KAPITEL
45
Angie fluchte, nachdem sie Grablowskis Anruf abgewürgt hatte. Sie ballte die Hände um das Lenkrad zu Fäusten und trat aufs Gas. Der leere Highway stieg allmählich an und wand sich um die sanften Hügelkuppen der winterlichen graubraunen Graslandschaft. Sie war auf dem Weg zur Kelvin Maximum Security Institution. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett – sie kam gut voran. Ihre Wut auf Grablowski trieb sie an.
Zusammenarbeiten? Arschloch.
Das hier war ihre Geschichte. Tausendprozentig. Sie gehörte ihr. Und sie würde sie zu Ende bringen.
Trotzdem ließ Grablowskis Ultimatum die Uhr nun ticken, denn sobald die Nachricht darüber losbrach, dass sie das geheimnisvolle Krippenkind war und eine Zwillingsschwester hatte, deren Fuß gerade an der Küste angetrieben worden war, und dass sie außerdem eine in Ungnade gefallene Polizistin war, die ihr gesamtes Magazin auf Spencer Addams abgefeuert hatte und nur knapp selbst einer Strafanzeige entkommen war, wären ihr die Hände gebunden. Sie musste Zagorsky in die Augen sehen, bevor Pietrikowski oder irgendein anderer diese Stichpunkte miteinander verband.
Angie überholte einen Sattelschlepper, der den Pass hinaufkroch. Während sie immer weiter bergan fuhr, wurde die Landschaft allmählich weiß. Zu beiden Seiten erstreckten sich nun Flächen brutal kahl geschlagener Wälder, gnädig von einer reinweißen Schneeschicht verhüllt. Sie kam über eine Hügelkuppe, und auf einmal traf der Wind ihren Wagen mit voller Wucht. Vor sich erblickte sie ein Schild mit den Höhenangaben – sie hatte den höchsten Punkt des Passes erreicht. Nachdem sie eine Kurve umrundet hatte, erstreckte sich unter ihr das Tal. Feiner Pulverschnee trieb über die Landschaft hinweg und fegte wirbelnd über die Straße. Angie griff nach ihrer Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck. Sie fühlte sich grässlich, verkatert, aber gleichzeitig seltsam klarsichtig in Bezug darauf, wohin ihr Weg nun führte. Sie hatte sich entschieden.
Während sie die endlose Hügelkette auf der anderen Seite wieder hinabfuhr, ohne ein Lebenszeichen in ihrer Umgebung wahrzunehmen, abgesehen von den wenigen Autos, die ihr entgegenkamen, klingelte ihr Handy erneut. Via Freisprechanlage nahm sie ab.
»Pallorino«, fauchte sie.
»Hier spricht Jacob Anders. Wir haben Neuigkeiten.«
Ihr Herz begann heftig zu pochen. »Ja?«
»Es ist uns gelungen, zwei Profile nuklearer DNS aus den Spermaproben zu gewinnen – die alten Laborproben waren ausreichend gut verpackt und konserviert. Darüber hinaus konnten wir auch ein Profil aus den Blutspuren auf dem Teddybären und dem Kleid erstellen. Die DNS des Blutes stimmt mit der DNS der Probe überein, die Sie hier im Labor abgegeben haben. Sie waren in dieser Krippe, Angie.«
Sie schluckte und steuerte durch eine Haarnadelkurve. Die Reifen gerieten auf der eisglatten Fahrbahn leicht ins Rutschen. Sie nahm den Fuß vom Gas und lenkte vorsichtig gegen. »Ist
es auch möglich, dass das Blut von meiner Zwillingsschwester stammt?«
»Ja, möglich ist es. Weitere, komplexere Tests könnten das, wenn nötig, bestimmen.«
»Und die Haarproben?«
»Sie bieten kein ausreichendes Material für eine STR-Analyse, aber wir konnten mitochondriale DNS-Profile sowohl für das lange dunkelbraune Haar als auch für das kurze aschblonde Haar erstellen. Den Laborergebnissen aus dem Jahr 1986 zufolge hat man die Haare damals nur mikroskopisch untersucht, aber seit den Neunzigern ist es möglich, die mitochondriale DNS bei Haarproben, die für eine STR-Analyse unzureichend waren, zu bestimmen. Allerdings kann die mitochondriale DNS im Gegensatz zur nuklearen DNS keine Individuen zweifelsfrei identifizieren – mitochondriale DNS wird mütterlicherseits vererbt. Sämtliche Nachfahren einer Frau, ihre Geschwister, ihre Mutter und andere mütterliche Verwandten haben das gleiche mtDNS-Profil. Allerdings kann man bestimmte Individuen mithilfe dieser Methode ausschließen, wenn es keine Übereinstimmung der mitochondrialen DNS gibt.«
