KAPITEL 46
Angie füllte ein Besucherformular aus und reichte es dem Beamten der Strafvollzugsbehörde wieder zurück, der daraufhin ihren Polizeiausweis überprüfte und ihr einen offiziellen Besucherausweis überreichte, den sie sich vorn an die Bluse heftete. Ihr Handy hatte sie im Auto gelassen. Waffen waren kein Thema, da sie ja keine mehr trug. Sobald sie durch den Metalldetektor und den Drogenscanner durch war, führte eine Polizistin sie zum Besucherbereich.
»Wann wurde Semyon Zagorsky aus dem Hochsicherheitstrakt entlassen?«, fragte Angie die Polizistin, während sie eine zweite Reihe elektronischer Sicherheitsschleusen passierten. Klackend schlossen sich die Türen hinter ihnen. Ein Schlüsselbund klirrte an der Hüfte ihrer Begleiterin, während sie einen Gang hinabgingen, und über ihnen flackerten die Neonleuchten.
»Vor vier Jahren«, antwortete die Polizistin. »Er ist ein Bilderbuchhäftling. Unterrichtet Tischlerei und Textilarbeit. Sie nähen ihre eigenen Uniformen, außerdem Jeans und Unterwäsche für Unternehmen, die Arbeitsverträge mit den Gefängnissen haben.«
Sie öffnete eine weitere elektronische Tür in den allgemeinen Besucherbereich. Hier sah es aus wie in einer Cafeteria. Runde, blau lackierte Tische, die am Boden verschraubt waren. Runde Hocker, die man wiederum an den Tischen befestigt hatte – einige der Tische hatten zwei, andere vier Hocker. Eine Handvoll Häftlinge saß mit ihren Besuchern an einigen der Tische. Das Sicherheitspersonal behielt sie hinter Spiegelglas aus einem Beobachtungsraum im Blick.
»Das da drüben ist er.« Die Polizistin deutete auf einen einsamen Mann, der mit dem Rücken zur Tür saß. Er trug ein Sweatshirt und eine lockere Hose. Breiter Rücken. Dicker Nacken. Kahlköpfig.
Angie spürte das Adrenalin aufsteigen. »Danke«, sagte sie.
Die Polizistin ging davon, die elektronische Tür schloss sich hinter ihr.
Angie näherte sich dem Mann, dabei drapierte sie ihr offenes Haar so über ihrer Schulter, dass es den Besucherausweis verdeckte. Direkt hinter dem Mann blieb sie stehen.
»Semyon Zagorsky?«, fragte sie.
Er drehte sich um und hob den Blick. Strahlend blaue Augen sahen sie an. Wiedererkennen durchzuckte sie, und Zagorsky fuhr zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen.
Er ist es. Ohne jeden Zweifel. Das ist der Mann, der mir die Schuhe in dem Karton mit der großen lila Schleife geschenkt hat. Eine Stimme erklang in ihrem Kopf, während sie ihm in die Augen sah. Tief und sonor stieg sie aus ihrer verschütteten Vergangenheit auf, so als wäre das Eisengatter, das ihre Kindheitsgeheimnisse in einem unterirdischen Verlies gefangen hielt, soeben einen Spaltbreit aufgeschwungen. Für meine Mila, und ein dazu passendes Paar für Roksana.
Und da wusste sie es. Sie wusste, dass auch Semyon Zagorsky einen Geist aus der Vergangenheit vor sich sah. Genau wie Milo Belkin.
Sein Blick ruhte unverwandt auf ihr, während sie langsam um den Tisch herumging und sich ihm gegenübersetzte. Schweigend betrachtete sie sein Gesicht, während winzige Erinnerungsbruchstücke wie kleine bunte Perlen an lange stillgelegten neuralen Verbindungen entlangglitten, um Bilder zu erschaffen, Gerüche, Geräusche. Der Wald. Die Beerenbüsche voller reifer, saftiger Brombeeren. Angie schmeckte sie – eine süßsaure Explosion in ihrem Mund. Der Klang von Mädchenlachen, Vögel, die in die Baumkronen hinaufflogen. Ein Reh, das sie still beobachtete, während sie Beeren und kleine gelbe Blumen pflückten. Das Funkeln des Meeres durch die Baumstämme. Der dunkle Raum mit dem hohen, vergitterten Fenster. Eine gesichtslose Frau mit langem, welligem, dunklem Haar, die nach Gras und Äpfeln roch. Mutter. Der Klang ihres Weinens. Angie schluckte schwer, ihr Herzschlag geriet ins Stocken, nur um dann loszurasen. Sie kämpfte um eine kühle, ruhige Fassade, während sie Zagorskys Züge musterte.
