zusammenarbeiten. Uuuh – toll!«
Grablowski erwiderte Kjels Blick unverwandt. »Und Sie, Detective? Was wollen Sie?«
»Ein bisschen gute Gesellschaft zum Brunch.« Er schenkte Grablowski ein wildes Grinsen.
Sein Essen kam – eine Portion zum Mitnehmen, ein gewaltiger Teller voller Würstchen und Speck und noch einer mit Pfannkuchen. Kjel griff nach dem Ahornsirup und ertränkte alles großzügig darin. »Sicher frisch gezapft von Bäumen aus Quebec«, kommentierte er und hob die Flasche anerkennend in die Höhe, bevor er sie auf den Tisch stellte. Dann nahm er Messer und Gabel und erhaschte dabei einen Blick auf den schwarzen Schriftzug, der auf dem Deckel der Mitnehmportion prangte. MASTER JACK. »Hey, schau dir das an, Jack-O-Boy.« Mit dem Messer deutete er auf die Schrift. »Master Jack. Gefällt mir.«
Der Hund steckte nicht einmal den Kopf aus der Trage. Kjel begann zu essen.
»Ist der Brunch da für den Hund?«, fragte Leo.
»Jep.«
»Hunde brauchen Hundefutter«, brummte Leo.
»Du musst’s ja wissen, was, Leo?« Dann wandte er sich kauend an Grablowski. »Wo ist sie? Pallorino?«
Er zuckte mit den Schultern. »Im Auto. Fährt gerade irgendwohin.«
»Was war mit ihrem Job und mit Vedder?«
Grablowski griff nach seiner Tasse. »Das weiß ich noch nicht.«
»Wenn’s ’ne gute Geschichte ist, dann kommt sie gleich Montagmorgen raus, was?«, fragte Kjel mit vollem Mund.
»Stimmt.«
Kjel mustert ihn, während er schluckte. Dann schob er sich eine weitere Gabel voll Würstchen und Ei in den Mund. Kauend grübelte er darüber nach, was für eine holprige Zeit Pallorino bevorstand. Das MVPD würde ihr nicht zu Hilfe kommen, wenn es losging.
Er griff nach seinem Kaffee und spülte den Bissen mit einem heißen Schluck herunter. Die Gesellschaft in dieser Nische hinterließ einen ziemlich faden Nachgeschmack. Als er gerade seine Pfannkuchen anschnitt, klingelte sein Handy. Er legte die Gabel weg, wischte sich den Mund ab und ging ran.
»Holgersen.«
Während er zuhörte, wurde er ganz still. Er warf Leo einen Blick zu, der ihn nicht aus den Augen ließ.
»Ja. Bin auf dem Weg.« Er legte auf.
»Was war das?«
»Die russische Dolmetscherin, die uns bei der Aussage von dem toten Barcode-Mädchen geholfen hat – gerade haben sie ihren kleinen blauen Yaris aus dem Duck Lake beim Highway nach Sooke gefischt.«