Angie zögerte. »Zeigt … zeigt mein Profil eine Übereinstimmung mit dem dunklen Haar?«
»Ja.«
Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Dann könnte das lange dunkle Haar also von meiner Mutter stammen?«
»Das ist nicht ausgeschlossen.«
Tränen brannten in ihren Augen und in ihrer Nase. So nah am Wasser gebaut kannte sie sich gar nicht. So kannte sie sich gar nicht. Sie räusperte sich, brachte sich wieder unter Kontrolle und sagte: »Was ist mit dem ballistischen Bericht?«
»Die beiden am Tatort gesicherten Kugeln entsprechen einem Kaliber .45 und entstammen der Furchenbildung nach
derselben Waffe. Wir haben die Ergebnisse durch unsere wachsende Datenbank laufen lassen, haben aber keinen Treffer bekommen.«
»Können Sie mir die DNS-Profile und den ballistischen Bericht an meine private E-Mail-Adresse schicken?«
»Ich drücke gerade auf SENDEN.«
»Danke, Jacob.« Sie zögerte kurz, bevor sie die nächste Frage stellte. »Diese Unterwasserstudie auf dem Bildschirm in Ihrem Büro – haben Sie irgendwelche Informationen darüber, wie weit ein abgetrennter Fuß in einem Schuh in der Salish Sea treiben könnte?«
»Dieser Fuß könnte von überall gekommen sein, Angie«, antwortete er sanft. Freundlich. »Diese Strömungen im Golf von Georgia sind sehr variabel und werden von diversen Flüssen gespeist, von Alaska bis hinunter nach Washington, mitsamt dem ganzen Wirrwarr aus Inseln und Buchten dazwischen. Theoretisch könnte er auch über den Pazifik aus Ostasien gekommen sein.« Er hielt kurz inne. »Okay, wie es aussieht, ist die E-Mail durchgegangen – sie sollte jetzt in Ihrem Eingang liegen.«
»Noch einmal Danke.« Sie legte auf, sah eine Haltebucht vor sich und bremste ab. Sie fuhr vom Highway und blieb stehen. Per Handy überprüfte sie ihr Mailpostfach, während der Wind ihren Nissan schüttelte. Sobald sie Anders’ Mail entdeckte, leitete sie diese an Stacey Warrington beim MVPD weiter. Dann wählte sie Warringtons Nummer bei der Arbeit und hinterließ ihr eine Nachricht.
»Stace, es ist Sonntag, ich weiß, dass du nicht da bist, aber ich habe dir ein paar DNS-Profile und ballistisches Material an deine Mailadresse geschickt. Könntest du vielleicht …« Da traf es sie, genauso heftig wie die Windböen, die ihren Nissan wanken ließen …
Ich wurde gefeuert. Ich bin kein Cop mehr. Ich arbeite nicht an einem Fall des MVPD. Meine Marke ist ungültig. Stacey kann das nicht für mich tun.
»Könntest du die Daten vielleicht für mich durchs System jagen? Falls es dabei … ein Problem gibt, dann lass es mich bitte wissen. Dafür … dafür stehe ich in deiner Schuld, Stace.«
Sie legte auf und stieß die angehaltene Luft aus. Neues Spiel. Neue Regeln. Dies würde ihr neues Leben sein. Womit sie es später zubringen würde, wusste sie noch nicht. Im Moment konnte sie nur immer einen Schritt nach dem anderen machen. Sie legte den Gang wieder ein, überprüfte den Rückspiegel und fuhr wieder auf den Highway. Auf einmal kam ihr die Straße an diesem eisigen Sonntagmorgen mitten im Winter sehr einsam vor. Nichts als verschneite Wiesen und Wälder. Nicht einmal eine Kuh in Sicht. Während sie den Pass hinabfuhr, wich der Schnee zurück und braunes Grasland trat an seine Stelle. Cowboy Country. Nervosität prickelte unter ihrer Haut, als sie das Städtchen im Wildweststil am Ufer eines gewundenen Flusses erblickte. Hinter der Stadt lag die Kelvin Max Security wie ein grauer Riss in der Landschaft.
Angie nahm die Ausfahrt.