Er hatte das Gesicht eines Kämpfers mit der gebrochenen Boxernase und der kräftigen Stirn über den tief liegenden Augen. Aber diese blauen Augen aus der Vergangenheit waren immer noch genauso strahlend, wie Angie sie in Erinnerung hatte, obwohl seither mehr als dreißig Jahre vergangen waren. Angie senkte den Blick auf seine Hände. Eine weitere Erinnerung traf sie. Seine Hände, die ihr die Schachtel hinhielten. Die Form seiner Finger war in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Drehst du bitte die linke Hand um?« Ihre Stimme klang heiser und kam ihr vollkommen fremd vor.
Er tat es. Da war die blaue Krabbe, auf der Innenseite seines Handgelenks. Sie hob den Blick wieder zu seinem Gesicht.
»Roksana?«, flüsterte er.
Tränen stiegen ihr in die Augen, die Gefühle trafen sie so scharf und plötzlich, dass es ihr Angst machte. Sie vermischten sich in ihr zu einem verwickelten Knäuel aus Liebe, Angst und Verwirrung. Der bittere Geschmack des Verrats.
Vorsichtig ließ er die Hand über die blaue Tischplatte ein Stück nach vorn gleiten, als wollte er sie berühren, sich davon überzeugen, dass sie aus Fleisch und Blut war, aber da huschte sein Blick zu dem Spiegelglas, hinter dem der Beobachtungsraum lag, und er zog die Hand zurück.
»Sehe ich ihr ähnlich?«, fragte Angie. Sie musste es wissen. Unbedingt. »Sehe ich meiner … Mutter ähnlich?« Sie konnte das Wort kaum aussprechen. Sie hatte Angst, es könnte alles nur ein Traum sein. Angst, dass sie so weit gekommen war, so nahe dran, nur um alles wie eine zerbrechliche Glaskugel, gemacht aus Erinnerungen, die nie wieder heil sein würden, vor sich zerspringen zu sehen.
Zagorskys Augen glitzerten verräterisch. Er nickte. »Ja«, flüsterte er. »Du siehst aus wie Anastazja.«
Angie begann zu zittern. »So hieß sie?«
Er nickte.
Sie wischte sich eine verirrte Träne aus dem Augenwinkel. »Wie war ihr Nachname?«
Er schüttelte den Kopf und sah sie immer noch so an, als könnte er es nicht glauben. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Sie hat ihn mir nie verraten, und ich habe sie nie danach gefragt.«
»Was ist mit ihr passiert? Was ist mit Mila passiert?«
Er zuckte. Wieder huschte sein Blick zum Spiegel. Er hatte Angst.
»Bitte, ich muss es wissen.«
Er legte die Fingerspitzen an seinen linken Mundwinkel, als wollte er ihre Narbe imitieren.
»Hast du das getan, Semyon? Hast du mir diese Narbe beschert?«
Einen Moment lang schloss er die Augen, so als würde die Erinnerung ihn schmerzen. Reue. Er schüttelte den Kopf.
»War es Milo Belkin?«
Er riss die Augen auf, und sie erkannte das Grauen darin.
Mist. Fehler. Rückzug. Schnell. Bevor er dichtmacht. Bevor ihm wieder einfällt, dass er in zwei Tagen eine Anhörung vor dem Bewährungsausschuss hat und dass alles, was er mir sagt, dazu führen könnte, dass er wieder vor Gericht landet.
»Lebt sie noch – meine Mutter?« Sie versuchte, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht.
Langsam, kaum merklich, schüttelte er den Kopf.
»Und Mila?«
Nun liefen die Tränen in seinen Augen über und rannen ihm die Wangen hinab. Er wischte sie nicht einmal fort.
»Was ist mit meiner Schwester passiert, Semyon? Wer hat ihr wehgetan? Warst du es? Hast du das kleine Mädchen getötet und ihren Körper in irgendeinen Fluss oder ins Meer geworfen wie Müll? Ist ihr Fuß deshalb vor ein paar Tagen bei Tsawwassen angespült worden?«
»Nein.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und seine Miene wurde dunkel. Er hatte die Zähne zusammengebissen, und seine Halsmuskeln spannten sich wie Seile. »Nein, ich habe ihr nichts getan«, presste er hervor. »Ich hätte ihr niemals etwas angetan.«
»Wer war es dann?« Sie beugte sich vor.
Er erwiderte ihren Blick, ein Sturm der Gefühle schien in ihm zu toben. Er rang mit sich selbst, damit er die Worte zurückhielt. Sie konnte es sehen, es spüren – sein Wunsch, es ihr zu sagen, war genauso stark wie der Zwang zu schweigen.
Angie beugte sich noch weiter vor. »Du weißt, was mit ihr passiert ist, Semyon.« Sie nagelte ihn mit ihrem Blick fest, die Ränder von Zeit und Wirklichkeit verschwammen um sie herum. »Wir haben dir einmal etwas bedeutet, Semy. Du hast Mila und mich gemocht.« Überrascht erkannte sie, wie selbstverständlich sie seinen Spitznamen verwendet hatte. Eine weitere Erinnerung blitzte aus dem Nichts auf. Eine Frauenstimme, die seinen Namen sagte. Semy. Dieselbe Stimme, die das Wiegenlied gesungen hatte. Dieselbe Stimme, die ihr zugeschrien hatte, sie solle in die Krippe kriechen und still bleiben.
»Sie mochte dich auch, Semy. Nicht wahr? Meine Mutter. Anastazja.«
Seine Lippen wurden schmal und begannen zu beben.
»Du bereust, was passiert ist, nicht wahr? Du bereust es zutiefst.«
Er senkte den Kopf und drehte die auf der blauen Tischplatte liegenden Hände um. Er starrte seine Handflächen an, als würden sie nicht zu ihm gehören. Als wäre er verwirrt darüber, was diese Hände getan haben mochten. Ein Riese in einem Käfig, ein Bär von einem Mann. Ein seltsamer Anflug von Mitgefühl erfasste Angie.
»Semy.« Sie berührte seine Finger. Ruckhaft sah er auf.
»Sag mir, wer das getan hat, wer ihnen wehgetan hat.«
Wieder erkannte sie den Kampf der Gefühle in ihm – eine wachsende Angst vor strafrechtlichen Maßnahmen rang mit dem Bedürfnis, ihr alles zu sagen. Es war fast greifbar und machtvoll. Verzweiflung stieg in Angie auf – sie würde ihn verlieren. Er hatte ihr alles gesagt, was er je sagen würde.
»Semy«, versuchte sie es noch einmal, ernst. Sie beugte sich noch näher zu ihm heran. »Bist du der Vater von Roksana und Mila?«
Sein Mund zuckte gequält.
»Ein DNS-Test wird mir das sowieso verraten, Semy. Dein Profil befindet sich bereits im System. Es wäre nur eine simple …«
»Ich bin nicht dein Vater, Roksana«, flüsterte er. »Aber ich war euch immer mehr ein Vater als er.«
Wumm!
»Als wer?«
Er holte tief Luft und betrachtete die Spiegelscheiben, hinter denen die diensthabenden Polizisten saßen und zusahen. Dann wandte er sich zur Tür. Er suchte nach einem Ausweg. Flucht vor ihr, vor ihren Fragen, vor der Vergangenheit. Vielleicht auch vor der Schuld. Vor sich selbst.
»Hast du sie geliebt? Hast du Anastazja geliebt?«
Er wollte aufstehen.
Sie packte ihn am Arm. »Bitte, geh nicht. Noch nicht. Du hast Mila und mir diese Schuhe geschenkt – die kleinen Turnschuhe. Lila. Du hast sie in Schachteln mit lila Schleifen verpackt. Wir hatten dich gern, Semy, daran erinnere ich mich. Aber trotzdem hast du uns mit Waffen und Messern über diese Straße in Vancouver gejagt. Du hast meine Mutter und meine Schwester verschleppt …«
»Ich war ein Wächter«, sagte er sehr leise, wobei sein Blick immer noch durch den Raum huschte. Besorgt. »Euer Beschützer. So hätte es nicht laufen sollen. Sie hat das in Gang gesetzt. Es war ihre Schuld, dass Mila und sie getötet wurden. Danach … gab es nichts mehr, was ich hätte tun können, um Mila und sie zu retten.« Er hielt inne, dann fuhr er fast flüsternd fort: »Du hattest Glück, Roksi – du bist diejenige, die ihm entkommen ist. Ana konnte in dieser Nacht nur eine von euch beiden retten. Und es war knapp. Zu knapp. Fast hätte sie euch beide verloren. Es war dumm.« Er stemmte sich hoch und sah auf sie herab. »Und jetzt geh bitte heim und hör auf zu suchen. Wenn er herausfindet, dass du hier warst und dass du nach ihm suchst, dann wird er dich töten.« Er wandte sich ab.
»Nein, warte!« Sie sprang auf und griff wieder nach seinem Arm. Ein Polizist trat aus dem Überwachungsraum. Rasch zog Angie die Hand zurück. Der Polizist blieb stehen. »Wer wird mich töten?«
Er sah ihr ins Gesicht – er war sehr groß, ein Koloss von einem Mann. Genetisch und kulturell gesehen mochte er ein Russe sein, aber er hatte keinen Akzent. Ihre Gedanken rasten. Sie musste einen Hintergrundcheck zu Semy durchführen und alles herausfinden, was sie über diesen Mann nur herausfinden konnte – frühere Wohnorte, Bekanntschaften, Freunde, Familie. Sie musste diese Menschen ausfindig machen und mit ihnen sprechen.
»Du musst aufhören«, wiederholte er. »Versprich mir, dass du aufhörst zu suchen.«
»Das werde ich nicht. Ich kann nicht. Ich werde ihn finden, Semy – wer auch immer er ist –, mit dir oder ohne dich. Weil ich allmählich beginne, mich an Dinge zu erinnern, die mir den Weg weisen. Ich erinnere mich an dich . Ich erinnere mich daran, dass du uns diese Schuhe gegeben hast. Ich erinnere mich an den Ausdruck in deinen Augen, als du mir die Schachtel überreicht hast – gütig, sanft. Das hat mich glücklich gemacht. Und jetzt wurde einer dieser kleinen lila Schuhe, die du uns geschenkt hast, mit den Überresten von Milas Fuß an der Küste angespült. Die RCMP hat Ermittlungen eingeleitet, und sie haben die Verbindung zu dem Krippenfall und zu mir bereits hergestellt. Sie wissen, dass meine DNS zu der von Mila passt und dass wir Zwillinge waren. Was bedeutet, dass man die Akte des Krippenfalls wieder geöffnet hat und dass man die alten Beweismittel mit modernster Technologie erneut prüft und analysiert. Die Fingerabdrücke am Tatort haben mich schon zu Milo Belkin geführt, und die RCMP ist mir dicht auf den Fersen. Also glaub nicht, dass mich deine Leute da draußen zum Schweigen bringen können, indem sie mein Zuhause in Brand stecken, so wie sie es mit deinem Opfer Stirling Harrison getan haben …«
Er wurde schneeweiß. Angie brach mitten im Satz ab, als sie begriff.
Er weiß es nicht. Mist! Ich hätte den Mund halten sollen. Die Verbindung zwischen dem Harrison-Feuer und der Mafia ist eine geschützte Information. Ich habe sie von Maddocks bekommen.
Sofort versuchte sie, die Richtung zu wechseln. »Und wenn du meine Mutter und meine Schwester nicht getötet hast, dann sagst du mir besser, wer es war, oder du wirst dafür geradestehen. Zweifacher Mord. Zweimal lebenslänglich. Die Anhörung vor dem Bewährungsausschuss kannst du genauso gut gleich abschreiben, denn du wirst hier drinnen sterben, Semy.«
Er beugte sich vor, ganz nahe zu ihrem Ohr. »Sei vorsichtig, Roksi«, flüsterte er. »Sei sehr vorsichtig.« Dann drehte er sich um und ging zur Tür. »Wache! Lassen Sie mich raus!«
»Wer ist er?« , rief Angie ihm nach. »Wer will mich töten?« Der Polizist, der zuvor schon aus dem Überwachungsraum getreten war, kam dem Wunsch des Häftlings nach und führte ihn aus dem Besucherbereich. »Wer war mein Vater, verdammt!«
Er war fort.
Die Tür schloss sich hinter ihm.
Eine Polizistin trat zu ihr. Angie zitterte.
Der Mann, der meine Mutter und Mila getötet hat, ist noch am Leben. Er ist irgendwo da draußen.
Und er will nicht, dass ich nach ihm suche.